poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 
November 2014
0      
Zeitschriftenlese  –  
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Die jüngste Ausgabe des Literaturmagazins poet enthält neben neuen Gedichten und Prosastücken zwölf kommen­tierte Gegen­warts­poeme. Im Mittelpunkt des Bänd­chens stehen Gespräche über Ver­gäng­lichkeit und Tod, ein viel­schich­tiges Thema, das Schrift­stel­ler seit jeher be­schäf­tigt hat. Kann man heute, so lautet die Frage präzi­ser, noch etwas schaffen, das den An­spruch erhebt, die eigene Le­bens­zeit zu über­dauern und sich einfügt in den Strom der Über­lieferung, oder ist ein sol­ches Bemü­hen vor­weg schon ver­geb­lich, ja lächer­lich?
  Dem 1953 geborenen Autor Georg Klein ist bereits die Idee des Sammelns und Archivierens iden­tisch mit dem „Anhäufen von altem Kram“ und folglich „anti­pathisch“. Im Gespräch mit Gisela Trahms gefällt er sich in der Rolle des vir­tuel­len Bilder­stür­mers, wenn er die „übervollen Speicher der Museen“ leichten Herzens der Ver­nichtung durch „Luft­minen“ preis­geben möch­te und ange­sichts histo­rischer Bauten kühl konstatiert: „Doch, doch, Weg­reißen hat schon was.“ Auch für Literatur­archi­ve zeigt er wenig Sympa­thie. Wenn ein Text alles, was zu ihm geführt habe, hinter sich lasse, sei dies „ein Akt der Be­frei­ung, ja der Erlö­sung.“ Warum sollte man Notizen, ältere Fassungen, die Brille des Ver­fas­sers, sein „Kokain­tütchen“ auf­bewahren?
  Leicht zynisch erhebt sich Georg Klein auch über die angeblich so „trostlose Ära der histo­risch-kriti­schen Ausgaben“, die ja eine Art „Text­museum“ vor­stellen und mit akribischem Auf­wand gegen das Ver­gessen be­trieben werden. Man müsse die Vergänglichkeit eines Textes und das Ver­schwinden eines Dich­ters schon zu Leb­zeiten akzep­tieren: „Seit es bürger­liche Literatur gibt, ist es die Regel, dass die meisten Au­toren das Vergehen ihrer Autor­schaft mit­erleben.“ Ihre Bücher sind immer schwie­riger, schließlich gar nicht mehr erhältlich. Der Literatur­betrieb ver­liert jedes Inter­esse an ihnen; auch der Schreib­pro­zess selbst wird immer müh­seliger. Gleich­wohl gibt es „dieses angst­volle Ver­langen nach ewigem Anhalten und maßloser Dauer.“ Dem hält Klein schroff entgegen: „Ich bin dafür, dass gestor­ben wird!“ Ein Dichter müsse Aufmerksamkeit und Zuwendung für sein Werk zu Leb­zeiten erfahren. Traurig, wer auf die Nachwelt hoffen müsse.
  Während Georg Klein also für ein „rechtzeitiges“ Sterben plädiert, findet der fast 30 Jahre jüngere Clemens J. Setz sterben zu müssen „peinlich“. Dabei wird Setz ein beson­derer Hang zum Morbiden nachgesagt. Er sammelt Meldungen von merk­würdi­gen Todes­arten, beschäftigt sich be­son­ders mit bizarren Formen des Selbst­mords und verwendet in seinen Büchern grausame Szenen und pla­kative Bilder, kann sie aber nach eigenem Be­kunden „nur mit Mühe betrachten.“ Er denke, sagt Setz im poet, „dass es gut ist, wenn man in entlegene Winkel schaut, wenn man Myste­rien festhält und einrahmt, wenn man Unbe­greif­liches sammelt.“
  Der Tod – das hat Bazon Brock in den 60er Jahren sogar plakatiert – ist ein zum Himmel schrei­ender Skan­dal, „eine ver­dammte Schweine­rei“ und muss „abge­schafft“ werden. Man spüre, so Setz, „den rauen Gegenwind des uralten Ausge­grenzt­wer­dens vom Rudel oder der Herde.“ Das todes­nahe Tier werde von den anderen weg­gebissen. Er sei ein „naiver Autor“, behauptet Setz, der „das Beson­dere nur im Besonde­ren“ finden könne (was immer das heißt).
  Für die 1964 in Offenbach geborene, seit langem in Paris lebende Anne Weber ist der Tod „der tiefste An­trieb zum Schreiben.“ Im Schreiben unter­nehmen wir vielfältige Anstren­gungen, „um zu den Toten hinzu­gelangen.“ Auch Verletzungen, Scham, Demü­tigun­gen, Verluste und Wut spie­len hier mit: „Alles, was im normalen Leben nach­teilig ist oder zerstörerisch, wird dadurch, dass man etwas er­schafft damit, in Schön­heit verwandelt.“
