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März 2018
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Zeitschriftenlese   (Letzte Ausgabe)  –  März 2018
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Dies ist vermutlich meine letzte Zeitschriftenlese. Vierzig Jahre lang habe ich die Sendung, anfangs im Wechsel mit Stephan Reinhardt, später mit Michael Braun, für das Literaturprogramm des Saarländischen Rundfunks gemacht, zuerst von Arnfrid Astel, dann von Ralph Schock gefördert. Um 1978 war die Stellung der literarischen und kulturpolitischen Blätter noch eine ganz andere als heute: Sie wurden gesellschaftlich beachtet und breit diskutiert. In fast allen Feuilletons der überregionalen Tageszeitungen sowie in den Rundfunkprogrammen gab es eine regelmäßige Zeitschriftenschau. Die Qualität der kleinen Magazine ist heute nicht geringer als in den 70er und 80er Jahren, doch es fehlt ihnen zunehmend öffentliche Resonanz, Kritik und Aufmunterung. So gehen die Auflagen zurück und die Ideen verdorren.
  Diese großartigen Zeitschriften (ich nenne stellvertretend Lettre International, Merkur, Akzente, die manuskripte, das Schreibheft, die Neue Rundschau) haben mich immer wieder in ihren Bann gezogen. Sie haben mich angeregt, aufgeregt, belehrt und bereichert, überhaupt geistig am Leben gehalten. Eine von ihnen, die ich länger nicht zu Gesicht bekam, lag kürzlich in meinem Briefkasten. Sie heißt allmende und trug früher den Untertitel „Zeitschrift für alemannische Literatur“ (heute fehlt hier, nicht ohne Grund, das Wort „alemannisch“). Es handelt sich um die 100. Ausgabe vom Dezember 2017, erschienen im 37. Jahrgang. So lange hat man also, von keinem bedeutenden Verlag gefördert und von keiner Akademie alimentiert, durchgehalten.
  Gegründet wurde allmende 1981 zur Stärkung der alemannischen Sprachregion. Damit gemeint waren Südbaden und die angrenzenden Randgebiete Frankreichs (das Elsass), der Schweiz und Österreichs. Zu den Gründungs-Herausgebern zählten über alle Grenzen hinaus berühmte Autoren wie Martin Walser und Adolf Muschg. Der viele Jahre lang zuständige Redakteur war Manfred Bosch aus Konstanz. Der Begriff „Allmende“ bezeichnet seit alters ein Stück Land, das von den Mitgliedern einer Gemeinde zusammen genutzt wird. Es ging also um Nähe, um Heimat, um regionale Poesie – Werte, die in der Gründungsphase hoch im Kurs standen. Kurz zuvor waren „Die Grünen“ als Bundespartei entstanden; man kämpfte gegen geplante Atommeiler im südbadischen Whyl und andernorts, propagierte ein „Europa der Regionen“, wollte jedoch mit der Zentrale in Brüssel und der bedrohlichen Globalisierung nichts zu tun haben.
  Im Jahr 2003, nach 71 Ausgaben, übernahm die „Literarische Gesellschaft“ in Karlsruhe allmende und rettete die Zeitschrift so vor dem Aus. Seither haben sich die Gewichte etwas verschoben. Schwerpunkt-Themen allgemeiner Art (etwa „Krise der Männlichkeit?“ aus dem Jahr 2014) führten vom Alemannischen weg in den nordbadischen Raum und weiter nach Berlin und Leipzig, schließlich sogar, mit der Nummer 99, nach Istanbul, worüber nicht alle treuen Leser glücklich gewesen sein dürften.
