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LYRIK-KONFERENZ   2

„Vielleicht hilft es uns“, schrieb Dieter M. Gräf in seiner Eröffnungsmail an Alessandro De Francesco, „wenn wir uns über post-poésie Gedanken machen, klarer zu sehen, wo wir derzeit stehen?“ Beide Dichter beschäftigen sich mit Entgrenzungen, mit anderen Medien, und haben in einer Korrespondenz für den poetenladen ihr Verständnis von zeitgenössischer Dichtung vorgebracht und weiter entwickelt. Nun werden sich weitere Dichter und Lyrikexperten äußern.
Sylvia Geist
Foto: Oliver Stahmann
 
Sylvia Geist, 1963 in Berlin geboren, lebt bei Hannover, veröffentlichte Lyrik, Übersetzungen, Prosa, Aufsätze und Anthologien und schreibt weiter an ihrem Hauptwerk Periodischer Gesang. Zuletzt er­schien ihre Erzählung Der Pfau (Luftschacht, Wien 2008), demnächst erscheint ebenda ihr Gedichtband Vor dem Wetter. Unter anderem erhielt sie, zusam­men mit Oswald Egger, 2002 den Lyrikpreis der Stadt Meran.

Zweites Statement | Sylvia Geist

Finden, Fiebern, Übersehen – 3 Stichwörter zum Sprachspiel

„Von den ganzen Romanen glaub' ich kein Wort“, diese Redensart benutzte mein Großvater nicht von ungefähr: Geschichten gerieten ihm oft zu Münchhausiaden, fand er aber etwas in Versform vor, wie Schillers Balladen, die er leidenschaftlich rezitierte, nahm er es für bare Münze wie ich, seine gebannte Zuhörerin.

Vielleicht fand er, Glockengießer von Beruf, Vertrautes in der gebun­dene­ren Rede des Gedichts: Rhythmus, Klang, einen Ton, der ihm für das Gesagte bürgte. Möglich auch, dass sein Handwerkergemüt dem in den Versen steckenden Aufwand traute: „Wenn sich einer schon die Mühe macht, wird was dran sein...“ Jedenfalls schien ihm das Gedicht nicht der bevorzugte Ort des Erfundenden zu sein, sondern einer der Findung.

Werden Erwartungen an Poesie dargelegt, erinnert das mitunter an die Stimmung nach der Erfindung des Teilchenbeschleunigers: jetzt wissen wir also, dass es im Universum des Atoms auch Winos und Zinos gibt, doch die Entdeckungen bleiben sonderbar unbefriedigend, offenbaren sie doch nur immer noch mehr Teile. Welthaltigkeit, Genauigkeit, Ökonomie u.s.w. sind, von den Vertretern ganz unterschiedlicher poetischer Ansätze gefordert, Kriterien, die per se ja nicht die eine oder die andere Sprache fordern, geschweige denn das Erzähl- oder das Lautgedicht, also auf ins vermeintliche Paradies Anything-Goes? Da sind wir längst. Vom Simulator der Vorgänge, die wir gerade nicht sehen, wie der neuronalen Sensationen im Schädelinnern, bis hin zum Lack­muspapier gesell­schaft­licher Realitäten kann „das Gedicht“ alles sein, nicht selten ist es en passant ein Testfeld von Theorien. Mit Beliebig­keit hat das nichts zu tun. Nach wie vor „geht“, was bestimmte Kriterien erfüllt, diskutabel wären daher diese noch vor den Strategien zu ihrer Erfüllung (was auch Gelegenheit böte, über – ihrer­seits nicht beliebige – Moden nachzudenken, doch dieser Punkt brauchte vielleicht eine umfas­sendere Erörterung an anderer Stelle.)

Wenn ich das Gedicht als einen Ort der Findung auffasse, lautet meine erste Frage schlicht: Was lässt sich finden? Etwas von Belang, und was wäre das? Von Belang ist für mich, was ich „anlangen“ kann, alles auf der Ebene unterhalb der großen Geschehnisse und Gestalten. Das Ereignis um die Ecke (die kann sich auch in Übersee befinden – eine fremde Umgebung erzwingt keinen veränderten Duktus, wenngleich ein Ortswechsel, vor allem ein längerfristiger, Veränderung befördern kann), Hinz und Kunz, sie sind es, die (an)fassbar, auch angreifbar, zu belangen, sind, sie möchte ich begreifen. Ich wäre froh über jedes Gedicht zur Finanzkrise und bin unfähig, eines zu schreiben, das ist keine Frage der Betroffen­heit, sondern eine des sinnlichen Bezugs. Schreibbar wird mir, was in meinem Erleben der Fall ist. Das schließt Vermittlungen ein, Lektüren, Medien, Hörensagen, aber es bedarf des analogischen Moments, der mich ins Bild setzt, in eines, das bereits vorhanden ist und keineswegs seiner Erfindung harrte, ein zu sehendes (und zu übersehendes) Ready-made. An das letztlich die alten Maßstäbe der Nahr­haftigkeit gelegt werden, der Wider­stands­kraft, des Geschmacks.

