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März 2017
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Zeitschriftenlese  –  März 2016
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Der Name Wolfgang Welt klingt ein wenig wie erfunden, doch es gibt oder besser: gab ihn wirklich: Ein 1952 in Bochum geborener und 2016 dort auch gestorbener, über das Ruhrgebiet hinaus kaum bekannter Schriftsteller, ein beharrlicher Lebens-Aufschreiber und Außenseiter des Literaturbetriebs. Er war Schallplattenverkäufer, schrieb nebenher oft recht giftige Musik- und Literaturkritiken. Nach einer schweren psychischen Erkrankung arbeitete er bis zu seinem Tod als Nachtportier am Bochumer Schauspielhaus.
  Wolfgang Welt veröffentlichte fünf autobiographische Romane über sein Leben und das seiner Familie in Bochum, kleinteilig und engmaschig von unten betrachtet – eine dichte, spannend zu lesende Beschreibung des Ruhrgebiets. Schon der Titel „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“, eine Art Trilogie, hört sich reizvoll an. Reale Figuren treten mit ihren Echtnamen auf, sie sind Teil des Alltagsgeschehens, reden im Tonfall der kleinen Leute ganz direkt über sich und über einander: „Mein Bruder hatte einen angesetzt und musste heiraten.“ Reflektiert wird selten, meist bleibt es bei puren Schilderungen.
  Dieser Autor, den man, durchaus im positiven Sinn, als Heimatdichter bezeichnen könnte, hat ein paar verständnisvolle Leser und Förderer gefunden und mit ihnen korrespondiert, etwa Hermann Lenz oder Peter Handke, der Wolfgang Welt seine „so befremdete wie freundschaftliche Bewunderung“ ausdrückte angesichts dieser „ grundanderen Art von Geschichtsschreibung.“ Handke war es auch, der ihn 2006 zum Suhrkamp Verlag vermittelt hat.
  Die jüngste Ausgabe von Norbert Wehrs vorzüglichem Schreibheft erinnert an Welt mit dem Abdruck eines nachgelassenen Romanfragments, das den ebenso ungewöhnlichen wie griffigen Titel „Die Pannschüppe“ trägt und von der Kindheit des Autors im Kohlenpott erzählt: etwa wie der Vater eine Musiktruhe von Loewe Opta erwirbt, die ihn mehr kostet als das Monatsgehalt, das er von der Zeche bezieht, und in Raten abgestottert werden muss. Ebenso der erste Fernseher, erworben bei Quelle, Neckermann oder im Otto Versand. Wenn dann „Mainz wie es singt und lacht“ lief, „saß die halbe Straße bei uns im Wohnzimmer.“
  Doch im proletarischen Familienleben der 50er Jahre spielt der aktiv betriebene Fußball noch die Hauptrolle. Welt und sein sechs Jahre älterer Bruder kicken zunächst beim SV Langendreer 04, dann bei SuS Wilhelmshöhe, wo der Vater als Hauptkassierer fungiert. Und die titelspendende Pannschüppe ist – so Welt – eigentlich „ein Werkzeug unter Tage, mit dem die Bergleute Kohle schaufeln, und weil der Platz auf dem Gelände der Zeche Bruchstraße liegt, sagen manche Leute Pannschüppe zu dem Verein.“
  Neben dem Fußball interessieren sich die Jungen für das Kino und besonders für die wilde Rockmusik aus England und Amerika. Und natürlich interessieren Welt auch die jungen Mädchen, bei denen er nicht so recht landen kann. In seinem Romanfragment werden sie ganz unkorrekt „Weiber“ genannt; und hinter dem Bruder „sind zwei Homos her.“ Ein zielgerechtes Erzählen gibt es nicht, keine geschlossene Form, auch keine Chronologie im eigentlichen Sinn.