  Nun, zur 100. Ausgabe, hat man sich wieder zusammengerauft. Im Editorial reflektiert der in Karlsruhe zuständige Redakteur, Hansgeorg Schmidt-Bergmann, die politische Geschichte der in die Jahre gekommenen Zeitschrift, ihren Zusammenhang mit der Renaissance der Mundart-Dichtung und des politischen Lieds, der Frauen- und der Friedensbewegung. Einer, der von Anfang an dabei war, der 1926 geborene Tübinger Volkskundler Hermann Bausinger, erinnert an die Gründungsphase um 1980 in Martin Walsers Haus in Nussdorf am Bodensee. Walser, von dem auch der beziehungsreiche Titel allmende stammt, habe die Bezeichnung „Heimatschrifteller“ als Ehrentitel angesehen. Die regionale Prägung der Literatur sollte zum Auswahlkriterium für die neue Zeitschrift werden. Heimat sei ein gutes Wort, das gerettet zu werden verdiente. Auch Manfred Bosch spricht im Rückblick von der „Bindung an die Region“ als einziger Vorgabe. Etwa um die gleiche Zeit habe Klaus Wagenbachs Freibeuter als eine Art Gegenprogramm „Weltläufigkeit“ angestrebt.
  Martin Walser ist der Hausheilige von allmende geblieben. Im aktuellen Heft findet sich ein Vorabdruck aus seinem im April erscheinenden Roman „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“. Markus Mertens, der ihm zum 90. Geburtstag gratuliert, nennt ihn „leicht provozierbar und immer zum nächsten Seitenhieb bereit“ (was stimmt) und zugleich „den vielleicht wichtigsten Literaten des 20. Jahrhunderts“ (was bei aller Sympathie etwas übertrieben anmutet).
  Man trifft in diesem an seine Quellen zurückkehrenden Band auch auf eine poetische Dankrede des aus Vorarlberg stammenden Arno Geiger zur Verleihung des alemannischen Literaturpreises 2017. „Das Schönste, was wir von unseren Vorfahren haben“ sei – liest man dort – „die Sprache mit dem ihr innewohnenden Geist und den dort eingelagerten Gefühlen.“ Geiger erzählt von seiner bodenständigen Familie, in der Reisen nicht vorgesehen waren, von der gebirgigen Landschaft und den Wörtern, die für die Leute eine Rolle spielten. Auch Wilhelm Genazino, der aus Mannheim kommt und in Frankfurt lebt, ist sich bewusst, an die Nähe, „an die heimatliche Sprache, also an den heimatlichen Jargon und an den Dialekt“ gebunden zu sein.
  Am Ende steht eine kleine Erinnerung an den bedeutenden expressionistischen Lyriker Ernst Stadler, der aus dem Elsass stammte und 1914 mit erst 31 Jahren an der Westfront gefallen ist. Sein Grab hat sich in Straßburg erhalten.
  Das im Leipziger Poetenladen erscheinende Literaturmagazin poet nennt sich nun schon zum zweiten Mal poetin. Zunächst hielt ich die Umbenennung für einen flüchtigen Scherz, doch sie scheint ernst und auf Dauer gemeint zu sein und ist offenbar der in Leipziger Literatenkreisen grassierenden politischen Korrektheit geschuldet, die am liebsten sämtliche Maskulina in Feminina umwandeln würde. Sie wäre in dem Fall jedoch überflüssig, da im ursprünglichen Titel das englische Wort „poet“ enthalten ist, das beide Geschlechter abdeckt.
  Die in der 24. Ausgabe der poetin geführte „Wasserglas“-Diskussion bleibt gegenüber den substantiellen Problemen der Dichtung eher peripher. Tatsächlich steht das Wasserglas symbolisch für die klassische Lesung, die den Vorlesenden und seinen Text in einer häufig etwas steifen Inszenierung in den Mittelpunkt rückt. Sie muss deswegen nicht langweilig ausfallen; es geht schließlich um Rhythmus, Stimme und Klang. Man kann gute Gedichte auch im Stehen oder im Umhergehen vortragen, sogar auswendig; und man kann sie mehrfach wiederholen. In den angeblich so spießigen Jahren um 1960 hat Klaus Kinski mit wilden Rezitationen der Gedichte Villons und Rimbauds Säle wie Kirchen gefüllt.
  Um Kinskis Wildheit geht es in den poetologischen Gesprächen der poetin jedoch nicht, eher um „Produktpräsentation“, eine „Performance“ mit Hilfe von Bildern, Video- und Musik-Einspielungen gegen die angebliche Langeweile des gesprochenen Worts und das (für den Lesenden notwendige) Wasserglas. Lichtregie und Sound, Organisation und Moderation – alles muss heute perfekt sein. „Die Autoren“, verkündet die derzeit erfolgreichste deutsche Lyrikerin Nora Gomringer, „müssen sich wesentlich mehr professionalisieren.“ Doch Thomas Kling, der seine Karriere auf der Düsseldorfer Lesebühne Mitte der 80er Jahre mit „Sprach-Installationen“ begann, hat bereits 2001 die Warnung ausgesprochen: „Bittebitte keine Mätzchen (Performance) mehr!“