Besonders mit letzt­genanntem Kriterium tut man sich schwer, leicht gerät es, siehe oben, unter den General­verdacht der Beliebigkeit. Man operiert nicht mit exakten Größen, tut aber gern so, als täte man es doch. Die Ver­unsiche­rung ist verständlich, dem allgemeinen Sprach­spiel sind im Gedicht weitere Regeln gesetzt, und als Setzungen sind sie anzweifel­bar: „Was könnte man dagegen einwenden? Daß man den Witz dieser Vorschrift nicht einsehe“, heißt es bei Wittgenstein. Als Option, den Witz poetischer Regeln zunächst sich selbst einsehbar zu machen, bleibt die von Wenigen gewagte Mühsal einer Poetik, die die Notwendigkeit der Setzungen offenlegt oder ihre Gewachsen­heit abzeichnet, wobei das Wagnis einen Januskopf zeigt. Die eigene Schreib­bewegung zu betrachten, zwingt zu einer gegenläufigen Bewegung, die im Analyseprozess auch jene Kräfte zu dekonstruieren hat, die sie antreiben.

Inwieweit das Spannungsverhältnis zwischen Setzung und Gewachsen­heit einer poetischen Sprache sich fassen lässt, bleibt aus meiner Sicht eine zu lösende Frage, wenngleich es dazu in den letzten Jahren vielerlei Anregendes zu lesen gab (u.a. im Briefwechsel zwischen Franz Josef Czernin und Hans-Jost Frey, „Briefe zu Gedichten“). Die „Unlesbarkeit der Welt“, von der Inger Christensen spricht (im Poetenladen aus dem gegebenen traurigen Anlass kürzlich zitiert), bezieht das arbeitende wie das sich bei der Arbeit beobachtende Ich mit ein – Heisenberg im Quadrat. Damit soll keiner süßen Ziellosigkeit das Wort geredet, sondern an eine Schwierigkeit erinnert werden, mit der sich auch Moralphilosophen oder Hirnforscher plagen; auch sie müssen die sich einstellenden Unschärfen zu Protokoll nehmen, um der Grenze zwischen Schau und Legitimation, Lenkung und Dynamik Rechnung zu tragen.

Das zweite Gesicht des Januskopfs scheint das dort zu bezeugen, wo das Gedicht „nach dem Bild“ eines Konzepts quasi re-produziert wird. Dieses Vorgehen ist weder naiver noch raffinierter, auch der sich eines analytischen Konzepts begebende Ansatz bedeutet natürlich ein Vorgehen, einen Plan, der lediglich unter anderem Vorzeichen wirkt. Bleibt man beim Gedanken der Findung, ließe sich vielleicht ersteres als zufällige - und auf das, was einem zufällt, bauende -, letzteres als provozierte umschreiben. Vermutlich ist ein fruchtbarer Arbeitsprozess auf Dauer nicht ohne die Wechselbeziehung zwischen beiden Polen zu haben, obwohl das sogenannte Einzelgedicht (das ja auch in einem Werkkontext zu lesen ist) eher mit der Disposition des Zufallens zu korrelieren scheint, während die Arbeit z.B. in Zyklen, die ich dem von Alessandro de Francesco und Dieter M. Gräf verwendeten Begriff „Makro­text“ zuordne, auch den Zeitraum für ein Ineinander­greifen poeto­logi­scher Betrachtung und des Erprobens einer Konzeption bietet, ohne dass dabei auf den Zufall der Findung verzichtet werden könnte.

Mein Zweifel an der Wahlfreiheit für oder gegen eines dieser Modelle entspricht meinem Glauben an die Wirksamkeit jenes „Unlesbaren“, das sich nicht als im Sinne von Abbildbarkeit Geordnetes, doch als etwas zu einer Gesamtheit Geeintes darstellt, im Moment des Anblicks. Die Entscheidung, welche Form ein Gedicht annimmt, wird für mich von diesem Moment getroffen, und als Leserin reagiere ich mit Teilnahme, wo eine Form durchlässig eben dafür wird, grundsätzlich unabhängig von der Beschaffenheit dieser Form. Ich glaube Sonetten nicht, weil es Sonette sind, sondern wo sie mich ihres Moments ansichtig machen, dann folge ich ihnen, wie ich Zanzottos „La Beltà“ folge, doch glaube ich diesen Gedichten wiederum nicht ihrer Struktur wegen, sondern weil der Anblick, den sie transportieren (nichtidentisch mit dem auslösenden An-Blick), diese Struktur erfordert und einlöst. Anders gesagt: das ihnen zugrunde liegende Sprach­spiel läuft nach Regeln ab, die in dem Maße zwingend wirken, wie sie mir in ihre Setzung „gewachsen“ scheinen, wie Feldfrüchte in „ihre“ Ackerfurchen (die Frage, in welcher Weise meine Leser­biographie und sonstige Einflüsse diesen Eindruck mitbestimmen, muss ich an dieser Stelle vernachlässigen).

