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Zwei Erinnerungen an Inger Christensen

Am Freitag ist die große dänische Dichterin 73-jährig verstorben

Inger Christensen | Das Schmetterlingstal
Inger Christensen
Das Schmetterlingstal
Ein Reqiuem
Suhrkamp 2008
Inger Christensen | Samlede digte
Inger Christensen
Samlede digte
Gyldendal 1999
Wenn die Verbindung der Wörter unter­einander verloren, das dünne, fast unsichtbare Netz, das sie miteinander verbindet, gerissen scheint, dann ist Gefahr im Verzug und „die große Unlesbarkeit der Welt“ bedrohlich nah. „Warum schreiben, wenn die Unlesbarkeit anhält?“, das fragte sich Anfang der achtziger Jahre die dänische Dichterin Inger Christensen – und fing trotzig an, einige Wörter aufs Papier zu schreiben, welche zunächst nur eine „Wildnis unzusammen­hängender Phänomene ergaben“, wie sie in einem ihrer fulminanten Essays erklärt. Das änderte sich, als mit einem Mal „die Wörter selbst anfingen, die Entschei­dungen zu treffen“; so beschreibt Christensen den Entwicklungs­prozeß hin zu ihrem großen Gedicht „Alphabet“, das nach den Regeln der Fibonacci-Reihe konzipiert ist, einer mathematischen Reihe in der jedes Glied die Summe der beiden voran­gegangenen Glieder darstellt. Sie brauche beim Schreiben solche Modelle, um „etwas heraus­zubekommen, das anderswo herstammt, nicht bloß aus der eigenen Seelentiefe“, hat sie gesagt.

„Alphabet“ beginnt folglich mit nur einem Vers, einer Welt­beschwörung, die sich dem Leser einprägt, hat er sie nur einmal gelesen: „die aprikosen­bäume gibt es, die apri­kosenbäume gibt es“.

Es muß 1995 gewesen sein, ich hatte soeben für diese Zeitung ein Gespräch mit dem Welten­wanderer und Lyrikkenner Joachim Sartorius über seinen „Atlas der neuen Poesie“ geführt, wohl eines der besten Bücher zur zeitgenössischen Lyrik, die es heute gibt, da las ich, in eben jenem „Atlas“, zum ersten Mal einen Auszug aus Inger Christensens „Alphabet“. Die Sprache, das war, man spürte es, für Christensen eine unmittelbare Verlängerung der Natur. So Schreiben, wie Bäume Blätter treiben, das war ihr Credo.

Es sollten noch drei oder vier Jahre vergehen, bis ich die Dichterin bei einem Fest im Park des Künstlerhauses „Schloß Wiepersdorf“ auch selbst lesen hören konnte. Die Veranstalter hatten viel zu viele Klappstühle aufgebaut, und die kleine Gruppe von Zuhörern, nein, die wenigen versprengt einzeln Sitzenden, wirkten ziemlich verloren. Inger Christensen aber schien das nicht zu stören. Sie blickte kurz in die Runde und murmelte, ganz ohne Ironie in der Stimme und mit ihrem schönen, leicht hingenuschelten dänischen Akzent, etwas wie: „Nun gut, dann les' ich eben für die Bäume“. Auch oder gerade die Dichtung war für sie Teil der großen „Erzählung von der Welt“, in der Ursprung und Entstehung „unauflöslich verkettet sind“.

Ein zweites Mal durfte ich Inger Christensen in Dresden anläßlich des Poesiefestivals „Bardinale“ begegnen, dem (teilweise von den Dresdnern völlig unbemerkt!) schon einige große Dichter ihre Aufwartung machten. Christensen las, neben anderen Teilnehmern des Festivals, am Abend in der „Scheune“ aus ihrem Sonettenkranz „Das Schmetterlingstal“. Am Tag noch, im Garten des Hotels, in dem sie wohnte, hatte ich sie tatsächlich gefragt, ob sie denn diese ganzen Pfauenaugen, Bläulinge, Trauermantel und Admirale, die in ihrem Gedicht vorkämen, wirklich so gut kenne, oder ob sie ihr Wissen darüber aus Schmetterlingsbüchern beziehe. Die Dichterin schwieg eine Weile; und dann sagte sie, mit tonloser Stimme: „Das ist aber eine langweilige Frage.“ Dann schwiegen wir beide wieder eine Weile und ich dachte, na ja, langweilig, wie recht sie doch hat. Aber etwas besseres, klügeres war mir in dem Moment einfach nicht eingefallen; und ich wollte doch unbedingt, daß sie mir etwas über das „Schmetterlingstal“ erzählten würde; über ihr Schreiben.

Genau das geschah. Zum nicht geringen Erstaunen eines namhaften Literaturkritikers, der sie noch nie so gesprächig erlebt hatte. Was wir zu hören bekamen, war ein langer schöner Monolog der Dichterin, eine Art private, in bester Sommerlaune vorgetragene Poetikvorlesung für zwei Zuhörer über die langsame Entstehung eines klassischen Sonettenkranzes; vierzehn Sonette, ein Meistersonett.

Am Freitag ist Inger Christensen, eine große Dichterin unserer Zeit, im Alter von 73 Jahren in Kopenhagen verstorben.

Inger Christensen bei lyrikline.org

Alphabet von Inger Christensen (englisch)

Volker Sielaff     06.01.2009    
Volker Sielaff
Prosa
Interview
Kommentar