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KRANICHSTEINER REDE 2008
Dienen die Kapitalmärkte dem Menschen,
dienen die Buchmärkte der Literatur?
„A New Modest Proposal“
Gerhard Falkner
 Gerhard Falkner    Foto: Englert
 
Gerhard Falkner wurde 1951 in Schwabach geboren und veröffentlichte zahlreiche Ein­zel­titel als Lyriker. Auch als Prosa­autor (Bruno, 2008) und Heraus­geber (Buda­pester Sze­nen, 1999) trat er hervor. Für seinen jüngs­ten Gedicht­band Hölderlin Reparatur (2008) wurde er mit dem Peter-Huchel-Preis aus­ge­zeichnet. Im selben Jahr erhielt er den Kra­nich­steiner Literatur­preis.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,

der Mensch ist, wenn wir uns nicht scheuen, mich als Beispiel anzuführen, einen Meter zweiundsiebzig groß.
Wenn er Glück oder Pech hat, je nach persönlicher Anschauung, ist er bis zu dreißig Zentimeter größer oder kleiner, vorausgesetzt, wir gehen von einem Erwachsenen aus.
Wenn eine Fernsehkamera über ein mit achtzig­tausend Zuschauern ge­fülltes Fußballstadion fährt, entsteht dennoch der Eindruck, alle Menschen seien in etwa gleich groß und sähen in etwa gleich aus.
Dieser Eindruck ist richtig und wiederholt sich innerhalb gültiger Bezugs­systeme in der gesamten Natur, zu der wir uns, auch als ihre Zerstörer, immer noch zählen müssen. Diese proportionale Stimmigkeit wiederholt sich regelmäßig und unendlichfach. Bei den Paarhufern ebenso wie bei den Netzflüglern, im mikroskopischen Bereich nicht anders als im astro­no­mischen.
Obwohl der Blick aus dem Flugzeug auf einen Regenwald, in gar nicht fernen Zeiten noch Dschungel geheißen, auf ein System geht, in dem Urwaldriesen bis zu achtzig Meter und höher sind, scheint aus dem grünen Dach der Tropen nichts heraus­zustehen, ebenso, wie nichts zu kurz geraten sein könnte, um für das Ganze nicht von ange­messener Bedeutung zu sein.
Mit den Gebirgen verhält es sich genau so.
Trotz ihrer berühmten und berüchtigten Gipfel harmo­nisieren sie sich bei geeignetem Abstand zu einer sinnvollen Silhouette und die Meeresböden sind, was ihre Tiefen und Konturen angeht, ein ziemlich getreues Abbild der Höhenzüge.
Alle vernünftigen Verhält­nisse beruhen auf Pro­portion, Korres­pondenz und Spiegel­bildlichkeit.
Dies war die Botschaft von da Vincis berühmter Studie „Der Vitru­vianische Mensch“, die zu Recht als der Inbegriff der groß­artigen proportionalen Si­cher­heit der Renaissance gilt.

