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Der letzte Tag der Republik
Anmerkungen zu einem Gedicht Es gehört eigentlich nicht zum guten Ton, ein Gedicht zu erklären, schon gar nicht ein eigenes. Einer der Gründe dafür ist, dass man das Gedicht damit an seiner freien Entfaltung hindert und ihm das an Speck wieder aufdrängt, was es während seiner Entstehung glücklicherweise abgenommen hat, um zu seiner idealen Figur zu finden. Zur freien Entfaltung des Gedichts gehört in entgegen gesetzter Richtung aber auch, dass der Leser oder Hörer es anschließend wieder anfüttert, es also mit dem, was er an Eigenem hineinträgt, zu einer persönlichen Vollversion ausfaltet. Normalerweise ist das ein ebenso unbeobachteter wie unkritischer Vorgang, den der „Verinnerlichende“ meist für sein aufquellendes Verständnis hält, mit dessen schönen Intervallen er Teile seines unbezeichneten Ichs in den Text einmassiert und sich dadurch Lust verschafft. Das Gedicht ist so gesehen eine auf lingo-libidinösen Lockstoffen beruhende Klebefalle für die Fruchtfliegen des adressierten Denkens. Warum also mache ich bei dem Gedicht „The last Day of the Republic“ eine Ausnahme? Wahrscheinlich, weil es sich hier um ein in Dienst gestelltes Gedicht handelt und es daher nicht schadet, zu wissen in welchen Dienst und warum. In Dienst gestellt insofern, als es die Aufgabe übernimmt, den Bildern des gleichnamigen Films von Reynold Reynolds eine Aussage beizugesellen, die zwar keine Erklärung ist, sich aber kooperativ zum Thema verhält. Kooperativ deshalb, weil es die Suggestionen der Bilder aufgreift: Geschichte, Schönheit, Destruktion, rhythmisiert von Tempo, Bewegung und Stillstand, durchirrt von Baustellenfahrzeugen. Das Gedicht gestaltet sich also nur bedingt aus eigenem Wissen und Gewissen. Es verhält sich kooperativ zum Thema, kognitiv zum Gegenstand und konstruktiv zur bildlichen Vorgabe. Ursprünglich war für den Film ein kurzer Text beabsichtigt, der aus historischen und sozialpsychologischen Kondensaten bestehen sollte, die erklärt hätten, warum der Westen den Osten abreißt, und nicht umgekehrt. Also auch kleine Sprengkapseln zwar, aber unter dem rationaleren und für die meisten historisch denkenden Menschen glaubwürdigeren Dach der kleinen Prosa. In drei bis vier Minuten Textzeit über Macht und Geschichte im allgemeinen, ein konkretes verschwundenes und ein konkretes verschwindendes Bauwerk von jeweils nationaler Bedeutung, zwei weltgeschichtliche Systeme, die ihre Stacheln einziehen und einen spezifisch deutschen Umgang mit Geschichte zu reflektieren hätte (und hatte) mein Abstraktionsvermögen nicht nur überfordert, sondern auch eine Plakativität in Kauf nehmen müssen, an deren Banalität ich mit meiner Absicht sicher zugrunde gegangen wäre. Es ist daher ein Glück, dass Moritz Holfelder, zumindest für das Buch, im geeigneteren Rahmen des Essays diese Aufgabe übernommen und gemeistert hat. Die Aufgabe, einen Text für den Film von Reynold Reynolds zu erfinden, mithilfe eines Gedichts zu lösen war anfangs aber auch nicht gerade einfach, denn das Tückische bei einem Gedicht ist, dass in der ersten Zeile „alles“ möglich ist und, wie jeder weiß, ist „alles“ ziemlich viel und die Mächtigkeit des Kontinuums auch jenseits der Zahlen ein weites Feld mit einem breiten Rand. Mit anderen Worten, alles steht und fällt mit dem Anfang! Nach diesem geeigneten Anfang habe ich länger gesucht als nach allem, womit ich diesen Anfang dann mit vierzig Zeilen und in ein paar Wochen zu Ende bringen konnte. Der Zufall, diese traurige Weltanschauung, wie de Maistre ihn nennt, lieferte schließlich die Inspiration, indem er mich auf ein Gedicht von Heinrich Heine stoßen ließ, das mir immer sehr viel bedeutet hat. Die wunderbare Paarung von Melancholie und Ironie, für die Heinrich Heine in der Deutschen Dichtung als Prototyp gilt, entsprach sowohl meiner eigenen Gesamtverfassung, als auch der Sache. Der Zerfall von Reichen, Vaterländern und Systemen, die Melancholie einer damit verbundenen Spätzeit und die Ironie, dass an der Stelle, wo ein System das Symbol eines anderen Systems durch Sprengstoff zerstörte, dieses andere System, vierzig Jahre später, das Symbol des nachgerückten Systems mit dem Abrissbaggern zerstört, schien mir mit dieser Mischung am Besten bedient. „Ich hatte einst ein schönes Vaterland / der Eichenbaum / wuchs dort so hoch“ ist eines der berühmtesten Gedichte Heines aus dem französischen Exil. Zusammen mit dem fast noch berühmteren „Nachtgedanken“ und seiner überwältigenden ersten Zeile: „Denk ich an Deutschland in der Nacht“, die sich hier für diesen Text allerdings nicht angeboten hätte. Den Eichenbaum habe ich ersetzt durch das mindestens ebenso robuste und tiefverwurzelte „Weiß-nicht-mehr“, mit dem die Geschichte im Vergessen die Kraft für ihre unglücklichen Wiederholungen schöpft. Es sollte „Deutsch“ klingen und es sollte eine antike Dimension in der Metapher liegen. Die Sätze sollten daliegen wie Epigramme, gespannt zwischen Erwartung und Aufschluss, und nicht eine Erzählung sollte sie verbinden, sondern der Ort. Der romantische Ton und seine ironische Abfuhr schienen mir ideal für meine Zwecke. Ab da also war der Weg klar. Ich wollte eine Collage aus semantischen Schräglagen schaffen, die in ihren ganz natürlich klingenden Paradoxen die ewige Beteiligung des Individuums und Zeitzeugens an weltgeschichtlichen Entscheidungen und Fehlentscheidungen so zusagen im Aneinanderschlagen ihrer beiden einander ausschließenden Seiten aufblitzen lassen würde. An ihren „unvereinbaren Sichtbarkeiten“, wie Foucault das einmal genannt hat. Die Grammatik ist so irreführend angelegt, dass sie die Widersprüchlichkeit von Geschichte ebenso anzudeuten versucht wie die deutsche Neigung, immer das Kind mit dem Bade auszuschütten. Troja, Karthago und Karl Marx sollten als Beispiele für das stehen, was über beachtliche Zeiträume als mächtig und unüberwindlich galt, bis sie, praktisch mit einem Schlag, von der Bildfläche verschwanden. Rom und Berlin habe ich absichtlich nicht erwähnt, aber beide schwingen im Ausgelassenen mit. „Weißt du noch, wo Du warst, als Troja fiel?“ Wer es nicht weiß, ist selber schuld. Vermutlich liegt es am „weiß nicht mehr“.
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Gerhard Falkner
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