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Poesie der Begegnung
Joachim Sartorius zum 65. Geburtstag
Joachim Sartorius |
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Dass Dichter Reisende sind, ist gewiss nichts Ungewöhnliches. Der Dichter Joachim Sartorius indes ließe sich als ein Reisender der Poesie im mehrfachen (und zugleich: im besten) Sinne des Wortes beschreiben. Deuten schon die Stationen seines Lebensweges darauf hin, so gilt dies nicht minder für sein literarisches Tun, das sich immer wieder auf den Weg macht, weite Distanzen zu überwinden, in geographischer, in historischer und auch in sprachlicher Hinsicht, vom höchst Konkreten zum gelungenen poetischen Zeugnis. Aufgewachsen in Tunis, war Sartorius beruflich lange Zeit mit diplomatischen Aufgaben in New York, Istanbul und Nicosia betraut, bevor er – seit den 80er Jahren – kulturpolitische Aufträge in der Bundesrepublik wahrnahm. Die Liste der Stationen seiner administrativen Tätigkeiten seit dieser Zeit – DAAD, Auswärtiges Amt, Berliner Senat, Generalsekretariat der Goethe-Institute, Intendanz der Berliner Festspiele – ist eindrucksvoll, und das unermüdliche Engagement sowie die Gewissenhaftigkeit, mit der er diesen Tätigkeiten stets nachgegangen ist, könnten Anlass zu der Vermutung geben, dass unter solchen Bedingungen für eine literarische Existenz kaum Gelegenheit und Möglichkeit bestünde. Dass dies bei Joachim Sartorius gänzlich anders ist, verdankt sich dem Umstand, dass seine Tätigkeit im kulturadministrativen Bereich nicht minder durch das Prinzip des Vermittelnden und des Verbindenden gekennzeichnet ist wie seine Dichtung. Die Kulturpolitik darf sich glücklich schätzen, einen Dichter in ihren Reihen zu haben, der sich auf das versteht, was Dichtung letztlich ausmacht: präzise Intuition und analogisches Denken. Auf diese Weise führte Sartorius zuletzt die Berliner Festspiele zu einem außerordentlich vielgestaltigen Kulturverbund zusammen, der im deutschsprachigen Raum einzigartig sein dürfte. Und exakt dieses Verbindende und Zusammenführende, dieses Streben nach Begegnung kennzeichnet auch die literarische Arbeit von Joachim Sartorius, der gleichermaßen Lyriker ist wie Essayist, Prosa-Autor, Herausgeber, Übersetzer, Literatur- und Kulturvermittler – ein Anwalt der Poesie und aller weiteren Künste. Solche Vielfalt dichterischer und kultureller Tätigkeiten mag auch auf manche andere Autoren zutreffen, aber mehr als bei anderen durchdringen sich diese Tätigkeiten bei Joachim Sartorius wechselseitig, sind sie ausgeprägt in einem weltumspannenden Sinne.
Literarisch zu wirken begann Joachim Sartorius in jener intensivsten Form poetischer Begegnung, die überhaupt möglich ist: als Übersetzer. Seine seit den späten siebziger Jahren – zum Teil in Zusammenarbeit mit Karin Graf – entstandenen Übertragungen der Werke von John Ashbery, Wallace Stevens und William Carlos Williams wurden gewiss aus guten Gründen mit Preisen gewürdigt, haben sie doch maßgeblich dazu beigetragen, mit den Diktionen moderner englischsprachiger Dichtung in unserem Sprachraum vertraut zu machen. Die Einflüsse, die davon ausgegangenen sein dürften auf die deutschsprachige Gegenwartsdichtung, sind kaum zu ermessen.