Ein siebzehn Meter großer oder ein fünfund­dreißig Zentimeter kleiner Mensch würde aus dem Rahmen fallen. Wie wir wissen, gibt es das höchs­tens in der Literatur, zum Beispiel bei dem genialen Sarkasten Jonathan Swift, und dort hat das auch seine Berechtigung.
Sogar das Lieblings­geschöpf des Menschen, das Auto, ist eine einiger­maßen vernünftig zuge­schnittene Schatulle für die von der Evo­lution als optimal ermittelte durch­schnittliche Körper­größe seines Lenkers und selbst die Reichsten fahren keine neunund­zwanzig Meter langen Limou­sinen.
Hier nun, mit Erwähnung dieser Reichsten, haben wir aber den gesuchten Anknüpfungs­punkt zum Thema meiner, ich verspreche es, kurzen Rede, nämlich: „Dienen die Kapital­märkte dem Menschen, dienen die Buchmärkte der Literatur“?
Ich beantworte sie schon mal vorab mit Nein, ohne meine Antwort für besonders originell zu halten.
Mithilfe der globa­lisierten Finanz­märkte sind während der Zeit unseres Zuschauens, unserer historischen Zeugen­schaft also, Zustände möglich geworden, die nicht nur jede Verhält­nis­mäßigkeit von Leistung und Besitz ins Unge­heuerliche verzerrt haben, sondern die allein durch ihr Vorhanden­sein und ihre Eigen­dynamik einen profunden Terror gegen alle bis dato global verbind­lichen humanen Systeme darstellen.
Privat­vermögen, gegen die sich die Schätze von Päpsten und Kaisern wie Peanuts ausmachen, angehäuft von Menschen, die sich in einer neunund­zwanzig Meter langen Limousine verloren vorkämen, nicht aber in einem Vermögen, mit dem man halb Schwarz­afrika Jahrzehnte lang aus der schlimmsten Not befreien könnte.
Hinter so bekannten Gesichtern, wie denen von von Carlos Slim, Boris Beresowski oder Warren Buffet, hinter den eisernen Masken der global players, die nur die Spitze des Eisbergs sind, agieren aber ganze Heere von global gamblers, – gesichtslose Gespenster, die sozusagen die synthe­ti­sierte Habgier in Menschen­gestalt darstellen, den homo avidus, bindungs­lose, vollkommen a-sozial denkende und agierende Beutemacher, die einfach rund um die Uhr Kapital verschlingen, direkt vom Bildschirm weg und in Form von Zahlen, ohne den geringsten Anstoß daran zu nehmen, dass an diesen Zahlen Ressourcen hängen, Lebensräume, Volks­wirt­schaften, Existenz­grundlagen, Nahrungs­ketten, Klima­folgen und ganz nebenbei die Über­lebens­chancen künftiger Generationen.
Das meiste von diesem Geld, das im wahrsten Sinne des Wortes in der Luft liegt, das so genannte frei flottierende Kapital, ist mit keinem aus der Wert­schöpfung gespeisten Geschäft mehr verbunden, kreist heimatlos über den Börsen der Finanz­metro­polen und wird von diesen Menschen am Bildschirm mit dem einzigen Ziel einer an keinen Sinn und keine Verpflich­tung mehr gebundenen Berei­cherung verschoben, in einer Weise ohne Rücksicht auf Verluste, wie man sie selbst aus den barba­rischsten Kriegen nicht kennt.
Kein demokratisches oder humanis­tisches Prinzip vermag die selbst­gesteuerte und entnormte Gier des Kapitals und ihre Raubeliten noch zu stoppen.
Dabei sind die Täter, und allein diese Bezeichnung ist angemessen, nach fünf Tagen ohne Wasser ebenfalls nichts weiter als ein Häuflein Durst (unmittel­bar vor dem höchst­persönlichen Verlöschen). Also Menschen.
In diesem Beispiels­falle dem Kamel weit unterlegen.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Dies ist keine Funda­mental­kritik an der Markt­wirtschaft, zu der es vielleicht tat­sächlich keine Alternative gibt, sondern an einem Anarcho- oder Killer­kapitalismus, an dessen direkten und indirekten Folgen pro Jahr mehr Menschen sterben als in sechs Jahren Zweiter Weltkrieg.
Wer diese in der gebotenen Kürze einer solchen Rede natürlich sehr holz­schnittartigen Ausführungen verfeinert wissen möchte, sei aus einer Flut von Literatur auf die Bücher so ehrenwerter Personen wie Naomi Klein, Noam Chomski oder Jean Ziegler verwiesen, oder auf Rupert Riedl, der in seiner Kulturgeschichte der Evolutionstheorie ganz unaufgeregt feststellt, dass „frei flottierendes Kapital (sich) nur durch Anwachsen erhalten (kann)“ und hinzufügt, „dass Systeme, die nur durch Wachstum überleben, an ihrem Wachstum schließlich zugrunde gehen müssen, (anders gesagt, dass), wenn zu viele Gewinn maximieren, alle verlieren werden.“
Dass er damit nichts Neues sagt, tut der Wahrheit ja keinen Abbruch.
Wie bei allen welt­geschichtlichen Auswüchsen, seien es die der Sklaverei, des Hexenwahns, der Inquisition oder des National­sozia­lismus muss erst, und wie immer gegen das allgemeine Beharren auf dem Bestehenden, ein Bewusstsein für die Ungeheuer­lichkeit des Statt­finden­den geschaf­fen wer­den. Ein Bewusstsein, das es in hoffentlich nicht allzu langer Zeit als selbst­verständlich erscheinen lassen wird, den Neo­liberalismus auf eine Stufe mit dem Kanni­balismus zu stellen.
Unsere Zeit wird erst einen mit dem Stand der Dinge und unseren wunderbaren und entsetzlichen Möglichkeiten kompatiblen Zivili­sations­stand erreicht haben, wenn Menschen, die mit Arbeits­plätzen gezielt Existenzen vernichten, Armut und Elend erzeugen, ethische und kulturelle Institutionen vernichten, aus persönlicher Habgier Ressourcen plündern, Arten ausrotten, Ökosysteme zerstören, wenn diese Täter vor Tribunale gestellt werden, wie sie für Kriegs­verbrecher bereits existieren.
Das Diktat des Machbaren, das Wissenschaft, Wirtschaft und Technik neben ihren großen Leistungen zu ihren wuchernden Produktionen von Destruktivität geradezu zwingt, muss ersetzt werden durch eine Kultur des Wünschenswerten.
Die Globalisierung, die das Ausmaß dieser Exzesse erst möglich macht, hat bereits, außer dass sie die Bürger ihrer Staaten und die Menschen ihrer Länder beraubt, einen großen Teil der Städte der Welt als leere Gerippe zurückgelassen.
In Kenia haben die Slums von Nairobi und Mombasa 85% des Bevöl­kerungs­wachstums verschluckt, während der Tourismus mit seinen kleinen bunten Männchen die letzten Ruhezonen des Erdballs auffrisst!
Wegen beliebig durch­führbarer und daher fast immer erfolgreich ange­drohter Flucht­bewe­gungen des Kapitals bleiben bereits heute demokra­tische Mittel korri­gierenden Eingreifens so gut wie wirkungslos.

