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Ein Gedicht ist modern,
wenn es der Denkgenauigkeit seiner Zeit entspricht

Gespräch mit Kathrin Schmidt
Kathrin Schmidt wurde 1958 in Gotha geboren. Sie studierte Psycho­logie und arbeitete anschlie­ßend als Diplom­psychologin, Re­dak­teurin und Sozial­wissen­schaft­lerin. 1982 ver­öf­fent­lich­te sie ihren ersten Lyrik­band. Seitdem erschienen drei weitere Gedicht­bände und vier Romane. Kathrin Schmidt erhielt zahl­reiche Preise, darunter den Anna-Seghers-Preis, den Leonce-und-Lena-Preis, den Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb und den Deutschen Kritikerpreis. Jüngst erhielt sie den Preis der SWR-Bestenliste. Sie lebt in Berlin.
Kathrin Schmidt | Du stirbst nicht
Kathrin Schmidt
Du stirbst nicht
Roman
Kiepenheuer & Witsch 2009
Walter Fabian Schmid: Liebe Kathrin Schmidt, Sie haben mittler­weile vier Romane und vier Ge­dicht­bände veröffent­licht. Würden Sie sagen, dass eine Doppel­begabung dazu gehört, Lyrik und Prosa gleicher­maßen zu be­herrschen?

Kathrin Schmidt: Da habe ich mir nie Gedanken gemacht, ob das eine Doppelbegabung erfordert. Ich habe ja ausschließlich mit Lyrik begonnen. Eigentlich hatte ich Gedichte immer im Kopf; ob ich nun ging, stand, Windeln wusch oder Essen kochte. Ich brauchte sie dann nur noch hin­zu­schreiben. Wenn die Gedichte einmal auf­ge­schrieben sind, dann ändere ich auch nichts mehr daran.

Auf Prosa wäre ich gar nicht gekommen, obwohl ich schon immer auch Geschichten im Kopf hatte. Aber es reichte mir anfangs offenbar, sie für mich zu haben … Meinen ersten Roman habe ich 1986 begonnen, als ich einen Sonderkurs am Literaturinstitut Leipzig belegt hatte. Neben Fächern wie Sozialistische Landwirtschaft oder Jugend­forschung gab es auch ein Prosaseminar, für das ich diese ersten dreißig Seiten entwarf. Ich habe das Ergebnis dann dem damaligen Verlag vorgestellt, der mir zwar eine Option darauf gab, aber das Ende des Romans, einen Ballonflug nach werweißwohin, nicht akzeptierte. Daraufhin habe ich das erst einmal wieder in der Versenkung verschwinden lassen und mich weiterhin auf Gedichte konzentriert.

Zwar sagt man jetzt meinen Romanen immer nach, dass sie lyrisch seien, in Bezug auf die Doppelbegabung denke ich aber, dass das in meinem Fall eigentlich ein Glücksfall war. Ich konnte mich an Gedichten schulen und kam später zu einer Art von Prosa, die die Großgeschwätzigkeit schon los war.

W. F. Schmid: Welche unterschiedlichen Fähigkeiten braucht man, um Lyrik zu schreiben oder eine lange Erzählung zu verfassen?

K. Schmidt: Da ich immer zu unterschiedlichen Zeiten Lyrik und Prosa schreibe und ich mir darüber keine Rechenschaft ablege, weil das bei mir zu einer Art Selbstzensur führen würde, kann ich das gar nicht so richtig beantworten. Ich schreibe natürlich anders Prosa als Lyrik. Bei der Prosa brauche ich viele Stunden, die ich bei der Lyrik nicht brauche.

Prosa ist eben anders: Man braucht ein großes zeitliches Stück, in dem man auch viel denkt, wild denkt und anschließend die Hand­lungs­fäden verwebt und entlanggeht. Das ist schon was anderes als Lyrik. Obwohl es bei mir auch Gedichte gibt, die kleine Erzählungen sind. Trotzdem ist das eine andere Art des Sprechens.