  Man kann in diesem Schreibheft auch den finalen E-Mail-Wechsel von Juli bis Dezember 2015 zwischen Wolfgang Welt und Frank Witzel nachlesen, dem so erfolgreichen Autor des Romans „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager“. Die Bücher der beiden sind gar nicht so weit von einander entfernt; und beide sind Musikexperten. Dann gibt es noch einige Briefe an Hermann Lenz, der ja von Handke Ende 1973 fast über Nacht bekannt gemacht worden war, aus dem Jahr 1981 (leider ohne die Antworten) sowie ein einziges Schreiben an den ihm persönlich unbekannten Siegfried Unseld mit treuherzigen Dialekt-Einschüben: „Weiß nich, ob Sie schon watt von mir gehört haben.“ Und kurioserweise spricht Welt den berühmten Verleger mit „Lieber Unseld“ an.
  Themenwechsel. Das Verhältnis von Literatur und Philosophie sei kompliziert, meint der Philosoph Rüdiger Safranski im Gespräch mit Diana Feuerbach in der jüngsten Ausgabe des Literaturmagazins poet. In Platons idealem Staat sollten Kunst und Literatur, da sie angeblich den Geist verweichlichen, jedenfalls keinen Platz finden. Die Literatur habe es nach Platon nur mit der „Illusion“ zu tun, die Philosophie jedoch mit der „Wahrheit“. Zu Dantes Zeit hingegen war die Philosophie hauptsächlich Theologie; eine Dichtung wie die „Göttliche Komödie“ war ohne den theologischen Hintergrund undenkbar, die Philosophie/Theologie folglich in der überlegenen Position.
  Nach Safranskis Überzeugung war die Literatur immer am stärksten in Zeiten, „wo ein produktives Verhältnis zur Philosophie da war“, was beiden Seiten gut tat, so zum Beispiel in der Romantik. Der deutsche Idealismus sei eine Blütezeit der Philosophie und der Literatur gewesen. Um 1800 hätten sich Vernunft und Einbildungskraft wechselseitig befruchtet. Dabei sei die Phantasie der Motor, das Elementare gewesen. Im „Grenzverkehr“ mit Schiller und Goethe habe die Philosophie „unglaublich viele Anregungen“ bekommen. Sigmund Freud wiederum bezog sich auf Literatur, etwa auf den Ödipus-Mythos, um wissenschaftliche Phänomene zu beschreiben, während Marcel Prousts großer Zeitroman auf die Philosophie ausstrahlte.
  In einem weiteren Gespräch beklagt der Grazer Philosoph Peter Strasser die ökonomischen Schwierigkeiten von Literaturzeitschriften, die „für den Literaturbetrieb Wesentliches geleistet haben.“ Unter jungen Leuten bestehe kaum noch Lust, literarische Organe zu abonnieren, zumal solche, deren Schwerpunkt, wie im Fall von poet, im Bereich der Lyrik liege. „Die Fortschreibung einer Tradition“ sei „zugleich an die Subjektivität des Autors“ gebunden. Der Leser müsse seine „Stimme“ im Text erkennen wie die Hölderlins, Rilkes oder Trakls. Nichts dürfe künstlich, nichts „gemacht“ klingen. „Das Licht der Poesie“ müsse „aus den Dingen selbst hervorleuchten.“ Das sei „die große poetische Alternative zur wissenschaftlichen Objektivität.“ Nichts, das keinen „Wahrheitsanspruch“ mit sich führe, gehe uns, „die Leser, die wir nach Bedeutung hungern, im Grunde auch nur das Geringste an.“ Das sind starke Worte, vom Rand her gesprochen, die der emeritierte Philosophie-Professor Peter Strasser hier an alle echten Leser richtet.
  Ein weit ausgreifender, hoch moralischer Essay der Wiener Literaturwissenschaftlerin Eva Horn weist uns (im jüngsten Heft der Zeitschrift Merkur) darauf hin, dass wir die geologische Epoche des „Holozäns“ verlassen haben und uns nunmehr im „Anthropozän“ aufhalten. Angefangen habe das neue Erdzeitalter bereits in den 50er Jahren mit den Atomtests, dem Anstieg von fossilem Brennstoffverbrauch, dem dadurch verursachten CO2-Ausstoss, den wachsenden Müllhalden und so weiter. Damit habe die Menschheit die klimatischen und ökologischen Grenzen des Holozäns überschritten, „jener Epoche, in der alles entstanden ist, was wir heute als menschliche Zivilisation betrachten: Sesshaftigkeit, Ackerbau, staatliche Strukturen, Schrift.“
