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Jayne-Ann Igel

Gespräch mit Jan Kuhlbrodt für den poetenladen
Das Leben schreibend verbringen
  Gespräch        Literatur und Alltag

Illustration: Miriam Zedelius
 

»Mein Schreiben braucht Er­fah­rungs­werte, muss sich mit Sinn­li­chem ver­knüpfen.«
Jayne-Ann Igel in poet nr. 13



Gespräch in poet nr. 13   externer Link

Jayne-Ann Igel wurde 1954 in Leipzig geboren und lebt seit 1995 in Dresden. Sie war in der Deutschen Bücherei Leipzig und im Buchhandel tätig. Nach einem Theo­logie­studium arbeitete sie im Ge­sund­heitswesen. Sie erhielt ver­schiedene Stipen­dien sowie die Dr. Manfred Jahrmarkt-Ehren­gabe der Deutschen Schiller­stiftung. 1989 erschien das Poesie­album 259, es folgten Gedicht­bände und Texte bei Reclam Leipzig, bei S. Fischer und bei Urs Engeler sowie zuletzt beim Gutleut Verlag (Umtriebe 2013).


Jan Kuhlbrodt: Lebt deine Mutter noch?

Jayne-Ann Igel: Ja, sie lebt in Berlin.

J. Kuhlbrodt: Habt ihr einen guten Kontakt?

J.-A. Igel: Naja, telefonisch mittlerweile.

J. Kuhlbrodt: Jayne, ich zeichne das schon auf, also pass auf, was du sagst.

J.-A. Igel: Das sind wir ja gewohnt.

J. Kuhlbrodt: Aber aufgewachsen bist du nicht in Berlin?

J.-A. Igel: Nein, Leipzig ist meine Heimat­stadt. Meine Mutter lebt in Berlin, weil dort auch mein Bruder wohnt, und sie braucht immer ein wenig Hilfe, da haben sich mein Bruder und seine jetzige Frau entschieden, sie nach Berlin zu nehmen.

J. Kuhlbrodt: Ist beruhigend, oder?

J.-A. Igel: Sehr beru­higend. Ich bin auch dankbar, dass es letzt­endlich so funktio­niert. Und dass die beiden es mir abgenommen haben, weil sie doch auf siche­reren Füßen stehen.

J. Kuhlbrodt: Also nicht so wie eine Schriftstellerin?

J.-A. Igel: Die Lebens­gefährtin meines Bruders arbeitet beim Senat und bringt die sicheren Brötchen heim.

J. Kuhlbrodt: Das ist bei dir doch auch so?

J.-A. Igel: Wenn wir keine Lebens­gefähr­tinnen hätten, könnten wir das so nicht machen. Früher stand bei mir immer: Lebt von Gelegen­heits­arbeiten. Das Beste war damals, vom Ein­kommen her, in einer Küche zu arbeiten, in einer Restaurant­küche. Halbtags habe ich da mehr verdient, als ich in meinem Beruf als Biblio­theks­fach­arbeiter verdient hätte. Da hätte ich gerade mal 400 Mark der DDR bekommen. Und bei diesem Teil­zeit­job in der Küche hab ich im­merhin über 500 verdient. Bei fünf Stunden Arbeit pro Tag.

J. Kuhlbrodt: Hast du immer nebenher geschrie­ben oder kam das später dazu? Ist das eine Frucht deiner Biblio­theks­ausbildung?

J.-A. Igel: Nein das würde ich nicht so sagen. Ich habe zwar viel davon profitiert, aber eher, weil ich den Zugang zu ver­schiedens­ten Büchern hatte in der Deut­schen Büche­rei. Ich hatte einen Schlüssel zum Maga­zin dort. Das war schon etwas he­raus­gehoben, diesen Zugang zu haben und die Neu­erscheinungen, Ost wie West, mir angucken zu können, und ab und an was mitnehmen zu können, runter auf den Schreib­tisch, und zu lesen. Da wurde die Schreib­tisch­schub­lade geöffnet, das Buch rein­gelegt und gelesen, wenn jemand kam, mit dem Bauch zuge­schoben. Und so getan, als würde man arbeiten.

J. Kuhlbrodt: Nicht weil Lesen in der Biblio­thek verboten war?

J.-A. Igel: Nein, das war nicht verboten, aber wenn man während der Arbeitszeit zu viel Zeit mit Lesen ver­brachte, sah man das dann doch nicht so gern.
  Eigentlich habe ich ziemlich früh die Vor­stellung gehabt, das Leben schrei­bend zu verbringen. Schon als Kind. Mit 12 oder 13 hatte ich so eine Art Gewiss­heit, dass das eigentlich meins ist.

