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Ulrike Ulrich
fern bleiben

Ein Rail-Movie mit Schlüsselreizblumen und andere Kapricen
Kritik
fern bleiben von Ulrike Ulrich   Ulrike Ulrich
fern bleiben
Luftschacht Verlag, Wien 2010
238 Seiten, 19,50 Euro

„Sie sitzt nicht gern in stehenden Zügen” – eine gute Exposition und ein sehr gutes Wortspiel noch dazu. Lo – Kurzform für Lotte – ist Anfang dreißig, ungebunden und hat ihren Job im Computerbereich an den Nagel gehängt; sie gewann beim Millionenquiz. Gefragt, was sie mit dem Geld anfinge, antwortete Lo, „sie hätte noch keinen Plan, sie hätte sich da” – man beachte das Wortspiel! – „in etwas hinein geraten” und fügt noch an: „Rom, ich werde nach Rom fahren. Aber das haben sie rausgeschnitten.” Lo nützt nun ihre berufliche Auszeit, im Herbst 2005 während der Bundestagswahl per Bahn quer durch Europa zu reisen. Kaum irgendwo angekommen fährt Lo schon weiter: der Weg ist das Ziel. In Rom hat sie schon im Bahnhofsge­bäude gar keine Lust auf Rom, sondern fährt gleich weiter nach Bozen und freut sich riesig über die damit verbundene Spontaneität. Im Bozener Inter­netcafé fällt ihr ein, dass sie zu Hause ihre Briefwahlunterlagen nicht einge­worfen hat; das allein ist Grund genug, noch einmal zurückzufahren.

Was auf Lo zumindest gedanklichen Reiz ausübt, sind Top-Sehenswürdig­keiten, die – wenn überhaupt – dann sehr flüchtig besucht werden; und wenn es dabei überhaupt um die Städte geht, in denen sie Station macht, dann gewiss nicht, um dort etwas zu entdecken oder gar ihre weniger bekannten Seiten kennenzulernen. Die Bahnhöfe mit ihren Shops und Cafés sind für Lo viel interessanter. Und so trinkt Lo überall ihren Latte Macchiato, in Tsche­chien und Polen verlangt sie „Kawa”, sucht stets eine Internet­möglichkeit, simst und emailt, was das Zeug hält und genießt im Zug das Bistrofood, auf das sie sich genauso freut wie auf saubere Toiletten. Sie übernachtet fast immer im Liegewagen eines Zuges. Nach und nach zeigt sich, dass sie unabhängig sein möchte: von Freunden und Bekannten, Liebhabern und Familie.

Lo ist Wortsammlerin: Einsüden, Verwandtwortungslos, Lebensbescheini­gung, Lebensbeschönigung sind Worte, die ihr begegnen; mit diesen Worten entdeckt Lo ganz spielerisch Poetisches und Humorvolles hinter dem Alltäglichen; es bekommt indes auf die Länge des Romans etwas Nied­liches, wie sie immer wieder ein Wort (er)findet und es sogleich aufschreibt. Lo denkt über Schlüsselreizblumen nach und flirtet in Paris mit dem Poetry-Slammer Thomas, mit dem sie Rotwein trinkt und der den etwas ausge­flippteren Lebensentwurf verkörpert. Thomas schafft es sogar, die stets unentschlossene Lo zum Père Lachaise mitzuschleppen, um dort neben dem Grab von Jim Morrison noch einige andere zu besuchen. Später foto­grafiert sie Anzeigetafeln, nicht zuletzt, um daraus vielleicht für ein Bahnma­gazin Kolumnen zu entwickeln.

Doch was steckt hinter dieser Reiselust, die keine ist, sondern vielmehr eine Lust oder fast eine Sucht, gänzlich ungebunden in Zügen zu sitzen? Ihr ist in den teils etwas teenagerhaften Dialogen mit ihren Zufallsbekanntschaften wichtig, wie viele Städte es sind. Es ist ganz wichtig, sagen zu können, dass sie in 20 Ländern war. Was sie dort erlebt und gesehen hat, ist dagegen nahezu belanglos. Ist diese Frau auf der Flucht vor sich selbst?

So sehr Lo immer wieder Momente der Reflexion hat und Zusammenhänge intelligent durchschaut, so sehr ist man hin und wieder geneigt, Los gele­gentlich prinzesschenhafte Luxuslaunen und demgegenüber dann gera­dezu spießigen Anwandlungen für gut kolportierte Rollenprosa zu halten. „Viel­leicht wählt er Le Pen oder betrügt seine Frau”, denkt sie bei­spielsweise über einen Franzosen im Zug, „Das Buch passt zum Kleid”, überlegt sie bei einer ältere Frau und verlässt in solchen Momenten kaum die engen Klischees weiblicher Denkmuster. So ist sie auch völlig durch den Wind, als sie in der deutschen Botschaft von einem Schalterbeamten gesagt bekommt, sie lebe von der Hand in den Mund. Dass dieser kleine, unüber­legte Satz eines Schalterbeamten sie derart zu treffen imstande ist, zeigt, wie Lo gestrickt ist, wie sehr sie sich über gesellschaftliche Muster definiert. So einfühlsam Los weibliches Innenleben geschildert wird, so widersprüch­lich und flatterhaft handelt sie und schafft es zu keiner Zeit, wirklich über ihren Schatten zu springen.

