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September 2007
Neue Gesellschaft/Frankfurter HefteKommune.Forum für Politik, Ökonomie und Kultur - MonatszeitschriftMerkur
 
Zeitschriftenlese  –  September 2007
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk
Wie sich die Jahrestage zu „68“ häufen und einander – ebenso wie die entsprechenden Publikationen – immer rascher zu folgen scheinen. „30 Jahre Deutscher Herbst“ heißt es gerade, und Benno Ohnesorgs Tod liegt sogar schon 40 Jahre zurück. Vergleicht man jedoch die aktuellen Äußerungen damaliger Hauptakteure zu „68 und die Folgen“, stellt man erstaunt fest, daß sich deren Ansichten, trotz ernüchternder Niederlagen, gar nicht so sehr verändert haben. Noch immer gilt der Sozialismus als seriöses Ziel, und selbst die chinesische Kulturrevolution mit ihren Millionen von Opfern wird nicht so einfach preisgegeben. Von radikaler Selbstkritik ist wenig zu hören.
In der jüngsten Ausgabe der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte kommen gleich drei Veteranen zusammen und debattieren gelegentlich aneinander vorbei über die RAF und deren Beziehung zur APO, über Rudi Dutschkes ambivalentes Verhältnis zur Gewalt, über neue Gruppen wie ATTAC und zuletzt, nicht ohne Sympathie, über die nun als „Die Linke“ sich darbietende PDS. Für Christian Semler, einst Führer der maoistischen Sekte KPD-AO, heute Redakteur der tageszeitung, befindet sich die Springer-Presse, „unterirdisch“ verbunden mit dem Innenministerium, noch immer auf dem antilinken Kriegspfad, und Marx, zumindest der des Kommunistischen Manifests, sei angesichts der Globalisierung keineswegs tot. Während Semler sich recht allgemein für neu zu schaffende „Denkfabriken“ ausspricht, die an einer „Alternative zum Kapitalismus“ arbeiten, prognostiziert Tilman Fichter, bis zu seiner Pensionierung Parteischulreferent der SPD, die „Systemfrage“ werde sich „durch die Ökonomie selbst“ erneut stellen, besonders in den horrend verschuldeten USA, wodurch auch Marx wieder „interessant“ werde.
Allein der Protestforscher Wolfgang Kraushaar geht davon aus, daß der Marxismus spätestens 1990 „historisch untergegangen“ ist und sich nicht einmal in Bruchstücken wiederbeleben läßt. Für die seltsam anmutende Reaktualisierung des Themas RAF in den Medien hat Kraushaar nur die Erklärung parat, dieses Kapitel sei immerhin „die größte Infragestellung in der Geschichte der Bundesrepublik“ gewesen. Komplex sei auch das Verhältnis zwischen „68“ und der RAF. Klar sei nur, daß es ohne die Bewegung von 1968 auch keine RAF gegeben hätte.
„68“ – das war ein plötzlicher Einbruch in den gesellschaftlichen Status quo und zugleich ein persönlicher Aufbruch für jeden einzelnen selbst; ein Kampf gegen die Blockwartsmentalität der Mehrheit und für die schöne Freiheit der Phantasie. Vor allem war „68“ ein Aufstand der Jugend, die sich ihrer sozialen Indienstnahme entziehen wollte. Diese utopische Erfahrung blieb bei vielen lebenslang prägend, während die orthodoxen Analysen des „Spätkapitalismus“ größtenteils falsch waren und die Verharmlosung des Stalinismus wie die einseitige Parteinahme für die Palästinenser nicht zu entschuldigen sind.
Im Mittelpunkt der jüngsten Ausgabe der Zweimonatsschrift Kommune steht ein Aufsatz von Joscha Schmierer wider die „Verdeutschung“ (was für ein Wort!) von 68. Schmierer, vor 25 Jahren Mitgründer der Zeitschrift und ihr langjähriger Chefredakteur, anschließend als Berater im Außenministerium tätig, meldet sich nach seiner Pensionierung als „Mann mit Durchblick“ wieder zu Wort – eine Rolle, die er in der Studentenbewegung und dann als Leitwolf des maoistischen KBW schon immer am liebsten gespielt hat. Es geht ihm wohl auch darum, die Deutungshoheit über das „rote Jahrzehnt“ zurückzugewinnen, die ihm Gerd Koenen und Wolfgang Kraushaar mit ihren erfolgreichen Büchern streitig machen.