Das letzte Feigenblatt, das der Kapitalismus fallen lässt, seit der gefürchtete Kommunismus die Segel streichen musste, ist das der demokra­tischen Ordnung, an deren Aushöhlung und Entkernung alle wesentlichen Vorarbeiten bereits abge­schlos­sen sind. Wo lokale demokratische Insti­tutionen sich dem schonungs­losen Ansturm der inter­nationalen Inves­toren ent­gegen­stellen, werden sie von der inter­nationalen Kollegialität von Medien, Macht und Finanz­kapital hinweg­gefegt, ohne dass in solchen direkt aus der Hoch­komplexität gestarteten „kurzen Prozessen“ noch irgend­jemand dabei sein Gesicht zu zeigen hätte und somit verlieren könnte.
Wenn vor ein paar Jahren beim Welt­wirtschafts­gipfel in Davos der damalige Präsident der deutschen Bundesbank Hans Tiedmeyer vor den eintausend mächtigsten Oligarchen dieser Welt das Wort an die Politiker richtet und sagt: „Von nun an stehen Sie unter der Kontrolle der Finanz­märkte“, dann ist das nicht nur ein Ausspruch, der formal an die Logik eines „Seit heute früh wird zurück geschossen“ anknüpft, sondern auch ein Satz, für den ein „Wehret den Anfängen“ bereits zu spät scheint.
Die Politik, so heißt dies unter dem Strich, darf als Wahlshow und Mediengag sowie als entmachtete Staats­insze­nierung weiter­gehen, ihre Vertreter aber sollen wissen, wo der Barthel den Most holt.
Die Politiker sind ledig­lich noch die Übersetzer solcher inter­nationalen Finanzbefehle in die jeweilige Landes­sprache, und ihre Kunst besteht vorwiegend darin, sie so zu übersetzen, dass sie ohne wenn und aber durchgeführt und von der Allgemeinheit möglichst nicht verstanden werden.
Die Tatsache, dass in dieser frei­heitlichen Unordnung, sozusagen „durch die Bank“, alle Führungs­ebenen der Wirtschaft und Politik weltweit der Kor­rup­tion anheim fallen, zu der als vorauseilende Vereinbarung durchaus auch Abfindungen in absurder Höhe und unter absurden Umständen gehören, neutra­lisieren die Medien durch die Novität, dass sie die Nachricht, die im Sinne von Wahrheit immer immate­riellen Charakter besaß, in eine Ware verwandelt haben.
Von allen ratio-aktiven Elementen ist die Nachricht als Ware der Gefahren­stoff mit der geringsten Halbwert­zeit überhaupt.
Sobald sie verkauft ist, ist sie nicht mehr da.
Wenn wir zu unserem eingangs bemühten Bild der angemes­senen Verhält­nisse zurückkehren, so sind diese Superreichen, diese Helden der Raubeliten, heute die Urwaldriesen unserer Zeit, die zwanzig Kilometer und mehr aus einer durch­schnittlichen, einigermaßen verträglichen Kapitaldecke in den Wohlstandsländern herausragen, schlechthin nur als Ungetüme zu bezeichnen.
Das modest proposel heute, dreihundert Jahre nach Swift, müsste lauten: die Urwald­riesen des Regenwalds stehen zu lassen und dafür die der Wirtschaft zu fällen, um aus ihrem Holz die Arche Noah für den Planeten zu zimmern und mit ihren Rinden die Gräber der von diesem sinnlosen Reichtum Ermordeten zu mulchen.


