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LYRIK-KONFERENZ   1

„Vielleicht hilft es uns“, schrieb Dieter M. Gräf in seiner Eröffnungsmail an Alessandro De Francesco, „wenn wir uns über post-poésie Gedanken machen, klarer zu sehen, wo wir derzeit stehen?“ Beide Dichter beschäftigen sich mit Entgrenzungen, mit anderen Medien, und haben in einer Korrespondenz für den poetenladen ihr Verständnis von zeitgenössischer Dichtung vorgebracht und weiter entwickelt. Nun werden sich weitere Dichter und Lyrikexperten äußern.
Lucas Hüsgen  
Lucas Hüsgen, Jahrgang 1960, studierte in Utrecht, Amsterdam und Nijmegen, wo er heute lebt, ver­öffentlichte Essaybände bei Uitgeverij Vantilt, Gedicht­bände sowie Romane bei Uitgeverij Querido. Zuletzt erschienen dort Deze rouwmoedige schoon­heid (2005) und Plooierijen van geschik (2007); bei Vantilt Wat een romantische droom (2007). Musik­projekte; Übersetzungen aus dem Koreanischen und Deutschen.

Erstes Statement | Lucas Hüsgen

In einer Hoffnung auf Wildnis
Herzlichen Dank für die freundliche Einladung, mich am Gespräch zu beteiligen, die ich gerne annehme.

Den Faden greife ich auf bei Dieter M. Gräfs Erwähnung der hiesigen Postmodernismusdebatte. Die ist mittlerweile schon wieder abgeflaut, und man sollte ihr Gewicht auch nicht übertreiben. Oft war nicht mal klar, in welchem Sinn der Postmodernismusbegriff überhaupt verwendet wurde. Mal erschien er als rein literaturanalytisches oder auch sozialkritisches Instru­ment, mal als anthropologische Idealvorstellung, mal als bloße Beschrei­bung einer historischen und kulturellen Lage, und nicht zu übersehen war auch die Verwendung als Schimpfwort für ‚akademistische Kopfgeburt‘. Glück­licher­weise nicht in der von Jos Joosten und Thomas Vaessens verfassten Studie zur niederländischen postmodernen Lyrik, obgleich auch dort der Begriff so weit ausgedehnt wurde, dass es ihm letztendlich an Substanz fehlte.
Auch wenn ich öfter in die postmoderne Ecke gedrängt worden bin, blieb ich gerne auf Distanz, weil ich die unüberwindbaren Gegensätze im post­modernen Diskurs im Auge behalten habe. Ja, der Modernismus ist als allseitiger Befreiungsschlag fehlgeschlagen, aber der Glaube, der Post­modernismus würde uns davon befreien, ist in sich eine blosse Fortsetzung dieses Fortschrittsdenkens. Und wo man sich auf Seiten einer ‚Anything goes‘-Beliebigkeit stellt, wird übersehen, dass Feyerabend diesen Satz gerade nicht zur Legitimierung des kapitalistischen Alltags formulierte. Gerade auch sein theoretischer Anarchismus war Teil eines Programms zur gesellschaftlichen Befreiung, eines Humanismus.

Ich bin der Meinung, dass bei der ganzen Debatte das Kind der Zukunft zu sehr mit dem Badewasser ausgeschüttet worden ist. Wo der Modernismus sich auf die Zukunft richtete, wurde die Zukunft vom Post­modernismus als utopische Gefahr ausgeklammert. So blieben uns nur noch Vergangenheit und Gegenwart. Jetzt aber klopft die Zukunft ernsthaft an die Tür unserer Wirklichkeit. Sie warnt, dass der grosse Befreiungsschlag der menschlichen Sehnsüchte, wie man das 20. Jahrhundert letztendlich doch bezeichnen könnte und woran gerade doch auch die Lyrik teilgenommen hat, sich immer grösseren Gefahren ausgesetzt sieht.
Sowohl Modernismus als auch Post­modernismus zerschlagen sich angesichts der Drohung des Klimawandels, der Zerstörung der Artenvielfalt, der allmählichen zunehmenden und unüberwindbaren Rohstoff­knappheit (an erster Stelle Erdöl, aber es kommt noch einiges auf uns zu) und der hieraus teilweise hervorgegangenen Wirtschafts­krise. Während die Menschheits­kultur dabei war, die nicht-menschliche Wirklichkeit so weit wie es nur ging auszuklammern, plante letztere schon ihren Putschversuch.
Die Frage, was dies für die Lyrik bedeutet, ist meiner Hinsicht nach entscheidend für deren politischen Gehalt. Das heisst aber nicht, dass Lyrik unbedingt politisch sein sollte. Wie es der Welt auch immer ergehen dürfte, die lyrische Sprache bleibt immer noch der Inbegriff der persönlichen Freiheit, und die sollte die Lyrik sich nicht nehmen lassen. Nur ist die Frage, wie sich ein solches Verständnis der Lyrik als freiheitliche Sprache auswirken soll, wenn gerade die wirtschaftliche Freiheit als allseitige Freimachung der Sehnsüchte uns mit einer Unmenge Bedrohungen konfrontiert, die gesellschaftlich tiefe Furchen schlagen dürften.
Andererseits bietet ein Bestehen auf der absoluten Freiheit der Lyrik gerade in einer Zeit der allgegenwärtigen digitalen Transparenz auch die Chance auf eine Art Widerstand, indem wenigstens das Gedicht ein Anrecht behält auf die Privatsphäre, die uns als die angeblich bloßen digitalen Nutzniesser immer tiefgreifender verwehrt wird. Gerade unter solchen Bedingungen darf die lyrische Sprache sich den Weg nach Innen suchen und ganz und gar selber entscheiden, wann sie sich dem Verständigungstrieb preisgibt. So bietet sich auch eine Möglichkeit, die Sehnsüchte in einer Parallelwelt in sich herumkreisen zu lassen, als ginge es gar nicht mehr darum, sie auch materiell zu realisieren.