Schmierers Bemühen zielt darauf, die wahre Bedeutung von 68 (und ein wenig auch die eigene revolutionäre Biographie) zu retten, also 68 zu verteidigen gegen all diejenigen, die dieses „unerhörte Ereignis“ verkleinernd als „Generationskonflikt“ darstellen und seine „globalen Umrisse“, den internationalen Kontext mißachten. Wir wurden damals, meint er, nicht durch Nazi-Väter und Prügel-Pädagogen zur Revolte getrieben, wir hatten höhere, überpersönliche, politisch reifere Aufgaben und Ziele, waren eingebettet in so gewaltige Bewegungen wie die chinesische Kulturrevolution und die antikolonialen Befreiungsarmeen rund um die Erde, die „doch alle in die gleiche Richtung, letztlich in Richtung Sozialismus drängten.“
Im Juniheft des Merkur schildert Martin Kloke, wie die Neue Linke vor 40 Jahren „antiisraelisch“ wurde. Anfang 1967 war Israel mit einer gefährlichen Umklammerungsstrategie der arabischen Anrainerstaaten konfrontiert, die vorhatten, „die Juden ins Meer zu treiben“. Israel kam den Drohgebärden mit einem Präventivschlag zuvor. Teile der bundesdeutschen Gesellschaft erfaßte bei Kriegsausbruch eine Welle der Sympathie für den jüdischen Staat. Auch die APO bezeugte zunächst ihre Solidarität. Doch schon bald nach dem israelischen Blitzsieg im Sechstagekrieg wechselt die radikale Linke die Front und nahm den jüdischen Staat fortan nur noch als „Brückenkopf des US-Imperialismus“ wahr.
Kloke belegt die „antizionistische Wende“ im Detail; dokumentiert wird vor allem der Positionswechsel des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds. Der sprach dem jüdischen Staat bald „jede historisch-politische Legitimität“ ab und verbündete sich mit militanten Palästinensergruppen. Delegationen des SDS (im Dezember 1969 war auch Joschka Fischer dabei) besuchten PLO-Konferenzen, bei denen der „Endsieg“ über Israel beschworen wurde. „Nieder mit dem chauvinistischen und rassistischen Staatsgebilde Israel!“ schließt ein Aufruf des Frankfurter SDS im Februar 1970. Noch in den 80er Jahren war es in Publikationen wie der Berliner tageszeitung nicht unüblich, die von der israelischen Armee angegriffenen Palästinenser als die „neuen Juden“ zu bezeichnen und die Israelis mit den Nazis zu vergleichen. Kloke spricht von einer „Schuld aufrechnenden und abwehrenden ‚Umwegkommunikation', bei der die traditionelle Judenfeindschaft von antiisraelischen Ressentiments abgelöst worden ist.“ Dieser „neue Antisemitismus“ ist, so Bernard-Henri Lévy in der jüngsten Neuen Gesellschaft, im heutigen Europa vielfältig wirksam.
„Dekadenz“ wird seit eh und je beklagt, schon von altägyptischen Priestern, griechischen und römischen Denkern. Das Wort „dekadent“ ist in seiner Bedeutung gar nicht weit vom verbotenen Wort „entartet“ entfernt. In den letzten Jahren taucht der Dekadenzvorwurf wieder massiv auf. Er richtet sich gegen die liberalen westlichen Demokratien und wird nicht nur von islamischen Fundamentalisten, sondern auch von einheimischen Kulturkritikern erhoben. Die Zeitschrift Merkur fragt in ihrem aktuellen Doppelheft, was es damit auf sich hat.