II


Natürlich ist die Globalisierung des Buchmarkts, um zu meinem zweiten Thema zu kommen, das unvergleichlich kleinere Unglück.
Sie ist keine Katastrophe, sondern nur eine Tragödie.
An ihrem Ende stehen lediglich der entmündigte Leser und die un­überschau­bare Öde der gedruckten Massen­ware.
Natürlich tut der Buch­markt weiterhin so, als würde es sich bei dem, was als Buch gewöhnlich über den Ladentisch geht, um Literatur handeln.
Sofern aber über diesen Markt noch Literatur verkauft wird, geschieht dies nicht, weil diese Buch­märkte existieren, sondern obwohl.
Bei der über­wältigenden Haupt­masse der Bücher handelt es sich zu­nehmend nicht um Literatur, sondern um Lese­stoff, genauer gesagt, um Literatur­imitation.
Beide, Literatur und Lesestoff, haben etwa soviel miteinander gemein wie ein freilaufendes Panzer­nashorn in Nepal mit seiner Abbildung in einem franzö­sischen Zigaretten­bilderalbum.
Ich werde Ihnen ein paar Beispiele dafür geben, warum dieses perfekt ineinander greifende Räder­werk von Teufels­kreisen, mit dem die Buch­märkte maßstabs­verkleinert die Zwänge der Finanz­märkte widerspiegeln, die Mög­lich­keit für eine „freilaufende“ Litera­tur mehr und mehr zerstört.
Zuerst einmal, dies sei voran­gestellt, weigern sich alle, die an diesen Teufels­kreisen mitwirken, genauer gesagt mitgewirkt werden, eins und eins zu­sammen­zuzählen, weil sie behaupten, damit auf keine sechs­stelligen Ver­kaufs­zahlen zu kommen.
Dies scheint mir ein Trugschluss.
Jedenfalls, wenn man eins und eins als die beiden Grund­mengen jenes Für und Wider versteht, deren Summe allein das richtige Ergebnis wiedergibt, die Wahrheit nämlich, die man partout nicht sehen will, obwohl sie auf der Hand liegt.
Doch nicht genug, dass im Disput über dieses Thema jede Logik so traurig außer Kraft gesetzt wird, sie rühmen sich auch noch, diese Buch­markt­manager, gute Geschäfts­leute zu sein und sind stolz darauf, wenn es ihnen gelingt, dreihundert Seiten importierter und über­flüssigster Literatur­konfek­tion nach den Gesetzen des Marktes und mit den Mitteln des Marketings in einen deutschen Bestseller zu verwandeln.
Dabei ist die Behaup­tung, mithin auch die Ent­schuldigung, der Markt liefere nur das, was der Kunde wolle, ein Ammen­märchen und längst widerlegt.
Inzwischen liefert, wie man weiß, der Markt den Kunden. Er modelliert den Käufer für das, was mit maximalem Gewinn abgesetzt werden soll, nicht umgekehrt.
Der Kunde ist die einzige wirkliche Superware.

Wo bleibt unter diesen Umständen die Literatur im Sinne dessen, was man seit ihren Anfängen darunter verstand: die Literatur als die leichtfüßigere Gefährtin zeitgenössischen Denkens, die Literatur als Bewegerin, Erregerin, Faszinateuse, und welche Rolle spielen für ihren Rückgang und Schwund diese Teufelskreise?

Um hier Adornos berühmten und gleichwohl immer noch wahren Satz gar nicht erst zu bemühen, ersetze ich ihn durch drei eigene Formulierungen, und jeder kann dort, wo er es für richtig hält, sein Kreuzchen anbringen oder von seinem Recht Gebrauch machen, mit mir nicht einer Meinung zu sein.
Erstens: Es gibt keine richtigen Schritte auf einem Boot in der falschen Richtung. Zweitens: Sich in einem gestarteten Raumschiff zurückzulehnen, bringt einen der Erde nicht wirklich wieder näher, und drittens: Im Intercity von Berlin nach München von der Spitze des fahrenden Zuges in den letzten Wagen zu rennen, führt niemals zurück auf den Lehrter Bahnhof. Nicht einmal in Licht­geschwin­digkeit.
Wozu und zu welchem Zwecke also wird dieses Räderwerk in Bewegung gesetzt?
Zuerst einmal verfolgt die Internationalisierung oder Globa­lisierung des Buch­markts das Ziel, die anglophone Dominanz beziehungs­weise die mediale Vorherrschaft der US-Märkte noch stärker aus­zubauen.
Die Popmusik und das Hollywood Kino haben mit verheerendem Erfolg die Diversivität, Eindrücklichkeit und Unvergleichlichkeit europäischer Musik, von den Volksmusiken bis zu den großen Symphonien, ebenso wie das reiche, noch an das Theater anschließende europäisch- pluralistische Kino ausradiert. Das einzige, was da noch singt, tönt oder flimmert, sind matte Reflexe auf den Krümeln der Radiergummis.
Infan­tilisierung und Idio­tisierung der Massen sind für solche Entwicklungen die Haupt­voraussetzung, mit der sich im Erfolgsfall am lukrativsten an angrenzende Märkte (wie Kommunikation-Mode-Internet-Tourismus) anschließen lässt. Wie jeder weiß, gehören gerade diese vier genannten „Sparten“ zu den größten und noch immer expandierenden Märkten der Welt.
In keinem europäischen Land nun wird der Buch­markt so mit drittklassiger und vollkommen überflüssiger Literatur und Literatur­imitation aus dem englischsprachigen Raum zugemüllt wie in Deutschland. Die Bücher werden unter dem Druck absurd hoher Investitionen und Lizenzen, die anschließend noch mit dem Löwenanteil der Werbebudgets aufgerüstet werden müssen, in den Markt gepumpt, obwohl allgemein bekannt ist, dass gut die Hälfte floppt.
Diese Investitions­politik, die mehr mit Poker zu tun hat als mit einem kulturellen Tausch oder Handelsgeschäft, folgt, um einen berühmten Begriff für unser Thema abzuwandeln, dem Gesetz einer: „self fulfilling profity“!
In den meisten Fällen erzielen diese mit viel Geld lancierten Bücher lediglich das, was Richard Wagner als „Wirkung ohne Ursache“ bezeichnet hat.

