poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 
März 2016
0      
Zeitschriftenlese  –  März 2016
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Das Schreibheft, von dem mittlerweile 86 umfangreiche Ausgaben erschienen sind, ist noch immer voller Überraschungen. Zweimal pro Jahr stellt die Zeitschrift Unbekanntes oder zu Unrecht Vergessenes zur Diskussion. Seit 1982 von Norbert Wehr in Essen herausgegeben, gilt sie unter Insidern als beste deutsche Literaturzeitschrift. Das jüngste Heft eröffnet eine bislang wenig beachtete Reportage über Deutschland aus dem Jahr 1950. Geschrieben hat sie das Film- und Radiogenie Orson Welles, der 1915 geborene, US-amerikanische Charmeur und Projektemacher. Der Aufsatz erschien zuerst 1950 als fünfteilige Reportage in Italien und dann 1951 in einer Londoner Zeitschrift als zusammenhängender Text – die Summe von Welles' Erfahrungen im zerstörten Deutschland.
  Hier wusste man freilich von Orson Welles' Heldentaten fast nichts. Sein berühmtester Film „Citizen Kane“ von 1941 (damals war Welles 26!), der vielen als „bester Film aller Zeiten“ gilt, war in Deutschland noch unbekannt. Dafür kam im Januar 1950 Carol Reeds Streifen „Der dritte Mann“ in die deutschen Kinos, mit Welles in der Rolle des Schwarzhändlers Harry Lime, der den ganzen Film dominiert, obwohl er kaum zehn Minuten zu sehen ist.
  In seinem Nachkriegstext schildert Orson Welles zum Beispiel den mit einer Filmschauspielerin verheirateten Waffenfabrikanten Fritz Mandl am Comer See. Unter Künstlern fachsimpelt man über den „deutschen Charakter“. Der Deutsche, heißt es dort, wolle immer noch „Erster“ sein und er wolle seine „Nudelsuppe“ essen. Ohne Uniform fühle er sich nackt. „Als Mystiker, Musiker und Militarist“ verfüge er, so Welles, „über körperlichen Schneid, schöpferische Einbildungskraft und die Neigung, in Tränen auszubrechen. Wir wissen alles über seine Mordlust, seine Todessehnsucht und seine erstaunlichen sentimentalen Kapazitäten, und sagen wir es gerade heraus: Wir haben ihn gründlich satt.“ Schade, dass Welles die gegenwärtigen Deutschen nicht mehr erleben durfte, die von überaus moralischer Art sind. Jeder mag und bewundert sie, auch weil sie bereitwillig alles bezahlen, und sie scheinen sich inzwischen auch selbst in dieser Rolle zu mögen. Und natürlich wird in keinem Nachtlokal mehr das Horst Wessel-Lied gespielt oder gesungen.
  Ferner im Schreibheft ein Prosatext des bei uns kaum bekannten Franzosen Jacques Decour. Er war ein germanophiler Lehrer, Schriftsteller und Widerstandskämpfer, der 1942 mit 32 Jahren hingerichtet wurde. Seine Prosa „…im Gefängnis“ ist hoch reflektiert, einfallsreich und assoziativ, ein radikal negativer, existentialistischer Versuch, der sich explizit nicht gegen die Nazis richtet, sondern in einer heftig rebellierenden Bewegung eher gegen den Verfasser selbst: „Alles geschieht gegen mich und ohne mich, ich habe nicht die Kraft, alles zu hassen, was ich nicht bin. In den Mauern, die ich mir errichtet habe, werde ich es nicht aushalten … Ich spüre, dass es auf mich nicht ankommt, man hat mich durchgestrichen, ohne groß darüber nachzudenken, und hat sich danach um irgendwas anderes gekümmert; auf mich wartet nichts mehr, meine Abwesenheit hat keine Lücke hinterlassen, sie hat nichts ins Stocken gebracht, der Trott geht einfach weiter. Ich bin weder eins noch zwei noch drei; in den Augen aller und auch der Meinen bin ich eine Null, ein Unnützer, ein Ausrangierter.“
