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Fragmentarische Begrünung

Ein Mailwechsel zwischen Andre Rudolph und Gisela Trahms
Andre Rudolph wurde 1975 in Warschau geboren und lebt in Leipzig. Im Mai las er in Meran und erhielt den Lyrikpreis der Südtiroler Stadt. Bereits beim letzten Mal (2008) ging der Preis nach Leipzig – an Martina Hefter. Rudolph debütierte als Lyriker im letzten Jahr mit dem Titel Fluglärm über den Palästen unsrer Restinnerlichkeit bei luxbooks.
Gisela Trahms: Lieber Andre Rudolph, erst einmal herzlichen Glückwunsch zum Lyrikpreis Meran! Die Jury hob in ihrer Laudatio hervor, dass Ihre Lyrik „präzise Echos unserer Gegenwart“ auffange und ein „ganz und gar heutiges Klangbild“ erzeuge. Diese Gegenwart erscheint in Ihren Gedichten ziemlich zerrupft und immer einen Schritt vor dem Abgrund.

Andre Rudolph: „Zerrupft“ trifft es ganz gut, fürchte ich. Die Jury sprach von „ab­gründiger Leichtig­keit und selbstironischer Verzweiflung“, da finde ich mich wieder. Über den Abgründen hinschlingern und sie wenigstens sprachlich bestehn, dann und wann. – Natürlich fühle ich mich auch irgendwie vor die Aufgabe gestellt, verwüstete und fragmen­tierte Innen­räume sprachlich zu besiedeln, manchmal sogar zu verteidigen, aber das ist im Letzten ein ganz daseins­praktisches Thema: Wie gelingt es, auf verträgliche und fruchtbare Weise mit dir selbst in der Welt zu leben? Da hilft mir weder die Zivili­sations­kritik mit ihrem heimlichen oder offenen, negativen oder positiven Utopismus – noch diese theoretischen Spielchen mit „Innen“ und „Außen“ überhaupt, aus dem Geist des Hegelianis­mus. Aber für das Gedicht kann ich das Material brauchen: Da wird mit „Innen“ und „Außen“ eben gespielt, mit dem Inventar der Romantik, der klassischen Moderne, der postmodernen Zeichen-, Körper- und (Null)Subjekt-Instal­lationen. Aber das theore­tische Material wird in den Bildräumen aus seinen theoretischen Ursprüngen herausbewegt, bis es sich selbst nicht mehr kennt. Und ich glaube, die ver­wüsteten und verbunkerten Ich-Gegenden können immer wieder fragmen­tarisch begrünt werden, bei aller Ödnis, und auch wenn da ziemlich viel Müll überall rumliegt.

G. Trahms: Auffällig sind auch die Märchenmotive in Ihren Gedichten. Ist das eine Kind­heits­faszination?

A. Rudolph: Ich habe den klassischen Weg des Typus ›Junge, der viel liest‹ absolviert, da gehörten Märchen natürlich dazu, und irgendwo zehrt man wahr­scheinlich immer noch von diesen frühen Eindrücken. In den letzten Jahren kam aber nochmal eine ganz neue Beschäf­tigung mit Märchen dazu. Vor allem die Grimmschen Märchen bieten einfach gute Symbolsysteme, um sich an das anzudocken, was manche das kollektive Unbewusste nen­nen. – Im Hauptzyklus des Fluglärm-Buches ist es fast ausschließlich der kleine Binnenzyklus über Schnee­wittchen, den ich aus dem Märchenkos­mos nehme. Und Schnee­wittchen ist ein Typ von Frau, der mir immer wieder begegnet und mich anzieht. Sie laufen ja alle überall herum, die Schnee­wittchen und Dornröschen, die gestiefelten Kater, die Zwerge und Riesen, bekanntlich. Eine Symbollandschaft, die ich als bild­generierende Quelle ebenso brauchen kann wie die griechischen Mythen, die Bibel, und was uns die Geschichte noch an grandiosen Sprach­taten so großzügig überlassen hat.

Andre Rudolph | Fluglärm über den Palästen unsrer Restinnerlichkeit
Andre Rudolph
Fluglärm über den Palästen unsrer Restinnerlichkeit.
Gedichte
luxbooks 2009