Wie nun aber werden solche Teufelskreise in Gang gesetzt und warum?
Mit dem Einkauf von Lizenzen fängt es an.
In vielen Fällen werden Literatur­preise und damit verbundene Auflagen­höhen in den Herkunftsländern zur Orientierung für Lizenzankäufe herangezogen, die auf andere Länder oder in andere Sprachen oft gar nicht übertragbar sind, weil sie auf anderen Märkten oder Gesellschafts­hinter­gründen ba­sie­ren.

Einem zumindest potenziell hoch­differn­zierten europäischen Literatur­system steht in Australien, Neuseeland, Kanada oder dem mittleren Westen der USA nur eine ver­gleichs­weise schwache und nicht gerade vom Nerv der Zeit elektri­sierte Literatur gegenüber, die oft ziemlich weit hinter die Standards der zeitgenössischen europäischen, aber natürlich auch der noch vor kurzem so eindrucks­vollen nord- und südamerikanischen Literaturen zurückfällt.
Vor allem in Deutschland will man es aber nicht wahrhaben, dass der großen amerikanischen Literatur spätestens in den achtziger Jahren die Luft ausgegangen ist und fast ausschließlich prätentiöser und provinzieller Kitsch gedruckt wird oder eben jene Art von Büchern, die lange Zeit zurecht entweder als Schinken oder als Wälzer bezeichnet wurden.
Der „höhere Sinn von Lite­ratur“ ist aber nicht die Unter­haltung, obwohl kein Vernünftiger je Einwände erhebt, wenn die sich erfreu­licher­weise dazu­gesellt, die Aufgabe von Literatur ist es, an exemplarischen, narrativen oder imaginativen Erzähl- oder Dichtungs­beispielen den jeweiligen Stand von Sprache, Bewusstsein, Mitteilung oder Erzählung mit dem jeweiligen Stand der aktuellen Lebenskultur und den unauf­hörlichen Neuerfindungen der gesellschaftlichen, kulturellen und inter­kulturellen Diskurse vorzuführen und abzugleichen, denn (auch wenn das viele schon wieder vergessen haben,) die Welt ist eine Erfindung der Sprache, und Sprache ist die Aufgabe von Literatur, mit anderen Worten, ohne Literatur stagniert Welt .
Für die glänzende Bewältigung genau dieser Aufgaben stehen Homer, Wolfram von Eschenbach und Thomas Mann, stehen Dante, Baudelaire oder Thomas Pynchon, stehen T.S. Elliot, Gottfried Benn oder Paul Celan, und könnten fürderhin nur die stehen, die künftig unter den Bedingen des Buchmarktes „ihren Geist aufgeben müssten“, um jener Absenkung der Niveaus, der wachsenden Unter­komplexität ihrer Leser und dem Diktat einer Sofortwirkung gerecht zu werden.
Ein solches augenblick­liches Gerecht­werden erreicht man allenfalls mit Krimis, Zeit­geistprodukten und Pornos.

Literatur aber braucht eine Position, ein genuines Format und eine zeit­genössische Ausstrahlung, sie benötigt Zeit für Reifung und Akzeptanz und einen Autor, der mit seiner künstlerischen Haltung und Persönlichkeit haftet.
Alle diese Dinge werden zunehmend unmöglich, wenn die Buchmärkte die Bestseller wie Bombenteppiche über Medien und Leserschaft legen und die Rüstungsausgaben für ihre Platzierung sämtliche Mittel für eine literarische Rekonvaleszenz und geistige Rekon­stituierung verschlingen.
Schoko­laden­automaten sind so konstruiert, dass man niemals durch Hineinstecken von Schokolade eine Münze erhalten wird ebenso wie Buchmärkte niemals durch Hineinstecken von Werbung Literatur ausspucken werden.
Der Begriff Mischkalkulation auf dem Buchmarkt ist genauso wie der berühmte Trickle-down-Effekt der neo­liberalis­tischen Finanz­theorie ein Euphemismus von Unzu­rechnungs­fähigen für Unzurech­nungsfähige, denn wie anders soll man die Verbreiter einer Behauptung, deren Verwirk­lichung stets im glatten Gegenteil des Ausgesagten gipfelt, sonst nennen.