Beim Schreiben von Lyrik kommen mir die einzelnen Worte immer wie Blasen vor, die kleine Türchen haben, in die man reingeht, und wenn man drin steht, dann hat jedes Wort wieder andere Türchen, die in neue Blasen führen. Das ergibt einen Bedeutungsraum, den man mit der Prosa natürlich nicht erschließen kann.

W. F. Schmid: Wenn Lyrik und Prosa bei Ihnen zu getrennten Zeiten entstehen, findet dann überhaupt eine Beeinflussung der beiden Sphären statt?

K. Schmidt: Ja. als wir den flickenteppich, das letzte Gedicht in Flussbild mit Engel, war zum Beispiel der Ausgangspunkt, an dem ich mich wieder an den Romanbeginn von vor zehn Jahren erinnert habe. Ich packte ihn wieder aus und schrieb die restlichen 400 ­Seiten zu den bestehenden 30 hinzu.

In der Gunnar-Lennefsen-Expedition gibt es auch Texte wie den über die Springspinne oder Passagen, die von der Interpunktion und der Orthographie aus dem restlichen Text rausfallen. Die entstanden an Punkten, an denen ich einfach nicht mehr weiter kam mit dieser Sprache, die man später barock nannte. Ich wollte mich erholen davon, einfach was ganz anderes, was ganz knappes, und was lyrisches in dem Sinne. So stelle ich mir die Beeinflussung schon vor.

W. F. Schmid: In welchem Genre fühlen Sie sich wohler?

K. Schmidt: Natürlich in der Lyrik. Ich habe einem lyrischen Text gegenüber ein ganz anderes Gefühl von Sicherheit. Bei der Prosa weiß ich nie, wie es ausgeht, wie es ankommt und ob es überhaupt was taugt. Wohingegen ich das beim Gedicht sehr gut abschätzen kann.

W. F. Schmid: „Was ist ein Gedicht?“, fragt sich Helene Wesendahl in Ihrem neuen Roman Du stirbst nicht, um sich den Schreibprozess wieder bewusst zu machen. Wie würden Sie diese Frage beantworten?

K. Schmidt: Ich habe ja viele Jahre keine Gedichte geschrieben. Das ging nicht nach dem Aneurysma. Ich habe es im ersten Jahr danach zwar noch mühselig versucht, aber es ging einfach nicht.

Vor fast zwei Jahren hatte ich dann ein sehr einschneidendes Erlebnis: die Lektüre von Ron Winkler. Das war für mich so etwas Umwerfendes. Ich hatte eine Lesung mit ihm und Ulrike Almut ­Sandig im Oktober 2007 in Greifswald – ich habe natürlich alte Gedichte gelesen, neue gab es ja nicht. Ron Winklers Gedichte haben mich sofort gepackt. Ich wollte ihnen auf die Schliche kommen. Ich habe mir seine Gedichtbände gekauft und verstand durch diese Lektüre wieder, wie man ein Gedicht schreiben kann.

Ich fühlte mich so wohl, mich beim Versuch ertappt zu haben, selber wieder Gedichte herzustellen. Das waren dann so Moment­aufnahmen mit angeschrägten Wörtern. Ja, ein gutes Gedicht ist für mich eine Momentaufnahme. Eine, die vorne und hinten offen ist. Ein Gebilde, das wir wie an einer Schnur sehen können, an der es auch noch verschiebbar ist …

Ich habe da eher ganz abstrakte Vorstellungen als zum Beispiel inhaltliche. Wie man die Abstrakta dann mit Sinn füllt, das ist die zweite Frage. Das passiert bei mir eher intuitiv. Ich denke da wenig drüber nach; aber dann kommt ganz plötzlich ein Kick oder ein Knick, wo etwas wegspringt oder einen etwas anspringt.