  Auch die in Dresden von Norbert Weiß herausgegebene Zeitschrift Signum erscheint seit der Jahrtausendwende zweimal jährlich. In der jüngsten Ausgabe wird von Walter Hasenclever berichtet, der sich 1940 in Südfrankreich auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm – ein einst sehr erfolgreicher, heute weithin vergessener Lyriker und Dramatiker des Expressionismus, der in Leipzig studierte und dessen programmatisches Drama „Der Sohn“ 1916 in Dresden mit Ernst Deutsch in der Titelrolle uraufgeführt wurde.
  Im Mittelpunkt des Signum-Hefts steht ein spannender Essay des Dresdner Lyrikers Uwe Hübner über Dante Alighieri und die vor 700 Jahren entstandene „Göttliche Komödie“. Hübner analysiert einzelne Gesänge, erläutert unklare Textstellen und bietet überhaupt Hilfe beim Lesen dieses schwierigen Epos an, das 14 233 Verse umfasst, die sich auf 100 Gesänge verteilen. Mag sein, dass die relativ eintönige Form der Terzinen den Leser rasch ermüdet. Nicht allzu viele dürften das große Werk, durch Hölle und Fegefeuer bis ins Paradies geduldig vordringend, zu Ende verfolgt haben.
  Die fundamentale Frage Dantes lautet, so Hübner: Was geschieht nach dem Tod? Der Ich-Erzähler erhält die ungewöhnliche Chance, als Lebender ins Jenseits zu reisen und nach seiner Rückkehr pessimistisch Bericht zu erstatten: „Dem Tod ist all das Eurige verfallen.“ Durch ein trichterförmiges Loch dringt der Dichter im ersten Teil bis zum Erdmittelpunkt und ins Zentrum der Hölle vor. Im zweiten Teil ersteigt er den Läuterungsberg und klettert von dort über eine Leiter ins Paradies, wobei ihn nun Beatrice begleitet – was für ein Abenteuer!
  Mehrmals betont Hübner die enorme Ungerechtigkeit, die darin besteht, dass diejenigen, die vor Christi Geburt gelebt haben, sowie alle unschuldigen Kinder, die ungetauft starben, für immer in der Vorhölle ausharren müssen. Zu den Ungetauften zählt auch Vergil, der Dante als Führer durch Hölle und Fegefeuer dient, während er den Himmel nicht betreten darf.
  Auch Dantes wissenschaftlich-geographische Interessen werden angesprochen. In seiner „Komödie“ kartographiert er mit Hilfe der Flüsse ganz Italien sowie die übrige, damals bekannte Welt. Von den mehr als 50 Übertragungen des Werkes ins Deutsche nennt Uwe Hübner nur zwei: die auf komplizierte Weise gereimte Fassung des Friedrich von Falkenhausen aus dem Jahr 1937 und die in reimlose Blankverse gegossene des Wunderkinds Karl Witte von 1865 – keineswegs eine Prosaversion, wie Hübner behauptet, nur eben leichter zu lesen als die angestrengten deutschen Terzinen. Seltsamerweise verschweigt er die gelungene Übersetzung des Philalethes, des späteren Königs Johann von Sachsen (der vielleicht sogar Signum alimentiert hätte).
  Im Jahr 1709 trafen etwa 10 000 Flüchtlinge aus der rheinischen Pfalz in England ein. Sie waren des Englischen nicht mächtig und fast völlig mittellos. Hungerjahre lagen hinter ihnen, eine Folge jener Verheerungen, die die Truppen Ludwigs des XIV. in ihrem Land angerichtet hatten. Manche behaupteten auch, wegen ihres protestantischen Glaubens verfolgt worden zu sein. Die meisten wollten, so hieß es, nach Amerika weiterreisen.
  Sinn und Form
druckt auf 30 Seiten ein Traktat von Daniel Defoe mit dem Titel „Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge“ vom August 1709. Defoe war zunächst Kaufmann gewesen, der sich nach einem Bankrott intensiv den religiösen, ökonomischen und politischen Problemen seiner Zeit widmete und mit anonymen Traktaten, die in Zeitschriften erschienen, auf die Gesellschaft einzuwirken versuchte. Erst 1719, im Alter von 59 Jahren, veröffentlichte er seinen ersten Roman über „Die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe“, der ihn schlagartig berühmt machte.