Ein Auftakt als Übersetzer: Dies lässt bereits anklingen, wie sehr sich Joachim Sartorius selbst in den Dienst der Literatur stellt und zeugt zugleich von einer seltenen Bescheidenheit in Bezug auf das eigene dichterische Tun. Mit einem eigenen Lyrikband trat Joachim Sartorius – nach Publikationen in Anthologien und Zeitschriften – erst 1988 an die Öffentlichkeit. Schon der Titel dieses ersten Buches – „Sage ich zu wem“ – lässt jenes Celan'sche Diktum anklingen, gemäß dem jedes Gedicht nach dem Anderen, nach dem Gegenüber sucht, und so entfaltet sich hier auch inhaltlich bereits ein thematisches Instrumentarium, das für Sartorius' Dichtung konstitutiv werden sollte, nämlich die Begegnung mit Kunst und Künstlerischem, mit geographischen und historischen Räumen, die oft weit voneinander entfernt erscheinen, aber in seiner Poesie auf eine unvergleichliche und unverwechselbare Weise einander angenähert werden. Es sind die unscheinbarsten Phänomene, Naturhaftes wie die Ameise und der Pfauenschrei, persönliche Erinnerungen, Reminiszenzen von Kunst und Geschichte, aus denen diese Dichtung zu schöpfen vermag, aber nie werden diese disparaten Vorfindlichkeiten willkürlich, gewaltsam arrangiert. Vielmehr ist es das dieser Dichtung zugrundeliegende Prinzip der Begegnung, des Austauschs, des Miteinanders, an dem der Dichter beharrlich festhält und das die vermeintlichen Gegensätzlichkeiten höchst unterschiedlicher Wirklichkeitsräume zum Verschwinden bringt.
Dass diese Prinzipien des Begegnens, des Miteinanders, des Verbindens in Sartorius' dichterischer Existenz keineswegs Ausdruck einer Pose sind, sondern vielmehr ein vitales, konsequentes, fruchtbares Denk- , Handlungs- und Lebensprinzip, zeigt sich in seiner Tätigkeit als Herausgeber ebenso intensiv wie in der des Dichters. Sein 1995 publizierter „Atlas der neuen Poesie“ führte exemplarisch 65 Lyriker aus allen Teilen der Welt – viele davon erstmals in deutscher Übersetzung – zusammen und wurde zu einem Markstein in der jüngeren Literaturlandschaft. Die Vielfalt der poetischen Sprechweisen, aber auch die höchst erstaunlichen und bereichernden Korrespondenzen, die dabei sichtbar wurden, haben diese vielsprachige Anthologie längst zu einem unverzichtbaren Standardwerk werden lassen. Bis heute ist eine Reihe weiterer Anthologien gefolgt, die bei aller Unterschiedlichkeit einander dadurch nahe sind, dass sie die grenzüberschreitende Welt der Poesie stets als eine vielstimmige Sphäre erfahrbar machen, als eine Sphäre, die im Wesentlichen durch Austausch und Begegnung geprägt ist – und offenbar auch geprägt sein muss. Diesen Nachweis lieferte die 1999 erschienene und dem poetologischen Diskurs gewidmete Essay-Sammlung „Minima Poetica – Für eine Poetik des zeitgenössischen Gedichts“ (Kiepenheuer & Witsch) nicht minder wie die Gedichtanthologie „Für die mit der Sehnsucht nach dem Meer“ (Mare Verlag 2008). Gerade die prinzipielle Unterschiedlichkeit der beiden letztgenannten Sammlungen lässt übrigens erkennen, zwischen welchen Koordinaten sich Sartorius' literarische Tätigkeit bewegt: Es ist das Spannungsfeld zwischen Reflexion und Ratio auf der einen, Sinnlichkeit und anschaulicher Konkretion auf der anderen Seite. Dass die Leser inzwischen auch den poetologischen Reflexionen des Autors selbst nachgehen können, ist dem Sammelband „Das Innere der Schiffe. Zwischen Wort und Bild“ (2006) zu verdanken, der Sartorius' Essays aus nahezu zwei Jahrzehnten vereinigt. Es ist bezeichnend für seine Arbeitsweise, dass ein beträchtlicher Teil dieser Aufsätze der dezidierten Begegnung mit Dichter- und Künstlerfreunden gewidmet ist.