W. F. Schmid: Braucht man diese Abstraktion, aber auch Reduktion und Sprachkompension der Lyrik als Ausgleich zur Prosa, wo man mehr vermittelnd arbeiten muss?

K. Schmidt: Für die Zeit vor dem Sprachverlust muss ich schon sagen, dass es so gewesen ist. In den letzten Jahren hat sich das aber nicht so gezeigt. Ich hatte zwar immer große Lust auf Gedichte, aber ich wusste, dass ich das nicht kann. Während ich vorher die Wörter vom Baum pflücken konnte, so muss ich sie jetzt suchen. Das ist ein anderes Schreiben, als es vorher war. Obwohl der Gedichtband, den ich vorletztes Jahr im Herbst begonnen habe, fertig ist und im nächs­ten Frühjahr erscheinen wird, weiß ich noch nicht so genau, wie das weiter geht und wie das ausgeht. Für mich ist eine völlig neue Schreibsituation entstanden. Das finde ich aber ganz spannend.

W. F. Schmid: Über die zukünftigen Gedichte weiß ich natürlich nichts. Aber wenn ich mir die bisherigen Gedichte anschaue, dann sind die ziemlich streng gebaut – sie arbeiten beispielsweise auch viel mit Daktylen. Würden Sie sagen, Sie brauchen diese Formstrenge? Gibt sie den Gedichten ein Rückgrat?

K. Schmidt: Es ist mit Sicherheit so. Ich nehme mir die Formstrenge aber nicht bewusst vor. Ich setze mich nicht hin und sage: „Ich will im Daktylus schreiben.“ Das ist eine Art, die aus dem ­Sprechen kommt. Ein Gedicht ist immer auch ein tönendes, ein rhythmisches Gebilde. Was mir bei dem einzelnen Gedicht dann erst auffällt, wenn ich es lese und wenn ich es klanglich im Ohr habe. Wenn ich das Gedicht fertig einschätze, dann ist es sicher so, dass die strenge Form ein starkes Rückgrat, ja, das Grundgerüst ist für ein Gedicht.


W. F. Schmid: Würden Sie sagen, dass es der derzeitigen Lyrik an diesem Rückgrat, an Formbewusstsein fehlt?

K. Schmidt: Ich fühle mich nicht kompetent genug, das zu bewerten, weil ich noch dabei bin, mir die Lyrik der letzten Jahre zurück zu erobern. Darauf wäre ich aber nicht gekommen, dass es der jungen Lyrik an Formstrenge fehlt. Es ist jedoch ganz sicher so, dass mir beispielsweise Gedichte von Anja Nioduschewski vom Textrhythmus her viel näher sind als Texte von Katrin Marie Merten, die ich keinesfalls für schlechter halte! Das hat auch mit dem Rhythmus und mit dem Metrum zu tun.

W. F. Schmid: Wird die Lyrik als eigentliche „Königsdisziplin“ zu sehr von Prosaformen verdrängt?

K. Schmidt: Das ist doch schon ewig so; das ist doch ein altes Ding. Wenn ich sehe, was Sie und andere kleine Verlage so machen, finde ich das ganz wunderbar; zu sehen, dass sich eine Gegenszene entwickelt. Das halte ich für ganz wichtig, dass man eine Gegen­öffentlichkeit hat.

W. F. Schmid: In Ihrer Lyrik, aber auch in Ihren Romanen, gehen Sie beispielsweise durch Wortschöpfungen und Wortverdrehungen sehr spielerisch mit der Sprache und mit dem Wortmaterial um. Ist der „Buchstabenspielplatz“ ein Ausdruck von Sprachskepsis oder Sprach­­vertrauen?

K. Schmidt: Ich würde mich nicht als sprachskeptisch bezeichnen. Die Neuschöpfungen ergeben sich bei mir ganz von selbst, wenn sie klanglich in einen Text passen. Solche Formen gibt es aber auch in der Prosa, sogar in der Alltagssprache. Generell ist doch schon die Alltags­sprache ein Hort der Kreativität.

