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Lutz Steinbrück
 
 Blickdicht
Komm her, lass dich gehen 
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Lutz Steinbrück
 
 Blickdicht
 
 Verlagshaus J. Frank
 
 Edition Belletristik
 
 Quartheft 26, Berlin 2011
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 Direkt. Ehrlich. Lakonisch. Politisch brisant. Genau beobachtet. Gesellschaftskritisch. Sprachlich überraschend. Unaufdringlich. So kommen Lutz Steinbrücks Gedichte daher. Schon der erste Text im kürzlich erschienenen bescheiden wirkenden Quartheft zeigt alle Finessen des Autors. Das Gedicht  leicht gesagt beginnt mit den Versen  bitte nehmen Sie / ihr Leben doch / nicht zu persönlich. Das wäre eine glatte contradictio in adiecto, gäbe es da nicht den kleinen Buchstaben  i zu Beginn des 2. Verses – und damit ändert sich die Aussage noch einmal erheblich.  bitte nehmen Sie / ihr Leben doch / nicht zu persönlich ist nur an der Oberfläche amüsant. Die Texte haben ein Gespür für das, was in der Luft liegt, für Redensarten und Denkmuster, schnappen auf, was – man möchte fast sagen: an der politischen Basis – im Schwange ist.
 
 Die Gedichte kommen frisch daher. Die Texte sind wenig narrativ. Der angenehm augenzwinkernde Plauderton ist nie elegisch, mäandert nicht und entwickelt trotz des mimetisch-prosahaften Tonfalls nie jene unkontrollierte „Wortdrift“, die man in Dichterkreisen auch  Parlando nennt; Steinbrücks Dichtungen geben sich, obwohl es Texte in Versen und Strophen mit wohlbedachten Zeilenbrüchen sind, nie völlig spaßfrei; sie haben vielmehr etwas Lustvolles, dabei auch Hintergründiges und sorgen aufgrund der soziopolitischen Relevanz der Aussagen, die zwischen den Zeilen getroffen werden, für Tiefgang. Ins Visier geraten Greenwashing, rassistische Denkweisen, die Renditegier der deutschen Wirtschaftskonzerne und das Amen „dieser“ Kirche, hohle Werbeslogans und  der Klang der irren Worte / die in Fetzen den Bürgersteig hinab- / wehen in Rätseln. Im Blindflug werden Strichcodes ertastet . Am Fernsehabend droht  ein leiser Kabeltod an der Schneebruchstelle, gehandelt wird mit  Naturgesetzen & / Klarlack aus Solarenergie und das lyrische Ich stößt auf eine  Tarnkappe im Datenpool an. In einem Gedicht namens  Anleitung zum Richtigsein werden die Leser – mit unaufdringlicher aber bestimmter Anspielung auf Rilke – aufgefordert:  zieht eure Jahresringe fester.
 
 
 Lutz Steinbrücks zweiter Gedichtband  Blickdicht übt Understatement. Die Gedichte haben beim ersten Lesen etwas Schlichtes, wirken sogar etwas hermetisch, besser gesagt tragen Rätselhaftes in sich; und wenn es anfangs hieß, die Texte seien direkt, so ist damit vielmehr die Sprache gemeint, mit der doch so nebenbei manch wilder Gazettenstier in politicis in den Hörnern gepackt wird, während der Inhalt (sprich das Gehaltvolle) einiger Gedichte ähnlich exzellentem, feinem Tee mitunter ein wenig „ziehen“ muss. Im Gegensatz zu manch zeitgenössischem Gedicht, das all seinen Gehalt in modernen, schicken Worten verfeuert und dabei furchtbar hip und sexy „rüber“kommt, tut sich hier lediglich eine weitere Ebene der Ironie auf. Die Gedichte sind auf der Höhe der Zeit. Steinbrück tippt gebräuchliche Redensarten zwar hintersinnig an, die derzeit en vogue sind, aber spielt gleichzeitig mit ihnen, ironisiert, verfremdet und kreist hin und wieder mit abgebrochener Syntax mantrahaft um sie.
 
