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Gabriele Weingartner
Tanzstraße

Edenkoben – eine sterbende Stadt?
Gabriele Weingartners vierter Roman Tanzstraße
Kritik
Gabriele Weingartner | Tanzstraße   Gabriele Weingartner
Tanzstraße
Roman
Limbus Verlag 2010
251 Seiten, 19,80 Euro

Relativ spät, mit 48 Jahren, hat die als Journalistin tätige Gabriele Wein­gartner ihren ersten Roman Der Schneewittchensarg (1996) veröffentlicht, eine geradlinig erzählte Geschichte, die in ironischem Ton von den Erleb­nissen eines neurotischen Anpassers in Westberlin berichtet. Auch im Mittelpunkt ihres zweiten Romans, Bleiweiß (2000), steht ein Anti-Held, dessen krummen Wegen und Blicken die Erzählerin zur Zeit der Wende folgt, eine spannende Ost-West- Geschichte. Fräulein Schnitzler endlich, der dritte Roman (2006), ist eine opernhafte Erzählung um Liebe und frühen Tod der Tochter des österreichischen Dichters Arthur Schnitzler.

Mit dem neuen Werk Tanzstraße wagt Gabriele Weingartner etwas, das andere Autoren nicht selten schon mit dem ersten Buch tun, sie aber bislang zu vermeiden wusste: Sie erzählt insistierend von sich selbst, von ihrer Nachkriegs-Kindheit und Jugend im pfälzischen Edenkoben (im Buch stets schamhaft mit E. abgekürzt), lässt längst gestorbene Nachbarn, kleine Ge­schäftsleute, Bewohner der Tanzstraße und das damals karge Provinzstadt­leben Revue passieren. Und fast alle kommen ziemlich schlecht dabei weg.

Lilian, eine nach dem Ufa-Filmstar Lilian Harvey getaufte Archivarin mittel­alterlicher Handschriften in Berlin, ist im April 2004 nach 30 Jahren in ihren Geburtsort zurückgekehrt. Sie hat Martin, ihren Geliebten, einen jungen On­kologen, der ihr Sohn sein könnte, nach einem Streit verlassen und ist nun auf der Suche nach dem „Beginn ihrer Herzlosigkeit”, dem „Anfang ihrer Käl­te”, was nicht recht einleuchtet, da sie eher kindlich-hilflos und zur Melan­cholie neigend denn kühl oder gar kalt wirkt; eine übersensible Person, die sich als alte Frau empfindet und sich die Altersflecken von den Armen zu kratzen versucht.

Die Tanzstraße, in der sich das Textilfachgeschäft ihrer Eltern befand, er­scheint ihr völlig verändert. Die alten Läden sind verschwunden, viele Häuser abgerissen, so auch der gelegentlich von Ratten aus dem nahen Elends­viertel „Russischer Hof” heimgesuchte „Friseursalon Gripp”, ein beliebter Treffpunkt der Frauen, wo sie sich im Spiegel verwandeln und ihre Geheim­nisse austauschen konnten:

„Die Frauen befanden sich jedenfalls in einem Ausnahmezustand, wenn sie in Frau Gripps Salon saßen, so schien es mir damals. Oder entdeckten sie vielmehr ihr wahres Selbst? Die böse Krankenschwester, die mich im Be­handlungszimmer unseres Hausarztes immer so hart anfasste, sah mit nas­sem Haar – ohne Haube und Rotkreuz-Brosche auf der Brust – viel harmloser, ja geradezu einfältig aus. Und die Frau das Apothekers, die man Frau Apotheker ansprach, obgleich sie nie eine Universität von innen ge­sehen hatte, flößte mir in Frau Gripps Salon gleichfalls keinen Respekt mehr ein.”

Doch Rückständigkeit und provinzielle Enge haben sich erhalten. E. sei „eine sterbende Stadt”, heißt es, „verloren” und „verkommen”, ohne Kran­kenhaus, Kino, Lokalzeitung heute, ein Ort, dessen Zerbröseln Lilian keines­wegs nostalgisch, vielmehr mit einer gewissen Zustimmung beobachtet, als hätte er dieses Ende verdient.

