poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 
Juli 2012
Zeitschriftenlese  –  
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Kurioserweise gibt es in Österreich nur sehr wenige literarische Verlage, jedoch eine ganze Reihe gewichtiger Zeit­schriften, neben den mehr der Avant­garde ver­pflich­teten Grazer manu­skripten etwa das Wiener wespennest oder Lite­ratur und Kritik aus Salz­burg. Die vorzüg­lichen protokolle, das streit­bare Neue Forum und die Gegen­wart aus Inns­bruck sind in den 90er Jahren einge­schlafen. Vorge­stellt und diskutiert wird in all diesen Organen die öster­reichi­sche Gegen­warts­literatur, dar­unter eine erstaun­lich hohe Zahl bedeu­tender Autoren wie Bernhard, Handke oder Mayröcker, deren Bücher sodann die Pro­gramme deutscher Verlage bereichern.
  Das 1969 gegründete wespennest war – als eine Art Gegenpol zu den allseits offenen manuskripten – zumindest anfangs streng fokussiert auf eine „realistische“, links-enga­gierte, sich „operativ“ verstehende Lite­ratur. 1996 schied der Schrif­tsteller Gustav Ernst als Mit­heraus­geber aus und brachte ein Jahr später eine eigene Lite­ratur­zeitschrift mit dem etwas schril­len Titel kolik heraus, mit der Absicht, so die explizit aufklä­rerische Linie des wespennests fort­zusetzen, also nicht das „Markt­taug­liche“ zu fördern, sondern den radikal-poli­tischen Diskurs, wobei sich Ernst in einleitenden Essays lautstark, doch ziemlich erfolglos an der öster­reichi­schen Sozial­demo­kratie abar­beitete.
  Nachdem ich kolik vor etwa zehn Jahren aus den Augen verloren hatte, war ich nun erfreut zu bemer­ken, dass die Zeit­schrift noch immer exis­tiert und viermal pro Jahr im alten hand­lichen Format erscheint, voll­gestopft mit neuer Literatur aus Öster­reich auch von weniger bekannten Autoren, also mit Prosa, Gedichten, Essays, Gesprächen und Buch­besprechungen, sogar ganze Theater­stücke werden abge­druckt. Bemerkens­wert ist, dass der Sozia­lismus kaum noch propagiert wird und die Neigung zur Provo­kation stark nach­gelassen hat.
  Einen überraschenden Fund konnte ich in kolik Nr. 50 machen. Es ist ein sehr persön­licher Brief des manuskripte-Heraus­gebers und Dichters Alfred Kolleritsch an seinen berühm­ten Freund Peter Handke aus dem Jahr 1979. Von dem Brief heißt es, er sei bisher „verschollen“ gewesen und daher in den ver­öffent­lichten Briefwechsel-Bänden Handkes nicht enthalten. Man weiß ja von Handke, dass er die Eigen­schaft hat, Menschen, die ihm gegen­über­treten, befangen zu machen. Bei den all­jährlich statt­findenden Petrarca-Preis-Treffen herrscht allgemeine Unruhe, bevor der große Mann endlich ver­spätet eintrifft. Man glaubt sich vor Handke, seiner Ich-Stärke, seinen Ansprüchen und Leistungen, seiner Genauig­keit recht­fertigen zu müssen. Der 2005 im Schreibheft publizierte Brief­wechsel mit Nicolas Born zeigt, dass selbst dieser eigen­willige Autor sich vor Handke klein wähnte und bereit war, von ihm fast jede Krän­kung hin­zunehmen.
  Im Fall Kolleritschs offenbart sich eine ebenso große Un­sicher­heit. Dabei ist er elf Jahre älter als Handke und in Graz so etwas wie sein Mentor gewesen. Aber auch er arti­kuliert Scheu, Verwirrung, „Angst vor Dir“ bei fast jeder Begegnung, ja „schreck­hafte Momente“. „Einge­dunstet in den Betrieb“ – so lautete offenbar Handkes Vorwurf –, fühlt er sich dem „Freisein“ des Freun­des nicht gewachsen und beklagt sich über zugefügte Ver­letzungen. Man kann sich fragen, weshalb derart private Briefe zur Ver­öffent­lichung frei­gegeben werden.