Dass von Misch­kalkulation in den Verlagen genau von dem Moment an die Rede war, wo die Literatur hinaus­kompli­mentiert wurde, wird niemand be­strei­ten, der die Lage kennt und sich nicht von Ausnahmen mit Seltenheits­wert beirren lässt.
Es ist nämlich keineswegs so, dass durch Feuchtgebiete „Literatur­schutz­gebiete“ entstehen, sondern diese Feuchtgebiete füllen lediglich die Löcher, die durch das Abtragen von Literatur für den Anbau von sai­sonalem Unter­hal­tungs­schund entstanden sind.
Am Gefährlichsten für die Literatur sind dabei die so genannten literarischen Bestseller, die in Wirklichkeit deshalb Bestseller sind, weil sie, abgesehen von den Buchstaben selbst und den mit ihrer Hilfe bewerk­stelligten Literatur­klischees eben gerade nicht literarisch sind.
Im Zusammenhang mit diesen Büchern wird das Wort literarisch ähnlich inflationär und obszön angewendet, wie das Wort Künstler für die Mitglieder von Boygroups, denen mit der Bezeichnung New kids on the Block oder Backstreet Boys doch eigentlich schon genug Ehre angetan ist.
Diese vollständig unkontu­rierten Begriffe führen durch ihre massive, weltweite Anwendung zu einer ernsthaften Verwirrung und einem Kollabieren von Maßstäben und sind wohl mit ein Grund, warum unter den meisten Männern der traditionell intelli­genten Berufe die Belletristik aus dem Bücherregal fast völlig verschwun­den ist.
Ich sage, den Männern, denn die Frauen lesen ja noch.
Um dieser Ent­wicklung noch in die Hände zu arbeiten, forcierte das Ver­lags­system den nächsten Teufels­kreis, den des Spitzen­titels.
Manche Verlage be­strei­ten inzwischen bis zu fünfzig Prozent ihrer Pro­gramme mit Spitzen­titeln, die sich, behängt mit den inflatio­närsten Super­lativen, gegenseitig erschlagen mit Platti­tüden wie: „Ein atembe­rauben­des Stück Literatur, hinreißend erzählt.“
Mit Sätzen also, in denen so gut wie jedes Wort herumsteht wie ein leerer Eimer.

Diese Spitzentitel diskre&ditieren nachhaltig alles zwischen ihnen Angebotene als Nicht-Spitzentitel.
Psychologisch gesehen handelt es sich dabei um einen Akt der Vorsortierung, der bereits den größten Teil der Chancen der Nicht-Spitzentitel für einen möglichen Erfolg ausschaltet.
Auch wenn manche Kritiker Bücher nicht über ihren Horizont hinaus zu lesen imstande sind, die Zeichen des Betriebs können sie alle lesen, denn diese Fähigkeit bestimmt maßgeblich sowohl ihr Einkommen wie auch ihr Vorankommen.
Für sie ist ein Nicht-Spitzentitel unver­kennbar ein Daumen nach unten, mit dem der Verlag, die Urteilsfindung seiner Lektorate damit preisgebend, schon vorab zu verstehen gibt, „es gibt Wichtigeres“.
Viele Kritiker, die dem Anprall der intensiv beworbenen oder gehypten Spitzentitel ja schon lange nicht mehr gewachsen sind, scheren hier bereits aus.
Über den Erfolg eines Buches wird also schon vorab und mit seiner Platzierung im Verlagsprogramm entschieden und anschließend geht fast gar nichts mehr.
Die Budgetierungen sind so eng, dass zwischen die Räder der PR- Maschinen hinterher, wenn bereits die Titel für die nächste Saison designed werden, kein neuer Gedanke mehr passt.

Die Werbe­abteilungen dürfen sich, besonders wenn sie unter der Vormundschaft mächtiger und oft ausländischer Medien­konzerne stehen, wie das inzwischen bei vielen Verlagen in Deutschland und Europa der Fall ist, von Titeln, die nicht als Bestseller geplant sind, finanziell überhaupt nicht ablenken lassen und drängen schwierigere Literatur selbst auf den eigenen Websites in den Hintergrund.
Der von den Medien geknetete Leser entscheidet sowieso erst, wenn alles entschieden ist. Entscheidend ist ja nur, dass er kauft, nicht, dass er liest.
Dies also ist das große Schwungrad im Räderwerk der Teufelskreise, die: Self fulfilling profity!