J. Kuhlbrodt: Was hast du damals gelesen?

J.-A. Igel: Gedichte von Verlaine.

J. Kuhlbrodt: Mit 13?

J.-A. Igel: Ja. Die hatte ich geschenkt bekommen. Und Walther von der Vogelweide. Das waren so die Anfangslektüren. Und dann war da der elterliche Bücher­schrank. Der war gut gefüllt. Vorrangig mit dem, was meinen Vater interes­sierte.

J. Kuhlbrodt: Das war gegen Ende der sechziger Jahre?

J.-A. Igel: Oder Mitte. Ich bin Jahrgang 54. Wenn man das verraten darf. Und nach der Ein­schulung, also 60, hatte ich es sehr schwer mit dem Lesen. Ich brauchte sogar Nachhilfe. Die kam nach Hause. Und man hat mir geholfen, die Buchstaben zu erarbeiten und die Zusammen­hänge zwischen den einzel­nen Buch­staben. Meine Mutter war zu der Zeit noch als Heim­arbeiterin beschäftigt, das bedeu­tete, sie war Schnei­derin und hat sich vom Betrieb Stoff für eine Woche geholt, um Mäntel zu nähen oder Kleider. Sie hat sich also die Grund­lagen aus einem Betrieb, das war ein Privat­betrieb, geholt, und zu Hause genäht, konnte uns dabei aber auch sehr gut beauf­sichtigen. Wir brauch­ten also keinen Schulhort. Und dann hat unsere Mutter jede Woche einen Ballen mit Mänteln, Kinder­mäntel waren das, in den Betrieb zurückgebracht. Und derweil habe ich Buchstabieren gelernt. Aber irgend­wann riss dann der Knoten, und ich konnte nicht mehr aufhören, zu lesen.

J. Kuhlbrodt: Dann ging's wie von selbst sozu­sagen?

J.-A. Igel: Ja, und vor allem das Interesse an Büchern und am Lesen war plötzlich eben da.

J. Kuhlbrodt: Dass muss also am Anfang der sechziger Jahre gewesen sein, und ich hab überhaupt keine Vor­stellung davon, wie die Bücher­schränke damals aussahen, und was da drin stand.

Jayne-Ann Igel
Umtriebe
60 S. / 11 Euro
Gutleut Verlag 2013
Das Buch im Verlag  externer Link

J.-A. Igel: Es war eine Art Bufett­schrank mit ver­schließ­barem Innen­teil, darin die Regale mit den Büchern. Im ver­schlos­senen Teil. Dann gab's auch noch so einen Auf­satz mit ein paar schönen Bänden außen, das waren vor allem Reise­berichte, zum Beispiel von Zikmund und Hanzelka, die Ende der vierziger Jahre Afrika und Latein­amerika bereist hatten. Meine Eltern besaßen kaum Gedicht­bände. Sie hatten zumeist Romane und Erzäh­lungen. Da gab’s einen frühen Stefan Heym zum Beispiel: Der Fall Glasenapp und vieles, was man so nach 45 bei Aufbau und in den anderen neuen Verlagen aufgelegt hatte, Hofé und Zola, auch Lite­ratur der Exilanten, Feucht­wanger, Anna Seghers und dergleichen. Und ich erinnere mich an einen Band mit dem Titel Igeliade, eines der wenigen Bücher, das ich nicht zu Ende gelesen habe.
  Die Auswahl war nicht schlecht. Es gab wenig, was mir stupide erschien. Und es gab auch etwas Tucholsky. Brecht auch. Aber eben kaum Gedichte. Es gab also beispielsweise auch keinen Rilke.

J. Kuhlbrodt: Und wann bist du dann auf Rilke gestoßen?

J.-A. Igel: Rilke kam dann erst in den Siebzigern. Zu einer Zeit also, wo ich mir lektüre­mäßig richtig was erarbeitet habe. Eigentlich war Walter von der Vogel­weide mit seiner Subjek­tivität, er führte ja die Subjek­tivität ein in die deutsche Dichtung, der Punkt, wo es bei mir richtig zündete. Mitte der Sechziger.