Wenn ich vom Finden oder Zufallen des Gedichts im Moment spreche und vom Moment als eben noch fassbarem Ready-made inmitten der unlesbaren Wirklichkeit, offenbart das natürlich meine Ohnmacht angesichts dieser Wirklichkeit. Es kommt mir überhaupt vor, als wäre Ohnmacht mein Schreibimpuls, und alles Systematische, angefangen bei der quasi-automatischen Bildung eines Satzes bis zur Findung eines poetischen Konzepts, wäre ein steigendes Fieber, vergleichbar mit der Körper­reaktion auf eine Infektion.

Wahr ist aber auch, dass das Sprach­spiel nicht nur Antwort, sondern konstitu­ierender Teil der Wirklichkeit ist, und dass man ihr im Moment des Gedichts nichts entgegensetzt, vielmehr etwas erfährt, das zwischen Kalkül und dem Unkalku­lierbaren steht. „Es ist eine Hauptquelle unseres Unver­ständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen“, schrieb Wittgenstein. Das Nicht-Übersehen in seiner schönen Doppel­deutig­keit mag hier eine Chiffre sein für den Versuch, im Gedicht das Unverständnis ins Produktive zu wenden, sich mittels der weiteren poetischen Sprach­spiel­regeln einen Aus­sichtspunkt zu verschaffen und sich gleichzeitig des Übersehenen bewusst zu werden, umso deutlicher, als dieses Übersehene zwiefach anwesend ist: transitorisch als notwendiges Ausblenden zugunsten dessen, was ins Gedicht kommt, es gar erst zustande­kommen lässt, und als Aussparung.

Sprachspiel­regeln, die mich gar nicht interessierten, habe ich noch nicht gefunden. Aber einige flößen mir mehr Zutrauen ein als andere. Ich traue dem Wort als Träger und Motor des Gedankens mehr zu als der Silbe (womit ich nicht bestreite, dass Silben sich wie Wörter verhalten können), und der Syntax, die Mehrdeutigkeit und Vorläufigkeit ihrer jeweiligen chaotischen Gegenwart zum Ausdruck zu bringen und, als Subtext ihres gramma­tikali­schen Tradiertseins, von der rätselvollen Ordnung zu sprechen, die aufzulösen wir höchstens einordnend, d.h. im Rückblick fähig sind.

Ich glaube an den Ernst des Spielens und Gedichten, die das Wissen ihrer Urheber um den Spielcharakter erkenntnistheoretischer Folien erkennen lassen, dann werden die das Feld, auf dem Neuzüchtungen blühen. Und ich glaube solchen, die sich immer wieder auf den Versuch des scheinbar zufälligen Findens einlassen, auf die Form des Tags, dieses einmaligen Tages.

Die Lyrik-Konferenz wird an dieser Stelle mit weiteren Teilnehmern fortgesetzt.
Sylvia Geist   13.01.2009    
  1. post-poésie (I)
  2. post-poésie (II)
  3. ästhetisch links
  4. against dualisms
  5. Transfer
  6. (anti)political and transfer process
  7. jetzt
  8. no first class second hand!
  1. Lucas Hüsgen:
    In einer Hoffnung auf Wildnis
  2. Sylvia Geist:
    Finden, Fiebern, Übersehen
  3. Jean-Marie Gleize:
    L'excès – la prose
  4. Noura Wedell:
    Prejudice Perception
  5. Jan Volker Röhnert:
    Poesie und Gedicht
  6. Jayne-Ann Igel:
    Was auf der Hand liegt
  7. Anja Utler:
    Unter dem post-Deckchen
  8. Han van der Vegt:
    The Body Poetic
  9. Tom Pohlmann:
    Entgrenzungen. Oszillationen
  10. Flavio Ermini:
    La passione del dire
  11. Christian Schloyer:
    Tractatus ...
  12. Jérôme Game:
    Poetics of the borders
  13. Jürgen Brôcan:
    „... daß wir können sicher schreiben ...“
  14. Hans Thill:
    Weder Gott noch Metrum
  15. Tom Schulz:
    Anstelle einer Poetik
  16. Norbert Lange:
    Lichtungen