  Die jüngste Ausgabe von kolik (Nr. 55) hat „Literatur aus der Schweiz“ zum Schwer­punkt. Erinnert wird an Werner Kofler, von Beginn an ein enger Mitarbeiter der Zeit­schrift, ein wort­gewaltiger Prosaist und scharf­züngiger Satiriker. Der gebü­rtige Kärntner starb Ende 2011 mit 64 Jahren an Krebs. Die künstle­rische Strecke, die Kofler zurück­gelegt hat, beginnt – so Klaus Amann – 1975 mit dem gran­diosen Guggile, einer „Material­sammlung aus der Provinz“, und endet nach 20 Büchern 2010 mit einem letzten schmalen Prosaband, Zu spät betitet. Schon lange vor seinem Tod habe dieser „größte lebende öster­reichi­sche Schrift­steller“ – so sein Freund Antonio Fian über­treibend – für die Literatur­kritik nicht mehr existiert. In dieselbe Kerbe schlägt Elfriede Jelinek, wenn sie behauptet, an Kofler sei „das Verbrechen der Nicht­beach­tung durch den Lite­ratur­betrieb“ verübt worden.
  Zusätzlich ist im Januar 2012 ein kolik spezial-Heft erschienen, das die Beiträge eines Symposions des „Instituts für Sprachkunst“ in Wien zum Thema „Die Praxis des Schreibens“ zusammen­fasst. Entstanden ist ein geistig anregendes und auch lehr­reiches Kompendium, aus dem man manches über die Bedingungen litera­rischen Arbei­tens an deutsch­sprachigen uni­versi­tären Ein­rich­tungen erfährt, die ja vor­geben, ange­henden Autoren im Bachelor- und Master-Studien­gang das Ver­fassen von Gedichten, Erzäh­lungen, Theater­stücken und Essays bei­zu­bringen – Fähig­keiten, die sich unser­eins in einem lang­wierigen und oft schmerz­haften Prozess selbst beige­bracht hat. So liegt es nahe, den meist sehr jungen Menschen erst einmal den Genie­begriff auszu­treiben. Da das Schreiben als lehr- und lern­barer Vor­gang gilt, stehen pragmatische Orien­tierungen im Vorder­grund.
  Interessanter als die leicht abgehobenen Referate bekannter Schreib­lehrer wie Robert Schindel (Wien) und Dagmar Leupold (Tübingen) erweisen sich einige der sieben Podiums­diskus­sionen, bestückt mit Dozen­ten der diversen Schreib­schulen. Bespro­chen werden die über­lieferten Gat­tungen, aber auch über­greifende Themen wie „kreative Prozesse“ oder „Literatur und Erfah­rung“. Wie nicht anders zu er­war­ten, loben sich alle wechsel­seitig für ihre Anstren­gungen beim Vermitteln des Schreib­handwerks, doch werden die unter­schied­lichen Konzepte trotz­dem sichtbar. Der Wiener Romancier Josef Haslinger, der am Deutschen Lite­ratur­institut in Leipzig Prosa lehrt, will den Studenten einen forma­li­sier­ten Studien­plan an­bieten, der tenden­ziell alle Gat­tungen und Rich­tungen ab­deckt, und zwar in Werkstatt- oder Seminar­form, wobei jeder jeden kritisiert, während in Biel und in Hildesheim der angehende Autor mit seinem Manu­skript einem einzelnen Mentor unter vier Augen gegen­übersitzt, der ihn bei der Arbeit berät. Am Ende eines „Moduls“ steht freilich eine Beno­tung der litera­rischen Leistung durch den Dozenten im Haupt- und Nebenfach, die auch den letzten Idealis­ten auf den Boden der Tat­sachen zurück­holen dürfte, von den Härten des wirk­lichen Lite­ratur­betriebs noch gar nicht zu reden.