Am glücklichsten in diesem Karussell sind wohl noch die Manager der Marketing­abteilungen, also die Verantwortlichen für Presse, Wirtschaft und Werbung.
Ihnen geht von Haus aus Inhaltliches höchst selten an die Nieren.
Sie sind überwiegend Vertreter jener Spezies, die von allem den Preis und von nichts den Wert kennt und sie versuchen sicher zu stellen, dass bei Kopf- oder Zahl Situationen die Münze auf den Kopf fällt, sonst nichts.
Dass sie in diesem Räderwerk selbst degradiert sind von den einstigen „Geheimen Verführern“ zu den längst „Insgeheim Verführten“, scheint ihrer Aufmerksamkeit entgangen.
In ihrer markigen Art sind sie, auch aus Mangel an Phantasie, völlig unromantisch in Bezug auf kulturelle Argumente, – was ihnen im allgemeinen durch einen vollständigen Mangel an dies­bezüglicher Bildung auch besonders leicht fällt.
Dafür vertreten sie aber ihre Standpunkte mit der Wendigkeit und Schlag­kraft einer erfolgreich absolvierten Nahkampf­ausbildung, was sie den abgerichteten Telefonisten und Telefonistinnen jener berüchtigten Callcenter ähnlich macht, die durch Training vollständig dem Griff des Arguments entzogen sind.
Ihr Denken funktioniert im Dissens nur noch wie ein Prellbock.
Diese Menschen praktizieren die Logik, dass ein Buch so viel wert ist, wie man bereit ist, in es hineinzustecken, um die Einsätze wieder heraus­zuholen, und sind nicht bereit, zu erkennen, dass es sich dabei um eine Katze handelt, die sich in den Schwanz beißt.
In diesem Zusammenhang sind auch bestimmte Literatur­preise, die auf ein immer stärkeres Bestseller-modelling und auf eine mediale Zuspitzung abzielen, nur noch Rädchen, die im großen Schwungrad der„self fulfilling profity“ gehorsam mitlaufen.
Ich teile daher durchaus die Ansicht von Daniel Kehlmann, dass es angebracht wäre, beispielsweise den Deutschen Buchpreis abzuschaffen oder zumindest erheblich zu modifizieren. Er ist ein weiteres Spektakel dieser alles über­wuchernden Eventkultur, das nur beiträgt zur Polarisierung von Verkauf und kultureller Vernunft, beziehungsweise der Einebnung der Differenz zwischen Quantität und Qualität.
Hierfür ein Beispiel.

Ein bekannter Lektor eines großen Verlages erzählte mir, er habe es mit dem Titel eines seiner Autoren auf die Shortlist des Deutschen Buch­preises geschafft, und innerhalb von wenigen Tagen seien 12.000 Exemplare verkauft worden.
Als dann der Buchpreis schließlich an einen anderen Autor ging, kam der Verkauf dieses Titels schlagartig, vollständig und für immer zum Erliegen.
Aus diesem Vorfall lassen sich nur äußerst bedrückende Schluss­folgerungen ziehen.
Erstens, es kann sich um kein litera­risch auch nur einiger­maßen be­mer­kens­wertes Buch gehandelt haben, denn sonst hätte sich unter diesen zwölftausend Käufern auch jener Bruchteil an geübten Lesern gefunden, die dem Buch seinen weiteren Erfolg, wenn auch vielleicht auf kleinerer Flamme, gesichert hätten.
Zweitens, die Jury, die den Titel auf den Weg brachte, hatte entweder einen völlig defizi­tären Begriff von Literatur, oder aber, was das Wahr­schein­lichere ist, das erstere aber keineswegs ausschließt, sie ließ sich bei ihrer Wahl von den textexternen Kräften leiten.
Nach dem Erscheinen meiner Novelle „Bruno“, die ja mit ausschlag­gebend für diesen heute an mich verliehenen Kranichsteiner Literaturpreis gewesen sein dürfte, sagte meine Verlegerin in einer kleinen Rede, während eines Verlags­essens: Man sei sich im Verlag absolut sicher gewesen, dieses kleine Buch werde es wenigstens auf die longlist, wahrscheinlich aber sogar auf die shortlist des Deutschen Buchpreises schaffen.
Ich habe darauf, im Hinblick auf die betrüblichen Gesetze des Marktes, die Bestseller und Superreiche als ihre jeweiligen Auswüchse wie Gottes­urteile in Kauf nehmen, geantwortet: Sie können nicht den einen Titel mit der Boeing nach Frankfurt schicken und es dem anderen anheim stellen, mit dem Fahrrad hinter­herzukommen.

Die unendlich vielen Aus­diffe­ren­zierungen schädlicher Aus­wirkungen, wie sie sich durch die Kapital­märkte für die Mensch­heit und durch die Buch­märkte für die Literatur ergeben, auch nur zu umreißen, ist an dieser Stelle natürlich nicht möglich, daher nur ein paar kurze Zusam­men­fas­sungen, was das zweite Beispiel angeht.