Von Begegnungen vielfältigster Art zeugen Sartorius' dichterische Werke in eindrucksvollster Weise. Dies gilt für die in enger Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Künstlern entstandenen bibliophilen Bände „Vakat“ (zusammen mit der Fotografin Nan Goldin, Verlag Walther König 1994) und „Was im Turm begann“ (zusammen mit László Lakner, Rimbaud Verlag 1996), aber ebenfalls für alle weiteren Gedichtbände, die dem Debüt nachfolgten. Sartorius selbst hat die Eigenart lyrischen Sprechens einmal mit der Formel umschrieben, dass es darin gelinge, „durch rückhaltlose Versenkung ins Eigene paradoxerweise das Allgemeine“ zu sagen. Es macht die Authentizität seiner Dichtung aus, dass sie tatsächlich vom Eigensten ausgeht, mitunter von dem, was der Schreibplatz an sinnlichem Material freigibt, „Hefte, Gebetsketten, / Bücher, eine glasierte Kachel aus Samarkand, / ein Notebook, viele kleine dunkle Spiegel“. In der poetischen Zusammenschau entsteht daraus ein Kosmos, der Brücken ausleuchtet zwischen den menschlichen Grunderfahrungen von Sehnsucht und Vergänglichkeit. Sind die Gedichte der ersten Bände vielfach gespeist aus Eindrücken der Kindheit in Tunis, aber auch aus den Erfahrungen nachfolgender Lebensjahre in New York, Nicosia, Berlin, so kommt spätestens mit dem Band „Keiner gefriert anders“ (Kiepenheuer & Witsch 1996) neben Künstlerischem, Literarischem, Historischem immer wieder die arabische Welt insgesamt systematisch in den Blick. So widmet dieser Band der Stadt Alexandria einen ganzen Zyklus, der bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt hat und beim Wiederlesen von erstaunlicher Aktualität zeugt. Sartorius begegnet in seinen Gedichten dem Fremden, dem Verborgenen, dem Geheimnisvollen mit Achtung und Wertschätzung – so widersteht seine Poesie mit Entschiedenheit allen Tendenzen neokolonialistischer Vereinnahmung. Zugleich beugt sie – gerade in ihrer Offenheit, in ihrer Fragehaltung – in gleichermaßen entschiedener Weise den Verführungen eines beschönigenden Exotismus vor. In dieser glückvollen Haltung gelingt in den beiden jüngsten Bänden „Ich habe die Nacht“ (Du Mont 2003) und „Hôtel des Étrangers“ ( Kiepenheuer & Witsch 2008) auf besonders eindrucksvolle Weise ein poetisches Sprechen, das weltumspannend ist, indem es dem Fremden behutsam sich nähert, ihm sein Anderssein belässt und zugleich den Leser so sehr für dieses Fremde aufschließt, dass die vermeintlichen Barrieren verschwinden. Die „Empfänglichkeit // für die Vielheit der Welt“ vermag sich in diesen Gedichten„ am bloßen Licht zu entzünden, es „schafft Leere, die lockt, / Leere und Weite“, führt zu dem Bewusstsein, „oft in der Schönheit gewesen zu sein“ und verpflichtet beharrlich auf jene „Erinnerungen, die sich aus der Vergesslichkeit / befreien“.
Es verwundert kaum, dass sich das 2009 erschienene Prosawerk „Die Prinzeninseln“ in seiner Diktion nahtlos den Grundkonstituenten von Sartorius' Dichtung einfügt. Vordergründig Erinnerungsbuch einer Reise auf die berühmten, der türkischen Küste vorgelagerten Inseln, ist dieses Werk, inzwischen unter anderem ins Türkische übersetzt, ein höchst komplexes poetisches Kaleidoskop, das die Schönheiten dieses multikulturellen Mikrokosmos ebenso offenbart wie die Fragwürdigkeiten machtvoller Kolonialismen in Geschichte und Gegenwart. Und auch hier, in dieser Prosaarbeit, sind es die vorbehaltlosen Begegnungen und der Austausch – bemerkenswerterweise gleichermaßen mit Künstlern und Dichtern wie mit dem Gastwirt und mit Menschen am Rande der Gesellschaft, welche die nachhaltige Einheit stiften in diesem facettenreichen Werk.
„Wenn Vergessen paradoxerweise eine Grundbedingung des Erinnerns ist“, so schreibt Joachim Sartorius in einem seiner schönsten Aufsätze über Poesie, „dann entscheiden Gedichte über das, was in den Orkus kippt, und das, was erinnert werden soll. Sie sind Aufstände aus Sprache gegen Vergänglichkeit“. – Gemessen an diesem Prinzip, ist das Werk von Joachim Sartorius ein beständig fortschreitender, gelingender Aufstand gegen das Vergessen. Gewiss wird Joachim Sartorius, der am 19. März 2011 sein 65. Lebensjahr vollendet, ein Reisender in des Wortes mehrfacher und bester Bedeutung bleiben, auch wenn er am Ende dieses Jahres seine Tätigkeit als Intendant der Berliner Festspiele beenden wird. Dass wir, seine Leser, von den Reisen dieses Dichters durch die Sphären der Kunst vergangener und gegenwärtiger Zeiten, von den Begegnungen mit Menschen und Kulturen unterschiedlichster Provenienz auch in Zukunft reichlich lesen dürfen, sei an dieser Stelle aufs Herzlichste gewünscht.
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Christoph Leisten
Portrait
Lyrik
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