  Eva Horn will vor allem den braven, ökologisch Bemühten klarmachen, dass sie ihre im Westen bestehenden Privilegien, den Wohlstand, nicht an die nachfolgenden Generationen vererben können. Die Rede von der „erdgeschichtlichen Zäsur“ verleiht dem Begriff des Anthropozäns ein besonderes Pathos, mit dem Frau Horn, von Zweifeln unbeirrt, missioniert. Es gehe nämlich, schreibt sie, nicht mehr darum, die Erde im Interesse des Menschen etwas schonender, also „nachhaltiger“ zu nutzen, sondern um eine „tiefgreifende“ Veränderung des ganzen Lebenssystems, um einen radikalen „Rück- und Umbau“ überlieferter Praktiken. Eine sinnvolle Klimapolitik müsse „die nichtmenschliche Welt der Lebewesen, der Landschaften, des Klimas, der Ozeane“ einbeziehen und für „schutzwürdig“ erklären.
  In jedem Merkurheft gibt es zum Glück auch leichter zu lesende Texte. So startet der Berliner Schriftsteller David Wagner seine neue Serie „Hausbesuche“ just in meiner unmittelbaren Nähe im Heidelberger Stadtteil Rohrbach. Um Land und Leute kennenzulernen, besucht er hier eine abendliche Gartenparty. „In Heidelberg sei es warm, ja, aber selten so schwül wie in Mannheim“, bemerkt Wagner schon bald nach seinem Eintreffen, und der Gasgrill sei „eine amerikanische Marke“. Das Grillgut stamme „vom Metzger Sommer“. Den ihm unbekannten Gastgeber schätzt er „auf Ende fünfzig.“ Die ankommenden Gäste sind „eine nette Kohorte, ziemlich weit weg von mir und meinem Leben.“ Wo er sich eigentlich befinde, fragt er: „In der Kurpfalz? In Baden?“
  Auf solche Banalitäten beschränkt sich dieser Ausflug in die privilegierte Provinz; und anschließend, in einer Galerie im Mannheimer Problem-Stadtteil Jungbusch, geht es grad so weiter. Irgendwelche sinnvollen Fragen werden nicht gestellt, lokale Besonderheiten nicht beobachtet.
  Selbst wenn man die Umorientierung der gerade durch Vielfalt anregenden Akzente zu reinen Themenheften für verfehlt hält, kann man zumindest der vorliegenden, von Mirko Bonné und Jo Lendle einfallsreich zusammengestellten Ausgabe, die sich den Tieren zuwendet, Qualität nicht absprechen. Gut die Hälfte der versammelten Erzählungen und Gedichte handelt von Vögeln, beginnend mit Sabine Grubers unheimlicher Geschichte eines Vogelmenschen, als der sich der Geliebte erweist. Norbert Hummelt beschäftigt sich mit den wiederkehrenden Mauerseglern in seinem Hof, Christoph Peters mit ebenfalls bedrohlichen Schwarzmilanen im Umfeld eines wichtigen Heiligenschreins in Karatschi: „Vor und über uns jetzt wieder die Vögel, so weit das Auge reicht. Es sind unendlich viele. Aus der Ferne wirkt es, als würde eine Wolke den Himmel verdunkeln. Sie kommen von überall her.“
  Über die Minnesänger des Mittelalters und ihr Verhältnis zum Singvogel referiert locker und kenntnisreich Tristan Marquardt: „ach, ach, kleiniu vogellîn müezzen jârlang trûrig sîn.“ Beglückend, wieder einmal Johannes Bobrowskis kurze Erzählung „Das Käuzchen“ zu lesen: „Dann fliegt das Käuzchen weiter und schreit auch wieder im Flug. Und wir kommen uns vor, als seien wir jetzt aufgewacht.“


Schreibheft: Nr. 88, Februar 2017   externer Link
(Nieberdingstr. 18, 45147 Essen), 13,– €.

Poet: Nr. 22, Frühjahr 2017   externer Link
(poetenladen, Blumenstr. 25, 04155 Leipzig), 9,80 €.

Merkur: Märzheft 2017   externer Link
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), 12,– €.

Akzente: Heft 4, 2016   externer Link
(Postfach 860 420, 81631 München), 9,60 €.

 

 
Michael Buselmeier
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