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November 2017
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Zeitschriftenlese  –  Mai 2016
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Karl Schlögel zählt zu den prominentesten deutschen Osteuropa-Historikern. Seine studentische Protestphase als orthodoxer Maoist in Westberlin hat der 1948 im Allgäu Geborene längst hinter sich gelassen. Seit vielen Jahren sammelt er nun in umfangreichen Publikationen ein, was vom Sowjetkommunismus übrig geblieben ist oder sich noch ausgraben lässt. Auch in den führenden Kulturzeitschriften ist der ebenso einfallsreiche wie scharfsinnige Essayist allgegenwärtig.
  So berichtet er in der jüngsten Ausgabe von Lettre International vom „Leben der Dinge“ in der russischen Revolution, von „Orten, Räumen, Situationen, die gleichsam unberührt die Unruhen der Zeit überstanden haben und die Belege für eine Kontinuität waren, die es im Schatten oder im blendenden Licht einer monumentalen Zäsur eigentlich nicht geben durfte.“ Mit dem „Leben der Dinge“ meint Schlögel eine „materielle Kultur“, also die Summe der vom Menschen hervorgebrachten gegenständlichen Artefakte wie bebaute Landschaften, Städte, Interieurs, Verkehrswege, aber auch Gegenstände des Alltags, etwa Werkzeuge, Möbel, Konsumartikel. Als wacher Phänomenologe beschreibt er Orte, an denen die Dingwelt der Vergangenheit abgelagert wurde – „nicht nur das Archiv, sondern auch das Museum, der Flohmarkt, der Bazar, das Antiquariat, der Müllhaufen“, kurz: der „Kehrichthaufen der Geschichte“, von dem Leo Trotzki sprach, im Fall von Sankt Petersburg all die edlen Porzellan-Services, Truhen und die Klaviere.
  Auch das Novemberheft des Merkur eröffnet Karl Schlögel mit einer Rede über „Sankt Petersburg – Petrograd – Leningrad“, und auch diesmal unter einem griffigen Motto: „Revolutionen ändern alles, und doch geht das Leben weiter.“ Eine Geschichtsschreibung, die diese Spannung unterschlage, werde ihrem Gegenstand nicht gerecht. Schlögel geht dem Verdacht nach, dass die Millionenstadt und Kulturmetropole Petersburg „jenen historischen Moment, in dem sie tatsächlich Hauptstadt der europäischen Geschicke im 20. Jahrhundert geworden war, nicht wahrhaben wollte“, ihn vielmehr verdrängte. Was sollte man auch mit dem Jahr 1917 zu tun haben, „in dem die einen jahrzehntelang den Anbruch eines neuen Zeitalters gepriesen und die anderen den Untergang einer ganzen Welt beklagt hatten.“
  Mit dem Problem der Gleichzeitigkeit von Aufbruch und Katastrophe fertig zu werden, ist nicht nur für Geschichtsforscher ein schwieriges Unterfangen. Ein gewisser Abstand ist dabei hilfreich, in dem die Ideologien erkalten und sich eine Haltung einstellt, die die Historisierung des Geschehenen erleichtert. Die Rezeption der russischen Revolution ist nach wie vor gespalten. War sie nicht doch eher ein von oben gesteuerter Putsch? Laut Schlögel gab es eine Zeit, wo sie (ähnlich wie heute, sogar im Feuilleton der FAZ!) „als fast zwingendes, in der Logik der Dinge liegendes Ereignis“ verstanden wurde; und eine Zeit, die gegenüber revolutionären Prozessen nicht gerade aufgeschlossen war.