  In der Angelegenheit der pfälzischen Arbeitsemigranten argumentiert dieser Aufklärer primär ökonomisch: „Ob sie gleich nichts mitbrächten als ihre Hände, würden sie doch unser Nationalvermögen vermehren.“ Zugleich sei es eine „Christenpflicht“, sie aufzunehmen. Es handelte sich vor allem um „Ackerbauern und Winzer“, die aus der Gegend von Heidelberg, Mannheim, Frankental, Speyer und Worms stammten. Konkret schlägt Defoe vor, den Pfälzern Land zu geben und sie „so zu beschäftigen, dass sie sich selbst versorgen können.“
  Zu diesem alten Bericht passt (ebenfalls in Sinn und Form) ein erhellender Beitrag von Hans Christoph Buch über „Die Geburt des Romans aus dem Geist des Cargo-Kults“ (was eigentlich die am Strand angespülten Zivilisationsreste meint). Wenn es dort heißt, der Roman „erwuchs aus der Langeweile“, so ist eine solche angedacht, die im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert entstand, „als Frauen und Mädchen, von Haushalts- und Mutterpflichten befreit – das besorgten die Dienstboten –, erstmals eigene Zimmer hatten, in denen sie lesen konnten und durften.“ Das Lesen war nicht länger ein Privileg von Gelehrten. Zeitungen und Zeitschriften entstanden, für die auch Defoe arbeitete. Auch „Robinson Crusoe“ ist keine reine Fiktion, sondern beruht auf journalistischen Recherchen.
  Von Krieg und Frieden handelt das jüngst erschienene Doppelheft der pfälzischen Zeitschrift Chaussee. Sie wird eröffnet mit einem Artikel, den der 1886 in Pirmasens geborene Hugo Ball am 7. September 1914 in der „Pirmasenser Zeitung“ veröffentlicht hat – ein detaillierter Erlebnisbericht über eine private Reise an die lothringische Front. Gemeinsam mit einem Kameraden besichtigt der vom Treiben der Soldaten erkennbar faszinierte Ball verlassene Schlachtfelder und flüchtig aufgeworfene Franzosengräber, die Verwüstung von Dörfern und kleinen Städten zwischen Dieuze und Luneville. Noch ist er kein Kriegsgegner, weder Dadaist noch Pazifist, vielmehr ein ebenso neugierig-naiver wie neutraler Beobachter: „Tote Pferde am Wegrand, zerschossene Bäume.“ Und er berichtet farbig: „Mehr und mehr gerieten wir in große Zeltlager hinein. Soldaten in Drillich liefen auf Weideplätzen hinter Kühen her, um sie zu melken. Feuer brannten. Man schlachtete, kochte ab; Pferde standen gruppenweise, Ochsen im Joch: Ein Biwakleben wie auf Bildern vom 30jährigen Krieg. Es sind noch dieselben Wagen, dieselben Pferde, dieselben Zelte, dasselbe Kampieren unter freiem Himmel. Nur die Uniformen haben sich geändert.“ Erst ab 1915 empfindet Ball den Krieg als großes Unglück.
  Ferner wird in der Chaussee an den 1883 geborenen elsässischen Schriftsteller René Schickele erinnert, der zu den Vertretern des deutschen Expressionismus zählte und als Repräsentant des literarischen Elsass galt – mit seinen Gedichten, aber auch mit dem erfolgreichen Schauspiel „Hans im Schnakenloch“, das 1916 in den „Weißen Blättern“ erschien und im selben Jahr in Frankfurt uraufgeführt wurde. Als Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter fühlte sich Schickele zwischen Loyalitäten zerrissen.

Schreibheft: Nr. 86, Februar 2016  externer Link
(Nieberdingstr. 18, 45147 Essen), 13,- €.

Signum: Heft 1, Winter 2016   externer Link
(Liliengasse 18, 01067 Dresden), 8, 20 €.

Sinn und Form: Heft 2, 2016   externer Link
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 11.- €.

Chaussee: Heft 35 und 36, 2015  externer Link
(Postfach 2860, 67616 Kaiserslautern), 10,- €.

 

 
Michael Buselmeier
Lyrik
Prosa
Reden und Texte
Gedichtkommentar