G. Trahms: Ihre Meinung zur Verständ­lichkeit von Lyrik?

A. Rudolph: Verständ­lichkeit hört sich nach Ver­stehen an, Verstehen nach Kopf, Kopf in der Kunst tendenziell nach Langeweile. Ich lese Gedichte nicht mit dem Kopf allein und ich schreibe sie auch nicht mit dem Kopf allein. Die kreativen Systeme sind komplex und rätselhaft, ebenso wie der Lektüre­prozess. Ich bin da ganz Hedonist. Das entschei­dende Kriterium bleibt: Setzt mich das Gedicht innerlich in Bewe­gung, oder bleibe ich cool. Ana­lysieren ist auch ganz nett, manchmal, man kann etwas über Techniken lernen, aber das ist für mich etwas anderes als Gedichte lesen. Natürlich gibt es auch Gedichte, die vor allem dem Kopf Freude machen, aber diese Freude ist eine eher reduzierte.
  Das Problem der Verständlichkeit mag theoretisch verhandeln wer will. Ich will nicht. Zum Beispiel in Derridas Entgegnung auf Gadamers Celan-Lektüren ist das Thema so klug verhandelt, dass es für mich Hybris und Energie­verschwen­dung wäre, die Schraube noch eine Windung weiterdrehen zu wollen. Ich kann das nicht, und das Holz hat sowieso schon Risse, weil sich da alle rein­bohren mit ihren verschraubten Hirnen. – Mit diesem Buch, und den Dingen, die Derrida auch sonst über Celan, Kafka, Mallarmé und so weiter schreibt, weiß ich genug. (Und Derrida ist im übrigen selbst ein Künstler, den man besser nicht allein mit dem Kopf liest, sondern mit allen verfügbaren Systemen.)
  Ansonsten gilt für mich ein Satz von Gerhard Falkner: Die Theorie muss man kennen, aber die Sinne müssen sich über sie lustig machen. Das ist ganz meine Position, und ich denke, in einigen meiner Gedichte, wird die Theorie auf eine solche, freudvolle Weise schwindelig gemacht (zum Beispiel die Präsenz­philosophie in: „die präsenz ist ein ›hier‹ “...). Irgend­wie ist dieser ganze Philosophiekram ja auch zum Lachen. Verständlich, unver­ständlich – wen kümmerts? Entweder es leuchtet (egal ob hell oder dunkel), oder es leuchtet nicht.

G. Trahms: Gehen Sie meist von einem isolierten sprachlichen Nukleus aus und versuchen ihn zu entwickeln oder gibt es auch den Reiz des Themas?

A. Rudolph: Ich gehe von einer Zeile, einem Bild, einer Formulierung aus, wenn sie kommt. Und dann schalten sich die kreativen Systeme ein und der ganze Mensch fängt an, sprachlich, seelisch und körperlich zu arbeiten, passiv konzentriert im besten Fall, mit voller Aufmerk­samkeit für die Sprach- und Bild­verläufe, in möglichster Durch­lässigkeit. Wenn sich dieser Prozess in Gang setzt, entsteht eine irrsinnige Körper­spannung, und dann merkst du: Jetzt geht was los. (Ob es dann gelingt, oder nur ein ruinöses sprach­liches Gebilde entsteht, entscheiden die Götter.) Klar, es kann passieren, dass so etwas wie ein Thema am Horizont auftaucht. Und gelegent­lich mag es tatsächlich der Reiz des Themas sein, der mich zieht. „alethe os“ scheint eine Lagebeschreibung für den deutschen Osten im Jahr 2004 zu sein. Trotzdem habe ich es nicht geschrieben, um eine solche Lage­beschreibung zu liefern. Es ergab sich eben so, im Prozess.

G. Trahms: Würde es Sie reizen, auch einmal Prosa zu schreiben?

A. Rudolph: An sich finde ich Les Murrays Zeile: „Ich glaube nicht an Prosa“ einen für viele Lyriker, und in Grenzen auch für mich, gültigen Satz. Aber wenn du dann Beckett liest zum Beispiel, oder Kafka, kannst du das alles wieder vergessen. Ich selbst habe noch nie gelingende Prosa geschrieben, bislang allenfalls eine Ahnung davon­getragen, wie es sich anfühlen könnte, und gebe die Hoffnung nicht auf, irgendwann einen Ton zu finden, mit dem ich mich auf der sprach­lichen Langstrecke austoben kann. Eigentlich schwebt mir eine lyrisch-epische Mischform vor. Vielleicht schreibe ich aber auch einen wenig raffinierten Selbst­ent­blößungsroman, ich weiß es nicht.
  Vorhin habe ich in der Buch­handlung in die deutsche Fassung des hochgelobten Buchs von David Foster Wallace reingelesen und gedacht: Warum nicht: Horizont­öffnende sprachliche Drehungen in jedem dritten Satz. Irre gut. Aber willst du das wirklich ganz lesen? Auch mit Pynchon geht es mir so, vor dem ich mich jederzeit verbeuge. Fürs eigene Schreiben aber vielleicht doch eher Philip Roth und Don DeLillo. Aber auch da das Frage­zeichen: Wirklich, ja? – So? Eher nicht. – Man muss halt probieren. Ein paar Beispiele von brauchbarer Prosa von DichterInnen gibt es ja auch in meiner Generation. Marion Poschmann zum Beispiel. Es sind aber eben doch ganz verschiedene Disziplinen, und mit Prosa habe ich noch zu wenig Erfahrung. Mal sehen.
Gisela Trahms   19.05.2010   
Gisela Trahms
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