Lange genug, meint sie, habe sie hier als Kind unter ihren zerstrittenen Eltern gelitten, der sie beim kleinsten Anlass verprügelnden Mutter und dem ständig fremdgehenden Vater, unter der katholischen Erziehung, der Kon­trolle der Nachbarn, dem groben Dialekt, den „kratzigen Leibchen, an denen man Strümpfe mit Strapsen fixierte.” Die ärmliche Nachkriegszeit mit Eis­blumen am Fenster und Nachttöpfen unter dem Bett lebt in diesem Buch wieder auf, eine Zeit, als es in der Volksschule noch getrennte „Pissrinnen” für katholische und evangelische Kinder gab, als die „Elektrische”, die „Schneck” genannt wurde, noch am Gebirge entlang durch die Weindörfer fuhr und die Menschen alles Unangenehme einschließlich der Nazizeit ver­drängten.

Dass sich gegen Kriegsende, auf der Flucht vor den Alliierten, französische Nazis mit ihren „aufgedonnerten Frauen” in der Vorderpfalz aufhielten, im „Café Bauer” im Zentrum von Edenkoben „Orgien” feierten und sogar die Gründung eines Radiosenders planten, ist heute kaum noch bekannt. Gabriele Weingartner vermutet sogar, dass sich unter ihnen der antisemi­tische Arzt und berühmte Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline be­funden haben könnte; er soll der Friseuse, Frau Gripp, in betrunkenem Zu­stand ein Furunkel aufgeschnitten haben.

Während die Eingeborenen, tote wie lebende, in diesem Roman mit wenigen Ausnahmen aufdringlich und unsympathisch dargestellt sind, als „Gespen­ster”, rückt die schlesische Flüchtlingsfamilie von Simmern, die es nach E. verschlagen hat und die so ganz anders ist, in das günstigste Licht. Frau von Simmern wirkt stets hochmütig und distanziert, auch die Geschwister Uli und Ursula machen sich mit den einheimischen Kindern, von denen sie gequält werden, nicht gemein. Schlank und engelhaft hellblond, scheinen sie aus einer höheren Welt zu kommen. Ihre Gefühle, Gesten und Blicke, selbst eine „nur angedeutete Lippenkräuselung”, finden eingehende Beachtung. Denn Lilian, die Schreiberin, liebte als Kind diese Außenseiter, ohne Gegenliebe zu erfahren. Allerdings – mit dem übergescheiten Uli (der Erich Kästners Fliegendem Klassenzimmer entstammt), besuchte die Sechzehn­jährige Filme wie La Strada und ließ sich von ihm sogar unter der Kuppel des Siegesdenkmals oberhalb von E. entjungfern und dabei schwängern, was nun doch etwas nahe an die Kolportage rückt.

Dieses sehr persönliche, autobiographisch inspirierte Buch ist in seinem Kern ein Haken schlagender Briefroman. Die nach E. zurückgekehrte Lilian schreibt, hinter einer Sonnenbrille getarnt den Ort durchstreifend, insgesamt neun Briefe mit Erinnerungssplittern an Martin in ihr Notebook. Hinzu kommen wenige Kapitel, in welchen das Geschehen aus der Perspektive des geistig etwas behäbigen und schwach profilierten Geliebten betrachtet wird – alles geschrieben mit leichter Hand und einer stilistischen Eleganz, die sich dem psychologischen Realismus verpflichtet weiß. Der kommt freilich im Ich- oder Briefroman, wo radikale Introspektion gefragt ist, nicht ganz so glanzvoll zur Geltung, wie das bei einem vielstimmig instrumen­tierten Erzählen der Fall wäre, das den Worten und Taten der Tanzstraßen-Bewohner mehr Raum böte. Auch die Thomas Mann'sche Ironie, die Gabriele Weingartners bisherige Bücher so prägte, tritt im Briefroman natur­gemäß zurück. Gleichwohl haben es wir hier mit dem ersten wirklichen Eden­koben-Roman zu tun, ein Buch über die Stadt selbst und weniger über die vom Wein geprägte Landschaft, in dem auch die königliche Villa Lud­wigshöhe, der den Ort durchfließende Triefenbach und die schlauchartig en­gen Gässchen („Pädel” genannt) mitspielen.

Michael Buselmeier   28.07.2010   
Michael Buselmeier
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