 Mit geradezu aristophanischem Spott werden gängige und oft gehörte Sprüche aus Werbung und Umgangssprache in ihrer Parolenhaftigkeit entlarvt; manchmal entstehen durch Verfremdung neue Pseudo-Sprichwörter und bieten dem gedankenlos dahingesagten Mainstream des Neusprech gerne mal Paroli. So entstehen Sätze wie  es kommt viel zusammen, wo wenig passiert; selbst in der Wüste findet der Nagel zum Sarg oder  komm her, lass dich gehen. Manche Verse brennen sich durch ihre Spruchhaftigkeit richtig ein, auch die Bilder bleiben über die Tageslektüre hinaus haften. Steinbrück hinterfragt mit seinen Neologismen wie  autonarres Denglisch,  männerlich oder  Amazonien und ungewöhnlichen Komposita wie  Sekundenwald oder  Testsiegerlaune eingespielte Denk- und Sprechmuster. So wird in Worten wie  Grundrausch, Ablassgase, Retortengesang oder  Sarrazin-Gen gängiges Wortmaterial verfremdet. Ein Gedicht heißt  Postfinaler Botenstoff.
 
 Manchmal sind die Texte auf Anhieb nicht gleich verständlich. Sie wirken ums Eck gedacht, haben immer wieder ihren ganz speziellen und pfiffigen Sprachwitz. Es werden Erwartungen gebrochen. Es wird wiederholt eine (deutsche? spießige? jung-dynamisch-erfolgreiche?) Denke – oder auch mehrere „Denken“? – auf die Schippe genommen, „die man da so kennt“, ohne ausgesprochenermaßen Inhalte kommentarhaft zu lancieren. Dabei decken sich diese Inhalte durchaus mit gängigen Klischees, gewinnen diesen aber durch besagte Verfremdungen durchgehend spannende und neue Seiten ab. Die dadaistischen Späße sind nie bösartig, nie sarkastisch und zielen dennoch nicht nur über die Gürtellinie. Verstörend wird in jedes  Ja, aber hineingeleuchtet. Überraschende Enjambements tun ihr Übriges, auch wenn diese vereinzelt keinen semantischen Mehrwert haben. Manch Raffinesse entfaltet sich erst nach mehrmaligem Lesen.
 Herrchens Tierwelt
 
 
sein Hausschwein Harry treu zu Füßen  
biss er in ein Hundeschnitzel 
 
er dachte an viel zu billige Chinesen 
die fand er einfach nur pervers 
 
es ist leicht, über ihn zu richten 
es ist keine Kunst, vielleicht ist es 
 
der Anfang von einem Gedicht 
das wäre immerhin ein Anfang 
 
auch wenn er keine Gedichte liest 
macht er sich so seine Gedanken 
 
und unter uns: Harry hat Schwein gehabt 
dass er kein Hund ist und dass er hier so leben darf
 
 Der Autor ist von geschwätzig-hingebungsvoller Poeterey ebenso weit entfernt wie von eklektischer, lyrismengesteuerter Polyphrasie – will sagen vom naiven Sprechenthusiasmus mancher Nachwuchspoeten. Gerade aus der zurückhaltend vorgetragenen Wortkunst scheint eine verhaltene, intuitive Poesie. Steinbrück ist sich durchaus bewusst, dass alle Worte heikel sind: er misstraut seinen Worten spürbar und immerzu, ist dahingehend reserviert und kennt die Generalskepsis an der Sprache. Dabei fehlt es den Texten nie an poetischer Valenz. Die Texte tragen ihre Stärken nicht vor sich her, kokettieren nicht mit schickem Sprachglitzer und ergehen sich auch nicht comedylike in plumpen Eindimensionalitäten. Die Gedichte enden längst nicht bei der Aufdeckung gesellschaftlicher Nöte oder volkswirtschaftlichen Missverhältnissen. Aus dem Kapitel  Beziehungsweisen:
Flora Intervallis
 