  Schlögel schildert Sankt Petersburg als Wiege all dessen, was die russische Moderne und die sowjetische Avantgarde „an originellen Schöpfungen hervorgebracht haben“ und das gerade an dieser Bruchstelle sichtbar wurde – revolutionäres Theater, Strawinskys Musik, das sogenannte Neue Bauen; Schulen und Institute, Zeitschriften; in der Politik ein so eigenständiger Kopf und Tatmensch wie Lenin, in der Malerei Malewitsch, auf der Bühne Meyerhold. Aber auch Denkmalsturz, der Kampf aller gegen alle und „Situationen totaler Ungeschütztheit“. Die großen Wohnungen im Stadtzentrum werden „umverteilt“, so dass statt fünf Personen nun vielleicht fünfzig darin hausen. Die Adelspaläste stehen plötzlich offen, von ihren Besitzern verlassen, doch es gibt kein Holz für die Besetzer, um sie zu heizen. Die Fabriken stellen ihre Arbeit ein, und bald beginnen auch die ersten „Säuberungen“ unter Stalin, die 1937 ihren Höhepunkt erreichen sollten. Anders als im Nationalsozialismus ist jeder verdächtig, jeder schuldig. Viele Angehörige der Eliten emigrieren, sie tragen die glanzvolle Petersburger Kultur in die Hauptstädte der Welt – ein faszinierender Vorgang.
  Auch Joseph Brodsky, geboren 1940 im damaligen Leningrad als Sohn jüdischer Eltern, der bei den Kulturfunktionären als „Rowdy und Hooligan“ galt, wurde 1972 mit 32 Jahren „ausgebürgert“ und wandte sich in die USA. 1987 erhielt er für seine Gedichte und Essays den Nobelpreis für Literatur. Mit Hilfe seiner berührenden „Erinnerungen an Petersburg“ kann man heute leicht das breite, vornehme Haus am Liteyny Prospekt Nr. 24 ausfindig machen, in welchem der junge wilde Brodsky mit seinen Eltern bis zu seiner Ausweisung aus der Sowjetunion ein einziges Zimmer bewohnt hat.
  Im jüngsten Heft der Zeitschrift Sinn und Form berichtet der weltläufige Autor Hans Christoph Buch über eine Begegnung mit Brodsky im Juni 1992 in Hamburg – ein historischer Text, der nachträglich nicht überarbeitet wurde. Bei einer abendlichen Lesung im Literaturhaus sollte er ihn vorstellen. Zwanzig Jahre vorher hatte er ihn in seiner Heimatstadt Petersburg vergeblich zu treffen versucht. Nun, in Hamburg, ist es sommerlich heiß, der russische Dichter wirkt kurzatmig und müde. Eine schwere Herzerkrankung belastet ihn, an der er 1996 allzu früh sterben wird.
Doch auf dem Podium ist er wie umgewandelt, souverän und selbstsicher. Er liest seine Gedichte nicht vom Blatt, er deklamiert sie auswendig, manchmal – so Buch – „singt er sie auch“. Er hat seine Verse im Kopf, besser: im Herzen gespeichert, was auch nötig war, denn bei seiner Ausreise durfte er kein einziges Manuskript mitnehmen. Ein „poetisches Selbstbewusstsein“ habe ihn ausgezeichnet, das freilich – meint Buch zu Recht – „der deutschen Lyrik nach Rilke abhanden gekommen“ sei. Brecht und Majakowski, die sich von der kommunistischen Partei vereinnahmen ließen, mochte er nicht. Er hielt sich an Opfer von Stalins System wie Ossip Mandelstam und Anna Achmatowa, in denen er Vorbilder sah, brachte sich selbst Englisch und Polnisch bei, um Shakespeare und Mickiewicz im Original lesen zu können.
  Von Anfang an ging es Brodsky nicht, wie den westwärts orientierten Avantgardisten aller Länder, um die Zertrümmerung der Gedichtform, sondern – so Buch – „um die Wiederherstellung des Reichtums der überlieferten Kunst und Literatur“, also um die Bewahrung einer großen Tradition. Seine späten Gedichte sind melancholisch verschattet: „Bald endet das Jahrhundert, doch vorher ende ich …“
  Ebenfalls in Sinn und Form präsentiert Marie-Luise Bott einen Fund aus dem Nachlass des 2007 gestorbenen Dichters Wolfgang Hilbig. Es handelt sich um zwei 1988 verfasste handschriftliche Kommentare zu Gedichten von Marina Zwetajewa aus den Jahren 1916 bzw. 1921 – auch sie eine langjährige mittellose Emigrantin in Berlin, Prag und Paris: „Heut Nacht bin ich alleine in der Nacht / Die Mönchin ohne Schlaf und ohne Heimstadt …“ Hilbigs damalige Frau Natascha Wodin hat gemeinsam mit ihm sieben Gedichte aus Zwetajewas Zyklus „Schlaflosigkeit“ übersetzt. Sie schickten sie an Karl Corino, den Literaturredakteur des Hessischen Rundfunks, der sie in der Reihe „Gedicht vor Mitternacht“ sendete. Diese Manuskripte sind nicht erhalten.