Ausgehend von Tagesereignissen in England und Deutschland äußert Karl Heinz Bohrer den Verdacht, daß unsere Gesellschaften zu dekadent geworden sind, um sich selbst zu verteidigen. Traditionelle Werte wie Mut und Takt seien „von einer Welle vulgärer Verhaltensweisen weggeschwemmt worden.“ Es herrsche eine durch die Medien angeheizte Tyrannei des Obszönen und Privaten.
Auf Deutschland gemünzt, spricht Bohrer von „schlaffer Bescheidenheit“, besonders im Geistigen, und „Selbstverleugnung“. Es bestehe fast ein Einvernehmen darüber, „an bestimmten, notwendig aggressiven Formen der Politik überhaupt nicht mehr teilzunehmen, wenn möglich sogar aus der Politik ganz auszutreten.“ So reduziere sich Politik auf Sozialhilfe.
Der „Verlust an Willen“ äußere sich auch im Alltag als „Sich-gehen-Lassen“, öffentliche Formlosigkeit, und breite sich in allen Schichten und an allen Orten aus. Ein Beispiel wäre die Umfunktionierung der Bahnhöfe zu häßlichen Einkaufs- und Freßorten.
Dem „Verrat der Intellektuellen“ und ihrem Haß auf die eigene Gesellschaft widmet sich (ebenfalls im Merkur) Siegfried Kohlhammer. Kein anderes Sozialsystem habe die Intellektuellen so gefördert und geschützt wie die westliche Moderne. Und doch vertrat ein erheblicher Teil von ihnen eine Art Fundamentalopposition selbst gegenüber Momenten des Westens, die „Voraussetzungen ihrer gesichterten Existenz“ waren, etwa dem Eigentum, dem Recht und sogar der zeitweise als „repressiv“ geschmähten Toleranz gegenüber.
Nach dem Entstehen totalitärer Regime im 20. Jahrhundert verband sich diese Totalopposition gegen die eigene Gesellschaft mit einer Parteinahme für deren erklärte Feinde – für Gesellschaften also, in denen, so Kohlhammer, den Intellektuellen entscheidende Existenzbedingungen verwehrt waren. Viele verhielten sich unterwürfig gegenüber stalinistischen Parteien und tyrannischen Regierungen und traten Pilgerreisen in die Neuen Jerusalems an: in die Sowjetunion, nach China, Kuba, Kambodscha. Was ihnen der Kommunismus brachte, war vermutlich ein die ganze Gesellschaft durchdringender „Sinn“, der so etwas wie „Gemeinschaft“ schuf und die zahllosen Toten auf dem Weg nach Utopia zu legitimieren schien. Selbst der Zusammenbruch des Ostblocks war für viele kein Grund, den Glauben an den Sozialismus aufzugeben – auch ein Dekadenzphänomen?
Daß die Vergabe des Heinrich Mann-Preises der Berliner Akademie der Künste an den Essayisten Karl Heinz Bohrer für manche eine Provokation darstellen könnte, war dem Laudator Gustav Seibt durchaus bewußt. In seiner brillanten Rede (nachzulesen im jüngsten Heft von Sinn und Form) weist er gleich zu Anfang auf „eine gewisse Spannung“ hin, die zwischen dem Namensgeber und dem Geehrten herrsche. Während für den engagierten Intellektuellen Heinrich Mann die Literatur zum gesellschaftlich Guten und Friedvollen beitrage, präferiere Bohrer die Außenseiter und Selbstmörder, Dandys und Abenteurer: Kleist und Kafka, Baudelaire und Breton, Ernst Jünger und Rolf Dieter Brinkmann. Der vom „Bösen“ und der „Gewalt“ nicht nur in der Poesie faszinierte Bohrer ist alles andere als ein Pazifist. Dennoch meint Seibt am Ende – das muß wohl bei solchen Anlässen so sein – ein Heinrich Mann wie Bohrer „gemeinsames literarisches Terrain“ in ihrer Neigung zur politischen Karikatur (man denke an Professor Unrat) ausgemacht zu haben.

Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte: Heft 9, September 2007   externer Link
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Michael Buselmeier    03.09.2007       

Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese September 2007

Michael Buselmeier
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