 
sein flachbäuchiger Duft   
treibt wilde Blüten, ein Aroma 
über Brücken, dass du kirre wirst 
 
morgen wird er dich 
mein Mädchen nennen 
lass es dir auf seiner Zunge 
zergehen 
 
er ist mehrsprachig 
halbstündig zu erreichen 
kommt gelegentlich 
zum Bestäuben 
 
vorbei, genau das 
kitzelt dich gegen 
deinen Willen
 
In diesem Text werden gleichzeitig mehrere Dinge angesprochen und eine ganze Reihe von Assoziationen entfacht: auf der „Blümchensex“-Ebene wird die Geschäftswelt eines „flachbäuchig“en, mehrsprachigen Thirtysomethings beleuchtet (und demaskiert), der „irgendwo“ sein ihm treu verbundenes Mädel sitzen hat, zu dem er eine fast geschäftliche und rein sexuelle Beziehung hegt, in Intervallen, worin die derart „Bestäubte“ ihren Kitzel sehe. Eine Unterstellung. Ein Klischee. Eine Wahrheit.
 
 Die Texte haben trotz ihrer sympathischen (um nicht zu sagen netten) Oberfläche immer ein leichtes Unbehagen im Gepäck. Zwar gefriert einem nicht das Blut in den Adern, dennoch kann es vorkommen, dass einem über der Lektüre der Kaffee kalt wird. Und nicht aus Langeweile, sondern aus irritiertem Gefesseltsein. Man legt das Buch beiseite und ist mehr als bloß nachdenklich geworden.
 
 Die Illustrationen von Sina Möhring erinnern an Grafiken von Christoph Meckel, die antiquierte „Speisekarten“typo der Überschriften passt – so sehr das auch manchen Lesern missfallen mag – perfekt zum 70er-Jahre-Outfit des ganzen Quarthefts. So sind auch die Bleistiftzeichnungen der so harmlos wirkenden Käfer, der Biene und der Schmusekatze perfekte Pendants zu den Gedichten, die in ihren Worten nett und unspektakulär daher kommen ( eine Katze stellt sich tot überm Zaun) und auf ihren Medaillenkehrseiten Botschaften tragen, die es in sich haben.
 Zwischen Kulissen
 
 
 mein halber Mater Bratwurst
 
ist noch lange nicht genug
 
 
diese Gerüche sind wahrhaftig
 
nicht bereit für die Verkabelung der Luft
 
 
 sorgt auch hier die BVG
 
wo weißes Gangsta-Muscle-Shirt
 
 
bei Rot die Straße kreuzen muss und
 
ein Pop-Up-Witz im Baulärm verebbt
 
 
warmer Wind als fliehender Gruß
 
in Richtung Denkmal mit Graffiti-Vollbart
 
 
wünscht du dir mehr innere Sicherheit
 
oder wenigstens einen Wolkenbrand 
Die Berliner Stadtgedichte dieses ursprünglich norddeutschen Autors haben nichts Beschönigendes, sind keine neoromantischen Stadtansichten, welche die abstoßende, hässliche Seite hinter den Kulissen der Millionenstadt verklären und mit Fleiß ästhetisieren. Hier werden nüchtern und nebenbei ein paar städtische Impressionen eingestreut – stark genug, um ein Bild zu umreißen, das sich einbrennt. Auch hier entsteht ein latentes Unbehagen, eine diffuse Angst, wie weit es schon gekommen ist, ohne dass es moralischer oder gar pathetischer Worte bedürfte.
  ist dieser Tellerrand / eine Option, wird am Ende des zu Anfang genannten Textes  leicht gesagt gefragt, und anstatt eine triviale Antwort gleich hinterdrein zu schieben, wird der Leser mit dieser absurden Frage, die verstört und auch ein wenig schmerzt, alleine gelassen. Das ist genau die Qualität dieser Gedichte: keine einfachen Antworten auf die hochkomplexen Fragen unserer Gegenwart parat zu haben.
  Lutz Steinbrück (Poetik) bei lauter niemand.
  
 
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Armin Steigenberger 
Lyrik 
 
  
 
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