W. F. Schmid: Ihre Gedichte sind oft geballte Kraftpakete, aus denen Zorn und Vergeltung spricht. Kann die Lyrik die Kraft besser kompensieren als die Prosa?

K. Schmidt: Das ist weniger eine Frage der Differenz zwischen Prosa und Lyrik als eine Frage der Differenz zwischen meinem Alltagsleben und meinem Schreibleben. Eigentlich glaube ich, ein sehr duldsamer, genügsamer, ein sehr ausgeglichener und liebevoller Mensch zu sein. Doch irgendwo muss ich hin mit meinem Zorn. Wenn Sie sagen, dass meine Gedichte auf Vergeltung aus sind, dann freut mich das eigentlich, weil ich mir das als Person überhaupt nicht zutrauen würde.

W. F. Schmid: In Königs Kinder sagt Marl: „Deine Poesie, Marona, kann einen aber auch erschlagen“. Muss man sich als Lyriker auf die Finger klopfen, damit man im Roman nicht zu viele, zu starke Bilder verwendet?

K. Schmidt: Ich nehme mir ja nicht vor, metaphorisch zu schreiben. Das ist eine Art und Weise, die sich von selber ergibt. Wenn ich einen Roman beginne, weiß ich eigentlich, dass ein anderes Maß an Meta­phorik da sein muss als bei einem Gedicht. Ich denke, dass ich von vornherein mit diesem Wissen in den Schreibprozess gehe und dass sich während des Schreibens diese Frage für mich gar nicht mehr stellt.

Allerdings muss ich hier auch wieder unterscheiden zwischen der Zeit vor dem Aneurysma und jetzt. In der Gunnar-Lennefsen-Expedi­tion habe ich die Metaphorik schon noch forciert betrieben. Bei meinem neuen Roman ist das überhaupt nicht mehr der Fall. Du stirbst nicht hat aber auch einen ganz anderen Zugang. Das Thema Sprach­verlust kann ich nun einmal nicht mit metaphorischen Fügungen schaffen, sondern nur direkt aus dem einfachsten Sprachgebrauch heraus. Man kann auch sagen, dass dieses Buch für eine Zäsur steht.

W. F. Schmid: Ihre Romane kennzeichnet eine breite Fabulierlust. Genießen Sie die freiere epische Weite im Gegensatz zur engen, strengen lyrischen Form?

Kathrin Schmid | Hodd
Kathrin Schmid
GO-IN der Belladonnen
Gedichte
KiWi 2000
K. Schmidt: Ich gebe zu, dass ich mir bei manchen Roman­ab­schnit­ten gedacht habe: „Mensch, der Roman muss aber jetzt noch ein bisschen länger werden.“ Und dann kommen so Spinnereien, die einen Roman furchtbar zukneten und erschlagen können. Der Gunnar-Lennefsen-Expedition zum Beispiel hätte ein rigider Lek­toren­­strich sehr gut getan. Aber den hat es nicht gegeben. Der Roman ist genauso gedruckt worden, wie ich ihn geschrieben habe. Überhaupt stoße ich auf relativ wenig Widerstand bei Lektoren. Ich weiß nicht, ob ich da was falsch mache. Das, was Sie Fabulierlust nennen, ist etwas sehr Gefährliches; man kommt vom Hundertsten ins Tau­sendste und produziert viel Überflüssiges. Ich wünschte mir eigentlich, dass ein Lektor mir da mehr auf die Finger klopft.

W. F. Schmid: Vor allem in der Gunnar-Lennefsen-Expedition muss ich feststellen, dass eigentlich jeder Satz eine neue Geschichte aufmacht. Irgendwie kommt mir das vor wie eine Wunderkiste, aus der viele bunte Geschichten herausspringen. Kann man aber vielleicht auch sagen, dass das aus der lyrischen Arbeit kommt, wo man nicht nur auf begrenztem Platz arbeitet, sondern sich aus der Begrenzung heraus mehrere Zusammen­hänge erschließen?