  Lehrreich ist das lange Gespräch von Martina Weber mit Mikael Vogel über dessen jüngsten Gedichtband „Dodos auf der Flucht“. In jedem dieser Gedichte geht es um eine ausgestorbene Tierart. Wie sahen diese Wesen aus, welche Geräusche gaben sie von sich ... Mikael Vogel sucht naturhistorische Museen auf, er studiert paläontologische Ausgrabungsberichte – „ein großer, elegischer Stoff“, befindet er, der „äußerste Sachlichkeit“ verlange. Der Autor hat ihm auch essayistisch nachgespürt.
  Mit Beiträgen zur Kritik der Massen-Einwanderung sowie am Vordringen des Islam hat Tumult, die „Vierteljahrsschrift für Konsensstörung“, im fünften Jahr ihres Bestehens in linksliberalen Intellektuellen-Kreisen für einige Aufregung gesorgt. Dass man sich auch um die Lage der Kunst Gedanken macht, zeigt ein Beitrag des polnischen Schriftstellers und Regisseurs Antoni Libera, ausgehend von der „Krise“ der europäischen Kultur, die nicht mehr „im Glauben, in der Religion, im Mythos verwurzelt ist.“ Vom „Sacrum“ losgelöst, sei sie „einer beispiellosen technologischen Revolution“ ausgesetzt.
In der Folge, so Libera, verriet ein Teil der Intellektuellen eine als autonom verstandene Ästhetik und trat in den Dienst des Kommerzes. Andere begaben sich auf die Jagd nach dem immer Neuen und probten die ständige Tabu-Verletzung. Antoni Libera, als Anhänger einer konservativen Ästhetik, als „Nachfahre des Propheten, Priesters und Weisen“, sieht seine Aufgabe darin, aufzubegehren im Bewusstsein einer großen literarischen Tradition, die von den griechischen Tragikern bis zu Kafka und Beckett reicht.
  Abschied nehmen muss ich noch von meiner Lieblingszeitschrift Sinn und Form. Sie hat, auch von Peter Huchel her, eine bedeutende Vergangenheit in der DDR, und sie hat als einzige von deren Kulturzeitschriften die Wende von 1989 überlebt. Im jüngsten Heft las ich eine Reihe gelungener Texte, auf die ich hier nur hinweisen kann, etwa Aharon Appelfelds israelische Erzählung „Am Rande unserer Stadt“, Hans Dieter Zimmermanns Erinnerungen an den Dichter Franz Tumler und Ingo Schulzes Nachruf auf die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Silvia Bovenschen.
  Sibylle Lewitscharoff widmet sich Paul Gerhardt, dem evangelisch-lutherischen Theologen und Dichter, der in finsterer Zeit von 1607 bis 1676 lebte. Seine auch von Johann Sebastian Bach vertonten Kirchenlieder, „einfach und innig zugleich“, gehören „zum Schönsten der religiösen Dichtung in deutscher Sprache.“ Sie wenden sich sowohl an das Volk, das nicht lesen kann, als auch an die Gebildeten. Gerhardts hinreißendes Lied „Geh aus mein Herz, und suche Freud / in dieser lieben Sommerzeit / an deines Gottes Gaben ...“ ist nur wenige Jahre nach dem Ende des grauenvollen 30jährigen Krieges entstanden.

allmende Nr. 100, Dezember 2017   externer Link
(Literarische Gesellschaft, Karlstraße 10, 76133 Karlsruhe), 12,– €.

poetin: Nr. 24, Frühjahr 2018   externer Link
(poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig), 9,80 €.

Tumult: Nr. 4, Winter 2017/18   externer Link
(Frank Böckelmann, Nürnberger Straße 32, 01187 Dresden), 8,– €.

Sinn und Form: Heft 2, 2018   externer Link
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 11,– €.

 

 
Michael Buselmeier
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