J. Kuhlbrodt: Vielleicht kommt bei dir noch die Gnade der frühen Ge­burt hinzu. Also dass die DDR noch nicht so fest im Sattel saß, und der Deutsch­unter­richt noch nicht voll­ständig ideolo­gisiert, wie bei mir. Das noch Varian­zen möglich waren im Schulunterricht.

J.-A. Igel: Einmal war es die Art, wie die Sachen im Deutsch­unter­richt präsentiert wurden, und ich denke, da hatte ich eher Glück mit den Lehre­rinnen. Es waren bei mir aus­schließlich Lehre­rinnen. Sowohl in der Unterstufe als auch später.

J. Kuhlbrodt: Unsere Inter­pretation von Schillers Hand­schuh war dann doch, dass das proletarische Bewusst­sein erwacht, in dem Edelmann, der sich den höfischen Ehrer­bietungen ver­weigert. Danach kamen dann Marx und die Revolu­tion.

J.-A. Igel: Bei uns ging’s doch eher um Literatur. Das Ideologische hatte seinen Platz im Ge­schichts­unter­richt, in den Erzäh­lungen von der Ab­folge der Klassen­gesell­schaf­ten und das alles. Aber in der Lite­ratur, das ist meine Erfah­rung mit meinen Lehre­rinnen, hat das nicht so die Rolle gespielt. Und für mich war immer wichtig, dass ich etwas ent­decken kann, dass der Text eben auch etwas erkundet und es eine Wahr­nehmungs­inten­sität gibt. Das war mir schon früh­zeitig wichtig. Und auch Melodie, Klang. Und wenn ich so an Verlaine denke, es war ein Reclam­band, den ich geschenkt bekommen hatte, relativ dünn, und damals noch ka­schiert mit so einer Hoch­glanzfolie, die sich dann lang­sam ab­schäl­te, und wenn es um so ein Gedicht wie Charleroi ging, das mit der Zeile ein­setzt und auch endet: »Im schwarzen Gras Kobolde gehen«, also ein Gedicht, das sich um das In­dustrie­gebiet Charleroi im Bel­gischen dreht, so etwas hat mich eben beein­druckt. Wieder­holungen und eben auch Melodie.

J. Kuhlbrodt: Obwohl die düstere Land­schaft der DDR der sechziger Jahre, die kommt ja quasi auch in Verlainegedichten vor.

J.-A. Igel: Ja eben, also gerade diese Indus­trie­gebiete. Dieser Rauch. Tage­bau­land­schaften habe ich vor Augen gehabt. Man hörte auch immer das Quiet­schen der Bagger. Wenn der Wind aus dem Süden kam. Wir lebten am Stadt­rand im Süden von Leipzig. In Meusdorf, ganz streng genommen Südost, aber die Straße, an der wir wohnten, ging nach Borna.

J. Kuhlbrodt: Also mit einem Fuß schon im Braunkohletagebau.

J.-A. Igel: Es war die Fern­verkehrs­straße, und vor Espenhain traf man auf die ersten Tagebaue – wir sind oft mit dem Fahrrad nach Borna gefahren, weil dort Ver­wandte von uns wohnten, da sind wir immer an den Tagebauen vorbei gekommen, und in der Nacht hörte man eben dieses Quietschen.

J. Kuhlbrodt: Würdest du sagen, dass das dein Schreiben beeinflusst hat, dass es eine Grund­legung der Erfahrung ist?

J.-A. Igel: Was mich an den Tagebauen faszinierte, waren diese Schichtungen an den Rändern, die man sehen konnte. Oben eher leichte Böden, Sand. Und Lehm dann und Rotes weiter unten. Sowas hat mich immer fasziniert. Strukturen auch. Die Gerüststruktur solcher Bagger, wenn man die in der Ferne sah.
  Wenn wir am Wochenende zu Besuch bei den Großeltern in Borna waren und dann Abends im Dunkeln nach Hause fuhren, mit dem Bus, sah man immer in der Ferne irgendwelche Lichter. Das waren ent­weder die von Dörfern oder eben die Beleuch­tung von Baggern. So etwas hat mich fasziniert, da wusste ich aber noch nicht, dass ich einmal darüber auch schreiben werde. Es war einfach ein inten­sives Aufnehmen, und was ich damals geschrie­ben habe, waren eher phantastische Geschichten.