K. Schmidt: Ja, da ist bestimmt eine Verwandtschaft. Bei der Prosa ist es so, wie Sie eben gesagt haben, dass da die Geschichten aus den einzelnen kleinen Kästchen sprießen. In der Lyrik sehe ich das eher so, dass die Bedeutungen sprießen. Die Bedeutung, die ein Wort hat, die ist so schillernd; sie geht über verschiedene Wörter und verschiedene Stadien von Wörtern. Ich finde das ungefähr so, wie wenn Sie sagen, dass aus einer Seite Prosa einzelne Geschichten springen. In der Lyrik ergeben sich analog einzelne Bedeutungen von Wörtern und erzeugen eine Art Bedeu­tungs­trauben­gebilde.

W. F. Schmid: Ihre Prosa ist geprägt von einem erkennbaren Rhythmus und einem hohen Grad an Sprachreflexion. Müssen Sie ei­gentlich die Sätze im Roman auch bauen wie Verse oder sind die intuitiv?

K. Schmidt: Bei der Gunnar-Lennefsen-Expedition war es noch fast ausschließlich Intuition. Bei den nächsten Romanen war es dann nicht mehr so. Ich schreibe zwar immer noch intuitiv erst einmal alles auf, aber ich stelle dann noch einmal einzelne Sätze um und nehme Wörter raus.

W. F. Schmid: Dass das Vertrauen ausschließlich in die Intuition in den Nachfolgeromanen nachgelassen hat, merkt man. Da steckt eine intensive, detaillierte Recherche hinter. Wie sieht das in der Lyrik aus? Muss man da überhaupt recherchieren?

K. Schmidt: Also für meine Art Lyrik muss ich nicht recherchieren. Ich kann mir allerdings gut vorstellen, dass es andere Autoren gibt, die das durchaus machen.

W. F. Schmid: In Ihrem neuen Roman finden sich viele Parallelen zwischen Helene Wesendahl und Kathrin Schmidt. Neben dem Sprach­verlust weist Helene eine ähnliche Biographie auf wie Sie: Sie ist, im Jahr 2002, 44 Jahre alt, sie ist Schriftstellerin und hat als Psychologin gearbeitet. Inwiefern ist der neue Roman autobio­graphisch?

K. Schmidt: Das ergab sich für mich ganz einfach: Ich habe eigentlich die ganze Krankheitsgeschichte nach dem Erwachen aus dem Koma eins zu eins abgebildet. Auch wenn ich davon abstrahieren wollte, konnte ich kein Fitzelchen wegnehmen, weil sie einfach da war als Erfahrungshintergrund.

Die Geschichte, die sich dann darum rankt, die ist natürlich erfunden. Ich hatte nie vor, mich von meinem Mann zu trennen. Auch eine Liebesgeschichte zu einer Transsexuellen gab es so nicht. Insofern ist das, was sich über die Krankheitsgeschichte hinaus ergibt, überhaupt nicht mehr autobiographisch.

Wir haben beispielsweise lange überlegt, ob Helene überhaupt Schrift­stel­lerin sein muss. Das ging aber einfach nicht anders. Die exis­tentielle Bedrohung dieses Sprach­verlusts war so evident, dass es für mich undenkbar war, sie etwas anderes sein zu lassen als Schrift­stellerin.

W. F. Schmid: 2002 war also Ihr Sprachverlust. 2005 kam aber schon Ihr nächster Roman Seebachs schwarze Katzen. Sie waren also spätestens 2004 damit fertig. Wie kann man sich nicht nur die Sprache, sondern auch das Schreiben wieder so schnell erarbeiten?