Und gerade wenn auf diesem Weg das Gedicht dasjenige miteinander vermischt, was von logischer Sicht her nicht zusammengehört, entsteht ein Raum, in dem man sich auch mit der nicht-menschlichen Vielfalt auseinandersetzen kann. Das Gedicht entdeckt, wie die menschliche Vielfalt Teil eines grösseren Ganzen ist, dem sie sich vielleicht in letzter Instanz unterzuordnen hat. Gar zu lange ist die Vielfalt als ein rein kulturelles Phänomen von den Postmodernisten abgehandelt worden, während die natürliche Vielfalt, dieses Alpha und Omega der altehrwürdigen Naturlyrik, sich in der nicht-menschlichen Wirklichkeit immer weiter auflöst. Wo die Präsenz der Welt missachtet wird, darf aber die Lyrik nicht schweigen. So schreibe ich selbst aus einer – übrigens auch von René Chars Lyrik mitgeprägten – Liebe zur Welt heraus, und ich suche dabei nach äusserster Präsenz, in hoch aufgeladener Sprachenergie, als könnten sich so die Gegensätze versöhnen ohne je vollends zusammenzufliessen.
Die Lyrik soll sich ja auch die Sprache der Zerstörung einverleiben, sich mit ihren Wahrheitsansprüchen auseinandersetzen. Es bringt ja nichts, so wie der wichtige niederländische Lyriker H. H. ter Balkt (Jahrgang 1938) dies oftmals praktiziert hat, nur gegen sie zu toben. Um ihrer Anziehungskraft auf die Spur zu kommen, sollte man ihr selber Sprache verleihen, vielleicht sogar ihre Verletzlichkeit ergründen.

Letztendlich ist eine solche Lyrik natürlich wieder völlig hoffnungslos dran. Was sie sich auch immer erträumen dürfte, ihr ist die exekutive Macht zumeist nicht geheuer, wäre es nur weil das Verfassen eines Gesetzestextes weit langweiliger ist als das Schreiben eines Gedichts. Und da dürfen wir frohlocken: weitere Dichter wie Karadzic sollte es in der Welt nicht geben. Dieser Karadzic hat übersehen, dass Ezra Pound dort am interessantesten wird, wo er seinen wirren politischen Auffassungen entrinnt und sich in die Sprache hinein verirrt: da wird der antisemitische Gegner des Wuchers, mitsamt seinen allzumenschlichen Hoheitsansprüchen, von der Sprache vollends überwuchert. Und da entwickelt sich eine Lyrik, als hätte es nie Autoren gegeben.

Eine derart unabhängige Weite in der Sprache zu empfinden und von da aus zu einer spielerischen Einfalt zu geraten – in diesem ganzen Getümmel hält sich bei mir die Lyrik auf, in einer Hoffnung auf eine von der Menschheit unabhängigen Wildnis, die sich irgendwie doch in die tagtägliche Wirklichkeit überträgt.

Nun ja, da bleiben hoffen und schreiben.
Die Lyrik-Konferenz wird an dieser Stelle mit weiteren Teilnehmern fortgesetzt.
22.11.2008    
  1. post-poésie (I)
  2. post-poésie (II)
  3. ästhetisch links
  4. against dualisms
  5. Transfer
  6. (anti)political and transfer process
  7. jetzt
  8. no first class second hand!
  1. Lucas Hüsgen:
    In einer Hoffnung auf Wildnis
  2. Sylvia Geist:
    Finden, Fiebern, Übersehen
  3. Jean-Marie Gleize:
    L'excès – la prose
  4. Noura Wedell:
    Prejudice Perception
  5. Jan Volker Röhnert:
    Poesie und Gedicht
  6. Jayne-Ann Igel:
    Was auf der Hand liegt
  7. Anja Utler:
    Unter dem post-Deckchen
  8. Han van der Vegt:
    The Body Poetic
  9. Tom Pohlmann:
    Entgrenzungen. Oszillationen
  10. Flavio Ermini:
    La passione del dire
  11. Christian Schloyer:
    Tractatus ...
  12. Jérôme Game:
    Poetics of the borders
  13. Jürgen Brôcan:
    „... daß wir können sicher schreiben ...“
  14. Hans Thill:
    Weder Gott noch Metrum
  15. Tom Schulz:
    Anstelle einer Poetik
  16. Norbert Lange:
    Lichtungen