J. Kuhlbrodt: Science fiction?

J.-A. Igel: Nein! Eher aus dem weltanschaulichen Kontext heraus, in dem ich lebte, waren es Partisanen­geschich­ten, oder etwas, das von der Befreiungs­bewegung in Mosambique inspi­riert war, oder mit den brasilia­nischen Urein­wohnern zu tun hatte, also immer weit Herge­holtes.

J. Kuhlbrodt: Klar. Die Revolution in Deutsch­land war ja vorbei, zu­mindest in der DDR.

J.-A. Igel: Das war das Sonderbare. Ich glaubte zu der Zeit noch an das, was in der DDR alles so erzählt und verlautbart wurde: Es ist alles ganz wichtig. Und wir sind ganz weit vorn, was die Revo­lution betrifft; zum Anderen hatte ich aber schon, ohne mir das je bewusst zu machen, so ein Bedauern, dass die Geschichte eigentlich vorbei ist, bei uns. Hier alles schon fertig ist. So ein Bewusst­sein muss ich als Kind in mir gehabt haben, das war mir aber nicht bewusst.

J. Kuhlbrodt: Es hat sich ja im Nachhinein auch als ein gewisser Irrtum herausgestellt.

J.-A. Igel: Ja, aber uns wurde es als fertig präsentiert. Fertig und an einem Endpunkt angekommen wie alles andere auch. Die Erd­entwicklung. Alles, was da war, war eben da, und es würde keine Veränderungen mehr geben. So musste man das inter­pretieren, alles war für uns, für den Menschen verfügbar und würde ewig so sein.

J. Kuhlbrodt: Merkwürdiger­weise geschah das vor dem Hinter­grund der Annahme, dass »die Anderen« oder der Feind keinen Begriff von Geschichte habe. Wir waren, gut hegelianisch, das Ziel der Geschichte.

J.-A. Igel: Und das hat man ja so eingesogen. Deshalb wundert mich ja jetzt im Nachhinein, dass das Kind noch irgendwie ganz im Innersten das nicht so sah beziehungs­weise das bedauerte, dass es so sein könnte.

J. Kuhlbrodt: Das Kind, das du warst?

J.-A. Igel: Ja.

J. Kuhlbrodt: Und meinst du, die Literatur ist quasi aus diesem Konflikt oder Dissens heraus entstanden?

J.-A. Igel: Wenn ich das so genau wüsste. Viel­leicht ja. Also wenn ich jetzt mal von diesen komischen, phantastischen Dingern absehe, die irgendwo anders spielten. An denen ich daran gescheitert bin, mir etwas aus den Fingern zu saugen, in denen ich zu sehr auf etwas baute, von dem ich nur eine Einbildung hatte, etwas, das also nicht gewisser­maßen durch mich hindurch­gegangen ist. Mein Schreiben braucht Er­fah­rungs­werte, muss sich mit Sinn­lichem verknüpfen, Sachen, die ich wirklich auch wahrgenommen habe.

J. Kuhlbrodt: Gerade deine Prosa hat ja teilweise sogar etwas Protokollarisches.

J.-A. Igel: Ja vielleicht als Protokoll eines Prozesses, weil mich so etwas mehr interessiert, als Geschichten zu erzählen. Die bei Urs Engeler erschienene Traumwache besteht zum Beispiel aus solchen zumeist kürzeren Texten, und ursprünglich hatte sie den Titel Aus den Protokollen der Traumwache. Mich interes­siert die Wahrnehmungs­seite mehr. Wie etwas, oder was da abge­laufen ist und wie ich es wahr­genommen habe. Das hat für mich Poesie, praktisch. Im Gegensatz zu Romanen, linear in ihrer Abfolge von A nach B. Intensiver sind für mich da Sachen wie Virginia Woolfs Fahrt zum Leuchtturm, eine Fahrt, die eigentlich gar nicht so richtig stattfindet. Die eigentlich eine Erwartung ist.

J. Kuhlbrodt: Leider ist von dir lange kein Gedichtband herausgekommen.

J.-A. Igel: Zur Zeit entsteht eher Prosaisches, Miniaturen, in denen Alltagserleben und Erin­nerungen eine Rolle spielen. Und dabei entsteht immer mal ein Text, von dem ich vielleicht sagen würde, es könnte ein Gedicht sein. Aber bis da mal wieder so viel zusammen ist, dass ich einen Band machen kann, das dauert eben.

J. Kuhlbrodt: Danke Jayne – bis hierhin. Wir bleiben im Gespräch.
 

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Jan Kuhlbrodt    29.01.2013   

 

 
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