K. Schmidt: Ich weiß selbst nicht mehr, wie das ging. Noch neun Monate nachdem das Aneurysma geplatzt ist, hatte ich wenige ­Momente, in denen ich wirklich bei Bewusst­sein war. Die Kon­zen­trations­zeiten waren manchmal nicht länger als eine halbe Stunde. In dieser Zeit habe ich mich aber um so stärker reingekniet. 2004 hatte ich dann den ersten Sti­pendien­aufenthalt meiner damals schon langen Laufbahn. Ich habe in Wiepersdorf den Roman ­ge­schrieben. Da war ich einfach losgelöst von den alltäglichen Belas­tungen. Es tat mir dort unheimlich gut, mich nicht für die Familie verant­wortlich zu fühlen.

Aus meiner heutigen Sicht hätte dieser Roman gar nicht ver­öffentlicht werden müssen. Ich finde, dass er klappert und dass er schwach ist. Ich stehe trotzdem dazu, weil ich mich an ihm aus dem Sumpf der Sprachlosigkeit gezogen habe. Ich war zu diesem Zeit­punkt aber noch sehr zerrissen und unent­schieden über meinen Schreibstil. Deswegen ist es auch so ein komisches Konglo­merat.

W. F. Schmid: Helene Wesendahl zieht sich in Du stirbst nicht auch durch das Schreiben aus „dem Sumpf der Sprach­losig­keit“ und ­findet im Prozess des Schreibens wieder zurück zur Sprache. War das Schreiben eine Art Therapie?

K. Schmidt: Nein. Ich habe das nicht als Therapie angesehen. Ich wollte einfach wieder schreiben; ich wollte einfach keine Rente. Schreiben als Therapie, das würde ich nicht unterschreiben. Ich ­verstand mich ja auch als professionelle Schriftstellerin. Schreiben als Therapie ist behaftet mit Möchtegern-Schreiben. Ich wollte nicht um jeden Preis wieder schreiben, sondern richtig schreiben können.

W. F. Schmid: Haben Sie durch diesen Unfall und das Wieder­erlernen der Sprache eine offenere Kommunikation oder eine sensiblere Sprach­reflexion entwickelt?

K. Schmidt: Vorher war ich sehr darauf bedacht, mich mit dem, was ich sagte, abzusichern. Das führte dann meistens dazu, dass ich überhaupt nichts gesagt habe. Ich war sehr auf Absicherung und Rückzug bedacht, damit mich niemand angreifen kann. Das ist jetzt völlig weg. Mein Mann sagt: „Endlich bist du normal geworden.“ Meine Kinder sagen: „Mensch, endlich sagst Du es so, wie Du es meinst.“ Ich denke, dass ich dadurch wirklich viel freier sprechen kann. Obwohl es mir selbst natürlich schwerer fällt als vorher, weil ich nach Wörtern suchen muss. Ich spreche zwar kontrollierter als vorher, aber trotzdem freier.

W. F. Schmid: Ein Prinzip, das auch wieder auf die Lyrik zurück­­­fallen wird? Sind in Ihrem Lyrikband im nächsten Jahr dann auch geöffnete Formen freieren Sprechens zu erwarten?

K. Schmidt: Nein. Ich habe wirklich das Gefühl, dass ich an den Texten, die ich in meinem Band aus 2000 für die gelungensten hielt und die mir die meiste Zukunft versprochen haben, anknüpfen konnte. Ich sehe das als Kontinuum, als ein Ansetzen an den Schreib­prozess von damals.

W. F. Schmid: Ich bin gespannt auf die neuen Gedichte und bedanke mich für das Gespräch.

Kathrin Schmidt im Poetenladen

  Erschienen in poet 7
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Das Gespräch erschien zuerst in poet nr. 5 | 22.09.2009

W. F. Schmid   (Die Seite wurde zwischenzeitlich aktualisiert.)

 

 
Walter Fabian
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