Gleichwohl hat man nach 246 Seiten kein komplettes Bild von Lotte bekommen; man kann Lo, obgleich sie die Protagonistin ist, die im Präsens und in der dritten Person geschildert wird, nie wirklich in die Karten schauen. Die personale Erzählerin bleibt immer in der gleichen Distanz zu Lo. Diese ist scheinbar ganz zufrieden mit dem Herumgefahrenwerden von Stadt zu Stadt. Sie ist dabei weder Aussteigerin noch Getriebene, sondern hat selbst gekündigt, jede Menge Geld zum Ausgeben, die Männer fliegen ihr zu. Sie ist insofern in einer hochgradig privilegierten Situation, was wiederum kaum jemands Realität widerspiegelt.

Die Sprache hat in den feinsinnigen Wortspielen ihre Glanzpunkte. Die Prosa wirkt weitestgehend souverän; dennoch ist das Buch streckenweise steril und ohne große Verve erzählt. Die Sprache wird nur gelegentlich selbst zum (Klang-) Körper und Instrument, sondern bleibt fast durchgängig Mittel zum Zweck inhaltsorientierter Handlungsprosa. Da, wo Los sporadische Wortspiele ansetzen (die ja immer auch raffinierte Gedankenspiele sind!), könnte es manchmal wirklich interessant werden. Spannung wird so gesehen – bis auf Los Sammeln spannender Worte – nur über die Handlung erzeugt; dafür allerdings ist die Story als solche ein bisschen mager. Die spontan hingeworfenen Episoden wirken meist leicht und luftig, haben dadurch freilich auch etwas Oberflächliches und nehmen insgesamt, eine nach der anderen gelesen, zu wenig Fahrt auf. Möglicherweise bremst dabei auch die akribische Genauigkeit aller Details ums Zugfahren incl. Zugnum­mer etc., dazu die brandaktuelle und penetrante Gegenwärtigkeit von Hand­helds und Mobiltelefonen samt allen interaktiven Möglichkeiten anno 2005, die ohne jegliche Verfremdung haarscharf nachgezeichnet worden sind, jedoch für den Leser von 2010 sogleich ihre doch recht kurzlebige Halb­wertszeit offenlegen. Dessen ungeachtet schafft es das Buch durchweg, die Stimmung des Zugfahrens, das Ephemere und Kurzweilige, all die vorbei­fliegenden Eindrücke, auf gelungene Weise einzufangen.

Man wartet dabei durchweg bis zuletzt auf das spannende Ereignis, auf den Knüller – allein in dieser Hoffnung lassen sich einige Längen des Romans ertragen – der leider auch mit dem ziemlich spannenden Ausgeraubtwerden incl. der Abfertigung auf der deutschen Botschaft in Wien nicht kommt; die Anflüge von Verliebtsein und die Sexszene mit dem Wiener WGler David sind zwar der Höhepunkt der Geschichte, aber keine Wendung; auch David schafft es nicht, die Karten in Los Kopf neu zu mischen. Lo kokettiert zwar immerzu mit dem Außergewöhnlichen, singt Norwegian Wood, als in der Wiener WG ihr jemand großzügig sein Bett anbietet und in der Badewanne nächtigen will, aber sie steckt das Haus nicht in Brand. Am Ende wieder in ihrer Heimatstadt Dortmund angekommen – kühn angelegte Pointe oder offener Schluss? – kauft sie sich ein neues InterRail-Ticket für Erwachsene, um weitere 30 Tage ihren kapriziösen Launen folgend in Europa herum­fahren zu können. Der Titel fern bleiben wird demgemäß zum Programm, da sie nirgends ankommt; als Gegenmodell zur normalen Alltagstristesse taugt es freilich nicht. So wird das Hölderlinmotto „Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen ...” , das der Geschichte mit ihrem etwas dürftigen Plot bombastisch vorangestellt wurde, dahingehend zur Farce, da das Offene nur so lange offen ist, wie es nicht zum Lebensprinzip wird; die an sich sehr spannende Metapher des Unterwegsseins bleibt in Ulrike Ulrichs Roman eigentümlich flach. In einem Rail-Movie – dieser Ausdruck wird von Lo verwendet – ginge es um Rail und Movie: Rail bekommt der Leser durch die Komplettverglasungen von ICE und TGV zur Genüge zu sehen; Movie ist, bleibt man beim Bild des Filmstreifens, insgesamt doch ein wenig zweidimensional geraten. Fest steht dennoch: Jeder Bahnchef wird seine wahre Freude an einem Buch haben, welches weniger das Reisen als Die Bahn (und ihre europäischen Pendants) als solche derart zum Vehikel des Ungebundenseins deklariert und stilisiert – für das Unterwegssein von Bahnhof zu Bahnhof in Europas Großstädten.

Ulrike Ulrich lebt und arbeitet seit 2002 in der Schweiz, seit 2004 in Zürich. Sie wurde 1968 in Düsseldorf geboren und studierte in Münster Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik. Anschließend arbeitete sie im Bereich Computerlinguistik. Anfang März 2010 erschien ihr erster Roman fern bleiben im Luftschacht Verlag in Wien.
Armin Steigenberger   06.08.2010   
Armin Steigenberger
Lyrik