  Fragen nach der Zukunft der Literatur, ihren Formen und Inhalten, ihrem Stellen­wert in der Gesell­schaft und dem Einfluss der neuen Medien auf den Schreib­prozess und die Insze­nie­rung von Autoren wurden kürz­lich bei einer Klausur­tagung der Kunst­stiftung Nord­rhein-West­falen auf Burg Gehrden diskutiert. Die höchst leben­dige und vielseitige Zeit­schrift Volltext publiziert in ihrer jüngsten Aus­gabe Statements von elf Tagungs­teil­neh­mern, sämt­lich renom­mierte Schrift­stel­ler.
  Der radikalste, zugleich relevanteste Text scheint mir der von Marion Posch­mann zu sein, die vor allem als Lyrikerin An­erken­nung findet. Sie laviert nicht herum zwischen den soge­nann­ten Anfor­de­rungen der digi­talen Welt und dem Geheimnis der Autor­schaft, sondern be­zieht eindeutig Stellung in einer Weise, die die Feuil­letons zu­min­dest auf­merksam machen sollte.
  Für Marion Posch­mann ist die Literatur das einzige Medium, „das dem Subjekt eine kritische Selbst­refle­xion ermög­licht.“ Ich-Per­spektive und Innenschau der Figuren sind für sie „Kern­kompe­ten­zen“ der Lite­ratur. Stoffe sind da­gegen modisch, dem Zeitgeist unter­worfen, meint Posch­mann, und das werde auch in Zukunft so bleiben, insofern halte sie „die Frage nach den Inhalten der Zukunft für irrelevant.“
  Literatur ist „eine Form von Intimität, die zwischen dem Autor und dem Buch sowie zwischen dem Leser und dem Buch stattfinden sollte, nicht aber zwischen Autor und Leser“, so Posch­mann, und sie fährt mit Stolz fort: „Ich bin kein Lohn­schreiber, sondern Künst­lerin, und ich lehne es ab, meine Bücher in erster Linie als Produkt und die Leser meiner Bücher ent­sprechend als Kunden zu betrachten, deren Rück­mel­dungen ich relevant finden muss, damit ein Geschäft zu­stande kommt.“ Sie will nicht Teilchen der technischen Welt sein, an Blogs und Mitmach-Projekte im Internet angeschlossen. Und so endet sie: „Viel­leicht würde es helfen, die Unter­scheidung zwischen U und E wieder ein­zuführen.“
  Das ist nun wahrlich eine kleine Provokation, denn seit rund 50 Jahren bemühen sich fast alle am Literatur­betrieb Betei­ligten (Journa­listen, Autoren, Profes­soren) mit enor­mem Eifer, die angeb­lich unde­mokra­tische Unter­schei­dung zwischen Hoher und Tri­vial­kultur ver­schwinden zu machen. Wer dabei nicht mit­spielt, gilt schnell als „Reak­tionär“.
  In der November­ausgabe des Merkur unternimmt der Literaturwissenschaftler Ingo Meyer einen Gang durch die gegenwärtige deutschsprachige Roman­produktion, einen Rundblick, von Theorie beflügelt, zugleich elegant und scharf­sinnig anhand von Beispielen formu­lierend. Konstatiert wird der Niedergang einer Gattung. Ver­falls­ten­denzen inner­halb dieser „Königs­dis­ziplin der Epik“, die einst „Totalität“, ja „eine ganze Welt“ bedeutet hatte, werden angesprochen. Dabei sind die Unken­rufe aus den 80er Jahren, es werde nicht mehr erzählt, längst ver­stummt. Die Roman­schreiber haben zur Konven­tion zurück­gefunden.
  Meyers Rundschlag beginnt mit der „Erschlaffung der Altvorderen“. Gemeint sind Günter Grass und Martin Walser, während der ähnlich alte Paul Nizon als „letzter Aufrechter“ erscheint, der mit seiner „diskon­tinu­ierlichen Sub­jektivität“ die klassische Moderne fort­schreibt. Von Grass heißt es dagegen, er habe seit langem „jede sprachliche Sen­sibilität verloren.“ Seit den „Hundejahren“ sei ihm kein ästhetisch relevanter Text mehr gelungen.
  Von der (euphemistisch gesprochen) „mittleren Generation“ erhalten Peter Handke, Jochen Schimmang, Bodo Kirch­hoff und die als „letzte große Ironi­kerin“ apostr­ophieret Brigitte Kronauer ein karges Lob. Hart geht Ingo Meyer mit der 1974 geborenen Juli Zeh und ihren „Idee­nromanen“ ins Gericht, in denen „nichts eigent­lich literarisch entfaltet“ werde. Das Dilemma ihrer umfang­reichen Bücher liege neben der auf­dring­lichen political correctness darin, „dass a priori alles ent­schieden“ sei und nur „Meinungen“ geäußert würden.
