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Dagmara Kraus

kummerang

nach vielen zunden, vielen abern
Eine Begegnung mit der Lyrikerin Dagmara Kraus und ihrem Debüt kummerang

Eine Begegnung
  Dagmara Kraus
kummerang
Gedichte
Berlin: kookbooks 2012
80 S., 19,90 €


Die Kirchenglocken lärmen gewaltig, dennoch schläft die westfälische Stadt an diesem Sonntagmorgen noch. Dagmara Kraus strahlt und ist überaus wach. Vor ein paar Tagen ist sie aus New York zurückgekehrt, wo sie Joshua Daniel Edwin von der Columbia University bei der Übersetzung ihres Gedichts „kummerang“ zur Seite stand. Der „kummerang“ wird in der englischsprachigen Welt als „gloomerang“ durch die Luft sausen, da legt der Kummer sozusagen die Seufzer ab und hüllt sich in un­heil­schwangeren Glanz.

Wer Kraus' Gedichten zum ersten Mal begegnet, ist geneigt, sie ihres Voka­bulars wegen für unüber­setzbar zu halten. Das Gedicht „genfer see“ etwa leitet er­war­tungs­gemäß den Blick übers Wasser, über Schiffe und Möwen. Doch nicht von Booten ist die Rede, sondern von „pardune“, „bilge“, „tartane“, „schlenge“ – keine Neo­logis­men, sondern maritimes Fach­vokabular, wie die Landratte googelnd ent­schlüsselt. Um sich am Ende zu fragen, wie wichtig die neu gelernten Bedeu­tungen über­haupt sind. Ob die Ent­schleuni­gung des Lese­prozes­ses durch Rätsel­wörter das Ziel ist. Und was für eine Rolle die Tatsache spielt, dass Elisabeth von Österreich auf der Genfer Ufer­promenade von dem bettelarmen Luigi Lucheni mit einer Feile erstochen wurde. Zwar düstert ein „totmann“ und eine Leiche wird auf­ge­bahrt. Dennoch spielen die histo­rischen Hinweise eher Versteck als Zeigefinger. Distanz statt Drama, Andeu­tung statt Gemälde, Collage statt Ge­schlos­sen­heit: das versteht sich, als Regel des poeti­schen Ver­fahrens, heute von selbst. Statt der bis zum Über­druss betex­teten kaiserlichen Ikone weitere Verse an den Rocksaum zu heften, lenkt die Autorin das Interesse auf Wörter, die wie fremd­artige Schwimm­körper gegen­einander klackern („möwengepudel / kostal vor der bilge“).


Dagmara Kraus | Foto: Trahms
Auf Verständlichkeit seien ihre Texte nicht aus, sagt Dagmara Kraus. Viel­mehr seien sie „laut ge­schrie­ben“ und soll­ten auch laut gelesen werden. Die Wörter finden zu­ein­ander über den Klang. Bei Le­sungen wird sie oft gefragt, ob es eine CD dazu gebe, man wüsste ja sonst nicht, wie die Gedichte zu lesen seien. Aber ihre Sprech­weise geben die Gedichte deutlich vor, das schafft auch jeder allein auf dem häus­lichen Sofa. Und wer auf dem inneren Ohr noch nicht ganz ertaubt ist, spürt mit Ver­gnügen die laut­lichen Reize, das Schmei­cheln und Streicheln oder Zuschla­gen, je nachdem. „kirtags pardune“ – das klingt, bei bloß geahnter Se­mantik, wie eine dunkle Ver­heißung. Sie zeigt per Halbreim auf die „buhnen“, die uns „die reede lecken“. Mehr­deutig­keiten, Asso­nanzen, Alli­terationen, Binnen­reime treiben auf­einander zu und wieder fort, kausale Bezie­hungen werden einfach gedreht. Auch das Druck­bild spricht: „genfer see“ besteht aus Ter­zinen, die an eine flat­ternde Fahne erin­nern, der „kummerang“ bumerangt über die Seiten und kehrt wieder zurück. Das erinnert an Dada, an konkrete Poesie. Gefragt, ob sie sich in dieser Tradi­tion sehe, antwortet Dagmara Kraus nur zögernd. Lieber nennt sie Vorbilder ganz anderer Art: Christine Lavant zum Beispiel.

Kraus wurde in Wroclav geboren und sprach aus­schließ­lich Polnisch, bis sie 1988 mit sieben Jahren nach Deutsch­land kam. Von einem Tag auf den anderen in eine unver­ständliche Klang­welt versetzt, durchlief das Kind zum zweiten Mal den Prozess der Sprach­aneig­nung. Diese Erfah­rung bestimmt noch heute Kraus' poe­tische Arbeit. Immer noch liest und liebt sie Wörter­bücher und ist fasziniert von Dia­lekten und Fach­idiomen, von Rot­welsch und Jiddisch bei­spiels­weise. Als Sammlerin, die Gedichte „baut“, hält sie Ausschau nach Sprach­material, das Bedeu­tungen konzen­triert und generiert. „Epoptik“ beispiels­weise: Goethe benutzt den physika­lischen Terminus in seiner Farben­lehre, „Epos“, „Epik“, „Optik“ klingen an, aber natürlich auch „Pop“, das dem Wort seinen munteren kleinen Knall beschert. Ein zauberhaftes kleines Gedicht trägt das Wort im Titel („eratos kleine epoptik“), die erste Strophe lautet:

im grastaft,
im zitzkattun: die geglückte
käferkaptur

Ganz sinnlich ist das, sommerlich heiter und klangsatt. Unbefangen tauscht Kraus die Ebenen, wechselt von Gelehrten­sprache zu Kalauern, scheut weder Satire noch Slam – alles ist erlaubt, kann benutzt und trans­formiert werden. Erschöpfend im mehr­fachen Sinn wird das vorgeführt in dem langen Titelgedicht, einer Art Box, bis zum Bersten gefüllt mit dem, was sich zu „kummerang“ assoziieren lässt. Der Kummer verliert da seine Schwere. Über­haupt durch­wandern diese Gedichte eher die Sprache mit ihren viel­fachen Tröstungen als die ver­worrenen Zustände, in denen die Sprechenden fest­stecken. Es gibt Glanzstücke an Witz und Erotik, „voyeuse klinkt nicht“ bei­spiels­weise, wo fröhlich durchs Schlüsselloch gespäht und zeitgemäße Liebes­gewohn­heiten geschildert werden: „die osrams aus und zack.“ So ist es, und nicht unbedingt ein Grund zur Klage.

Spricht sich in solchen Texten ein zur Identifikation ein­ladendes Subjekt aus, was wir bei Liebes­gedich­ten ja irgend­wie immer noch erwarten? Kraus antwortet, sie wisse es nicht, doch so, wie sie es sagt, klingt es eher nach Nein. Kein Ich also, verrätselte Semantik, Ver­ständ­lich­keit beiseite gelassen: ein harsches Konzept, wie es scheint. Aber ein ganz eigenes, nach­drück­liches und loh­nendes. Der Gott der Dicht­kunst, im ersten Gedicht mit „ey phoebus“ ekstatisch angerempelt und mit Bitten berannt („hymne mich“), hat seine Gunst reichlich gewährt.
Gisela Trahms    04.07.2012   

 

 
Gisela Trahms
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