Es ist nicht Aufgabe und Ziel von Literatur, in einem künst­lich erzeugten Augenblick bezahlter Aufmerk­samkeit zu erscheinen und nach diesem Augenblick sofort wieder zu verschwinden, es ist das Ziel von Literatur, zu bleiben und zu wirken.
Genau dies aber machen die Buch­märkte zunehmend unmöglich.

Es ist nicht Sinn der Literatur, als kleines grünes Männchen ge­schaf­fen zu wer­den, damit jeder sich Farbe und Figur des Werks augen­blicklich einprägt, um damit einen umsatz­mäßigen Schnell­schuss zu gewährleisten, es ist Aufgabe von Literatur, in ihrer Auffassung dem Begriffs­vermögen der Allgemein­heit erst einmal voraus zu sein und für ihre Wirkung eine gewisse Dauer zum Heranreifen der adäquaten Leserschaft zu beanspruchen.
Genau dies aber verhindern die Buchmärkte.

Es ist nicht Ziel und Aufgabe von Literatur, so in die Knie zu gehen, dass sie immer in Augenhöhe mit dem Zeit­geschmack eines breiten Publikums ist, diese Bedingung wird von der Flut der Lite­ratur­imitation ja im Übermaß erfüllt, es ist die Aufgabe von Literatur, den Blick durch die Sprache so anzuheben, dass er über den Rand des Gebräuch­lichen, mithin Ver­brauch­ten, hinaus­zublicken imstande ist.
Genau dies aber verhindern die Buchmärkte.

Es ist nicht Aufgabe der Literatur, sich so explizit zu machen, dass sie sich in einem winzigen Zeitfenster erschließt, denn sie ist ja nun nicht der Herr im Park, der schnell seinen Mantel aufreißt, wenn Minderjährige vorbei­kommen, es ist Aufgabe von Literatur, das Denken zu erregen und nach dem Lesen auf die Erlebnis­fähigkeit des Lebens über­zugreifen.
Genau dies aber verhindern die Buch­märkte.

Es ist nicht Aufgabe der Literatur, sich thematisch immer nur der Raketen und Massen­trans­port­mittel zu bedienen, wie gegen­wärtig Ex-DDR, Ost-Sozia­lisation, Wende und Mauerfall, Dresden, Inzest, Porno oder Holocaust, um sofort im Schlund unaufhörlich geschürter Erwartungen zu landen und auf den Markt gespieen zu werden, es ist Aufgabe der Literatur, sich ihren Gegenstand auch im ungesicherten und allgemein noch ungefundenen Bereich zu suchen und notfalls warten zu können, bis Leser, sobald die Zeit reif ist, dort eintreffen. So geschehen bei Kafka.
Genau dies aber verhindern die Buchmärkte.

Keine Göttliche Komödie und keine Suche nach der verlorenen Zeit wird jemals sich in einem durchgängig quantifizierten Bezugsrahmen mit einem Zeitfenster von drei Monaten gegen die ewigen „Nebel Avalons“ oder die Karl Mays aller Zeiten sich durchzusetzen vermögen.
Und das, obwohl man weiß, dass bis in allerjüngste Vergangenheit die Leserschaften und damit Verkaufszahlen von bedeutenden Büchern stetig wachsen, die von Bestsellern aber nicht bloß schrumpfen, sondern verschwinden.

So wunderbare kleine Bücher wie Amras von Thomas Bernhard oder Murphy von Samuel Beckett würden heute als Nicht-Spitzentitel zwischen den PR-Maschinen für die Marlitts und die Xypsilons unserer Tage und den Massen im Rodeo der Megabestseller totgetrampelten Lesern vom Markt gepustet.
Für die meisten von diesen für die Literatur einzig und allein relevanten Autoren hätte der Buchmarkt heutiger Couleur wohl das Aus bedeutet.


Meine Damen und Herren, ich glaube, der Kranichsteiner Literaturpreis ist, wie seine bisherigen Preisträger weitest­gehend belegen, seiner Ver­pflichtung auf literarische Literatur zweifellos gerecht geworden, deswegen ist es mir auch eine Ehre, diesen Preis entgegenzunehmen und ich bin insbesondere stolz auf diesen Preis und möchte das auch als großes Kompliment an die Jury weitergeben, dass man sich, denn mich verbinden hier mit niemand geschürte Beziehungen, für ein Werk, und nicht für eine Person entschieden hat.
Gerhard Falkner | Hölderlin Reparatur   Gerhard Falkner
Hölderlin Reparatur
Berlin Verlag 2008

Gerhard Falkner   21.10.2009

Gerhard Falkner
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