  Die intellektuellen Macher der Dresdner Zeitschrift Tumult, die sich im Untertitel „Vierteljahrsschrift für Konsensstörung“ nennt, wollen damit ausdrücken, dass zwischen den herrschenden Parteien und den Massenmedien, was in der Gesellschaft so umstrittene Themen wie Einwanderung, Ausbreitung des Islams und Euro-Rettung angeht, eine stille Übereinkunft besteht, die möglichst nicht hinterfragt werden soll. Eben diesen „Konsens“ gelte es zu „stören“ und Alternativen für Deutschland wieder öffentlich sichtbar zu machen. Entschieden wendet man sich gegen die „Entgrenzung“ unserer Lebenswelt, gegen die fortschreitende Globalisierung und Digitalisierung. Sie absorbierten Wahrnehmungen und Kontakte, Orte und Zeiteinteilung. Der reale Raum, der Herkunft und Nähe verbürgt, verschwinde und mit ihm die gewohnte Sicherheit und Bodenhaftung der Menschen.
  Tumult
-Herausgeber Frank Böckelmann stellt zu Beginn des Herbsthefts die provokante Frage, ob die Europäer, „die Meister der Naturbeherrschung“, nunmehr vor den „Rückständigen und Vielgebärenden“ Afrikas, die sie Jahrhunderte lang unterdrückt haben, kapitulieren – teils aus schlechtem Gewissen, teils der eigenen Kultur überdrüssig. Selbsterhaltung sei ihnen offensichtlich „zu vulgär“ geworden. Durch das rasante Anwachsen der Bevölkerung in den Ländern der Dritten Welt und die leichte Erhöhung des Lebensstandards werde sich der Migrationsdruck zukünftig noch verstärken. Böckelmann will jedwede Entwicklungshilfe „an den Nachweis effizienter Geburtenkontrolle“ knüpfen – eine Forderung, die in keinem Gipfel-Kommuniqué je auftauchen dürfte.
  Die muntere saarländische Literaturzeitschrift Streckenlaeufer ist diesmal auf Frankreich ausgerichtet. Jedenfalls stehen im Zentrum des Heftes die Texte dreier auf die Sechzig zugehender Freunde und Schriftsteller (Jörg Ruthel, Erhard Schmied, Klaus Behringer), die jedes Frühjahr gemeinsam durch Paris flanieren (allein zu gehen wäre für jeden vermutlich produktiver). Dabei beschreiben sie die Stadt aus unterschiedlichen Perspektiven, in Form einer Erzählung, eines Essays und eines Tagebuchs.
  Eröffnet wird das Heft mit einer Erzählung aus dem Alltag von Jörg W. Gronius, die wie nebenbei die allgemeine Verunsicherung aufgreift, der Teile unserer Gesellschaft unterliegen, von den Themen Einwanderung und Digitalisierung über die dröhnenden Lastzüge aus Ost-Europa auf unseren Autobahnen bis zur Wahl Donald Trumps. Der Ich-Erzähler verhält sich ambivalent. Eine „Wutbürgerin“ nervt ihn am Telefon mit ihren Tiraden und ihrem „gesunden Menschenverstand“, dann klingelt der Hermes-Bote mit einem rätselhaften Paket, das voller Asche und Unrat ist. Darin hockt eine riesenhafte Fliege, die sogleich aggressiv brummend durch das Zimmer schwirrt, ein Vorbote kommenden Unheils zweifellos. Und keineswegs zufällig ist der Erzähler just bei der Entgegennahme des fatalen Götter-Geschenks auf der Treppe gestürzt und hat sich ein Bein gebrochen, was ihn zumindest zeitweise isoliert und vom linksliberalen Diskurs ausschließt.

Lettre International Nr. 118, Herbst 2017   externer Link
(Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin), 13,90 €.

Merkur: Novemberheft 2017   externer Link
(Mommsenstraße 27, 10629 Berlin), 12– €.

Sinn und Form: Heft 6, 2017   externer Link
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), je Heft 11,– €.

Tumult: Herbstheft 2017   externer Link
(Frank Böckelmann, Nürnberger Straße 32, 01187 Dresden), 8,– €.

Streckenlaeufer: Nr. 33, Herbst 2017   externer Link
(In der Fröhn 13, 66125 Saarbrücken), 7,– €.

 

 
Michael Buselmeier
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