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Tom Schulz

Kanon vor dem Verschwinden

Zeilensprunghaft

Kritik
  Tom Schulz
Kanon vor dem Verschwinden
Gedichte
Berlin Verlag 2009
99 Seiten, 16,90 Euro


Der Titel des neuen Buches von Tom Schulz kam mir irgendwie bekannt vor. Lag es daran, dass Kollegin Andrea Heuser im letzten Jahr einen Lyrikband mit der Aufschrift „vor dem verschwinden“ vorgelegt hatte oder weckte er Erinnerungen an Hans Magnus Enzensbergers Gedicht­sammlung „Die Furie des Verschwindens“, die 1980 in sattem Orange in der legen­dären edition suhrkamp erschienen war? Wohl letzteres. Denn schon Enzensberger beklagte ein­dringlich das Verschwinden der Dinge – wie zuletzt auch Jenny Erpenbeck ganz konkret in ihrer Kolumnen­sammlung „Dinge, die verschwinden“. Den Anspruch, einen Kanon darzustellen, löst Tom Schulz jedoch nicht ein. Aber vermutlich will er auch gar nicht an einem solchen Anspruch gemessen werden, denn das Titelgedicht ist nur bedingt exemplarisch für die Lyrik des 1970 in der Oberlausitz geborenen Autors: „die Trauerränder, die nachtblau / zerstochenen Venen, die Geburts­tags­karten / ins Jenseits, während du durchgefeuert wirst / im Universalsarg, einfachste Ausführung“.

Die Vergänglichkeit alles Irdischen ist immer schon ein zentrales Thema der Lyrik gewesen. Das „memento mori“ des Tom Schulz kommt gleichwohl flott, unaufgeregt, manchmal sprunghaft, immer aber in nicht abgegriffenen Formulierungen und Versen daher. Typisch an der zitierten Stelle ist die häufige Verwendung des Zeilensprungs (Enjambement) als Stilmittel, das der Autor quasi auf die Spitze treibt, indem er nicht nur Sätze oder Halb­sätze, sondern sogar Wörter in Silben bricht: „verbreche­risch schön, o wir fox / trotteten nicht, wir wurden in die Ein / Friedung gestickt als Tränen­emblem“. Das wirkt einerseits originell und auch etwas witzig, gelegentlich aufgrund der häufigen Verwendung aber auch ermüdend. Formal arbeitet Tom Schulz ohne Satzzeichen, lediglich Kommata trennen Sinn­einheiten, gelegentlich mit Kursiv­druck, um Zitate – auch fremd­sprachige Ein­spreng­sel – hervorzuheben, und immer mit einer Einteilung in Strophen, zumeist sind es drei- oder vierzeilige. Wortspiele wie „Tupper­mütter“ oder Komposita als Neolo­gismen, beispiels­weise „Liegen­schafts­rand“ und „Segens­wasser­libelle“, verstärken im Kontext die poetische Darstellung, wenngleich sie an einigen wenigen Stellen schon fast etwas manieriert wirken.

Ein Großteil des in vier Abschnitte unter­gliederten Bandes sind Reise­gedichte („Abschied von Gomera“). Am stärksten sind die Gedichte von Tom Schulz, wenn sie sich konzentriert einem Thema widmen und auf Schnörkel sowie kalauernde Sprachspiele – wie zum Beispiel „Kollekte, Dekolleté“ – verzichten. Der Text „Zimmer mit Aussicht“ spielt im Titel auf die gleich­namige romantische Film­komödie an, fokus­siert jedoch im Folgendem in sehr eindringlicher Weise und in einem eigen­ständigem lyrischen Ton den Alltag in einem Alten­heim und hinterlässt beim Leser eine nachhaltige Wirkung: „bei den Tabletten­schachtel­halmen / die Großmutter an ihrer letzten / Statt: das Einschlafzimmer, die Ölung / der Zweige, die nieder­schlagsreichen // Nächte im November“.
Henning Heske    06.10.2009   

 

 
Henning Heske
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