  Auch Uwe Tellkamps viel gerühmter Wende-Roman „Der Turm“ und Clemens Meyers im sub­prole­tarischen Milieu von Leipzig nach der Wende spielendes Debüt „Als wir träumten“ kommen schlecht weg. Im ersten Fall ist, sich steigernd, von „opulenter Sprache“, „Schwiemelei“ und „rhetorischer Stickluft“ die Rede, im anderen wird eine stupide, „schier endlose Abfolge sinn­freier Gewalt­exzes­se“ moniert.
  Ingo Meyer vermutet, „dass die Ödnis in den Neunzigern begann“, als die ameri­kanischen Erfolgs­romane auf breiter Front bei uns Ein­zug hielten. Immer geziel­ter würden Lese­interessen bedient, und vielleicht sei es genau das, „was empha­tische Literatur nicht tun sollte“ (obwohl andererseits der Leser doch auch ein Anrecht auf Unter­haltung hat – oder etwa nicht?). Meyer schließt seine Ausführungen so: „Debattenfähige Bücher“ haben nun mal, auch und gerade bei der Literaturkritik, „viel größere Erfolgs-Chancen als ein minutiös kalkuliertes Sprachkunstwerk, das wissen heute auch die Debütanten.“
  Die jüngste Ausgabe von Lettre International macht den Versuch, die satt und stumpf gewordenen Theater­geister wieder auf­zuwecken mit gleich elf funda­mentalen Bei­trägen zur Situa­tion des inter­nationalen Theaters, etwa von Alain Badiou und Georges Banu. Marleen Stoessel berichtet über Peter Brooks aufregende „Theater­reisen ins mensch­liche Gehirn.“
  Ich will besonders auf das bedeutsame Gespräch hinweisen, das der Publizist Frank M. Raddatz mit dem Theater- und Film­regisseur Hans-Jürgen Syberberg geführt hat, und zwar in Nossen­dorf, einem kleinen Ort in Vor­pommern. Dorthin, in sein Geburtshaus, ist der 1935 geborene Syber­berg nach 1989 wieder zurück­gekehrt, für ihn „ein idealer Raum“, in dem er ein öffentlich zugängliches Archiv einrichten will, worin er alles, was von ihm und über ihn und sein Werk geschrieben wurde, versammelt, dazu Manu­skripte, Kleider, Bücher, Photos, Korres­pon­denzen.
  Seit dem Jahr 2000 unterhält Syberberg auch eine Webpage, auf der er täglich seine oft kritischen Notizen zu Vorfällen im Dorf und der Welt in Form von Photos, Text­dokumenten und Anmerkungen präsentiert – Montagen, die er sowohl als Zeitung wie als Buch versteht. Das Internet ist für ihn eine Fundgrube.
  Syberberg hat als Photograph im Gefolge seines Vaters angefangen. Der Umgang mit der Kamera führte ihn zum Film und dann zum Thea­ter, an Brechts „Berliner Ensemble“. Er drehte einen Doku­mentar­film über Fritz Kortner, den großen Mann des Welt­theaters, stän­dig bemüht, den Bildern „intel­lek­tuelle Härte“ und „Struk­tur“ zu­grunde zu legen. Es folgten Syberbergs legendäre Filme über Ludwig II., Karl May, Adolf Hitler, Parsifal. Nicht zu ver­gessen die mono­logi­schen Theater­projekte mit der Schauspielerin Edith Clever über Kleists „Penthe­silea“, „Die Marquise von O.“ oder „Die Nacht“, wobei Clever sämt­liche Rollen spielte, eine Kargheit, die auch aus der Not heraus entstand, da Syberberg sich keine weiteren Dar­steller leisten konnte. Alle diese Arbeiten haben eine Affi­nität zur deutschen Geschichte wie zum Pathos, sie sprechen in jenem hohen prophe­tischen Ton, den Hölder­lin in die deutsche Lyrik und Nietzsche in die Philo­sophie getragen hat.


poet: Nr. 17, Herbst 2014   externer Link
(poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig), 9,80 Euro.

Volltext: Nr. 3, 2014   externer Link
(Porzellangasse 11/69, A-1090 Wien), 2,90 €.

Merkur: Heft 11, November 2014   externer Link
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), 12,– €.

Lettre International: Nr. 106, Herbst 2014   externer Link
(Erkelenzdamm 59/61,10999 Berlin), 13,90 €.

Michael Buselmeier   12.11.2014    

 

 
Michael Buselmeier
Lyrik
Prosa
Reden und Texte
Gedichtkommentar