Von einer Zeitschrift namens Matrix hatte ich bis vor kurzem nie etwas gehört. Dabei er­scheint die Vier­tel­jahrs­schrift bereits in der 27. Ausgabe in dem kleinen Ludwigs­burger Pop-Verlag, der sich vor allem um Autoren aus Osteuropa bemüht; doch sind auch Ausgaben über Friede­rike Mayröcker und Hans Bender ange­kündet bzw. er­schienen. Das jüngste Heft er­öffnet eine etwas knapp gehal­tene Homage an die große polni­sche Lyrike­rin Wislawa Szymborska, die im Februar dieses Jahres 88jährig starb. Wenigs­tens ein paar ihrer Gedichte, für die sie 1996 den Nobel­preis erhielt, hätte man abdrucken sollen.
  Der im Mittel­punkt des aktuellen Hefts stehende russische Schrift­stel­ler Wjat­sches­law Kupri­janow wird hingegen mit Gedichten vor­gestellt, die denen von Szymborska das Wasser nicht reichen können. Der 1939 in Novo­sibirsk gebo­rene Kuprijanow hat das Ver­dienst, Rilke, Brecht und Novalis ins Russische über­setzt zu haben. Im Gespräch bezeich­net er sich als „kritischer Idealist“ und als „Schöpfer des russi­schen freien Verses“, scheint jedoch in seinem Heimat­land auch nach dem Ende der Sowjet­union kaum verlegt zu werden und weiter für die Schub­lade (oder eben den Pop-Verlag) zu schreiben. Es gelte die Order, „den Dichter Kuprijanow nicht groß heraus­zu­bringen“, soll ein KGB-General einmal gemunkelt haben…
  Erfreut war ich, in Matrix dem 1947 in Gummersbach geborenen Schriftsteller Fred Vie­bahn wieder zu begeg­nen. Anfang der 70er Jahre ist er als den Jung­sozia­listen naher Protes­tautor und Ver­treter der Beat-Gene­ration mit Ro­manen wie Die schwar­zen Tauben und Das Haus Che oder Jahre des Aufruhrs bekannt geworden. Bald schon zog es ihn in die USA, wo er die schwar­zamer­kanische Autorin Rita Dove hei­ratete, und die deutsche Lite­ratur verlor ihn aus den Augen. Nun berich­tet er, an der Schwel­le des Greisen­alters ange­kommen, in noch immer lockerem Ton über drei Freunde oder Lehrer, Neunzig­jährige, darunter sein Schwieger­vater, die das Leben trotz aller Schwierig­keiten gemeis­tert haben und uns Mut machen sollen.
  Seltsamerweise unterhält der aus Rumänien stammende Traian Pop neben Matrix noch eine weitere Literatur­zeit­schrift mit dem Namen Bawülon (vielleicht eine Mixtur aus Baden-Würt­tem­berg und Babylon?), getragen von etwa demselben Autoren­kreis, als verlangte nicht schon eine Zeit­schrift Anstren­gung genug. Ein Großteil der dritten Ausgabe (der Zählung nach ist es die vierte) ist dem rumänien­deutschen Schrift­stel­ler Johann Lippet zum 60. Geburtstag gewidmet. Er kommt aus einem Dorf im Banat, dessen 178 Häuser und deren Bewohner er in einer umfang­reichen Dorf­chronik, die 2010 bei Pop erschien, sowie in mehreren Romanen, Erzäh­lungen und Gedicht­zyklen ebenso akri­bisch wie besessen rekon­struiert hat.
  Lippet war 1972 zusammen mit Richard Wagner, Ernest Wichner und William Totok unter denen, die die legen­däre „Aktions­gruppe Banat“ gegründet haben, frühe Wegbegleiter Herta Müllers, bevor sie alle, vom Geheimdienst verfolgt, im Lauf der 80er Jahre aus Rumänien ausreisten. In Bawülon berichtet Lippet einmal mehr über die Erfolgs­geschich­te der Lite­ratur­szene aus Temeswar, die „Aktionsgruppe Banat“ (1972-1975), und den „Literaturkreis Adam Müller-Gutten­brunn“ (1977-1984), die zu guter Letzt in Herta Müllers Nobelpreis mündeten.
  Das Literaturblatt für Baden-Württemberg, herausgegeben von Irene Ferchl, erscheint alle zwei Monate in perfekter Auf­ma­chung und ist für Lite­ratur­freunde aus dem Land eine unent­behr­liche Orien­tie­rungs­hilfe. Das Titel­thema des Juli/Au­gust-Hefts lautet Hermann Hesse; zum 50. Todes­tag wird er vor allem als Philosoph gewürdigt. Ein schönes Porträt ist dem eng mit Freiburg verbun­denen Ur­poeten und Zeichner Christoph Meckel gewidmet, dessen druck­grafisches Werk Die Welt­komödie dort kürzlich in zwei dicken Folianten ediert wurde. Der Heidelberger Karika­turistin Marie Marcks wird zum 90. Geburts­tag gratuliert. Hinzu kommen, wie immer, aktuelle Buch­kritiken, Kulturtipps und Termine.


kolik: Nr. 55, März 2012 / kolik spezial, Januar 2012   externer Link
März 2012 (Taborstraße 33/21, A-1020 Wien), 12,- € bzw. 16,- € (kolik spezial)

Matrix:Heft 1, 2012   externer Link
(Pop-Verlag, Postfach 0190, 71601 Ludwigsburg), 10,- €

Bawülon: Nr. 4, 2011   externer Link  
(Postfach 0190, 71601 Ludwigsburg), 7,- €

Literaturblatt für Baden-Württemberg: Juli/August 2012   externer Link  
(Burgherrenstraße 95, 70469 Stuttgart), 5,- €

Michael Buselmeier   11.07.2012        

 

 
Michael Buselmeier
Lyrik
Prosa
Reden und Texte
Gedichtkommentar