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Matthias Politycki
Jenseitsnovelle

Liebe, Tod, Verrat und I-Ging
Kritik
Jenseitsnovelle   Matthias Politycki
Jenseitsnovelle
Hoffmann und Campe 2009
128 Seiten, 15,95 Euro


„Wenn nur der Geruch nicht gewesen wäre! Als ob Doro vergessen hatte, das Blumenwasser zu wechseln, als ob die Stengel über Nacht zu faulen angefangen hatten und der Luft nun ein süßsaures Nebenaroma bei­mischten.“ Eine Novelle mit der raffiniertesten Exposition, wie man sie sich bloß vorstellen kann: Hinrich Schepp betritt am Spätmorgen das Wohn­zimmer – und der Leser weiß schon beim ersten Satz, was passiert ist. Seine Frau ist gestorben, während sich Schepp noch von ihrem Anblick hinreißen lässt: wie bezaubernd sie doch dasitze, wie reizend sie von hinten anzusehen sei; und ergeht sich in ihrem Anblick, während sie einen seiner Texte korrigiert … was sie doch aber schon so lange nicht mehr getan hat? Irgendeine Veränderung nimmt er zwar wahr, aber er ist hingerissen und sieht Doros schwarz-silbernes Haar von hinten, wie es über die Lehne des Schreibtischsessels fällt; doch der Geruch des Blumenwassers, das Licht des gelbgoldenen Herbstmorgens markieren den Tod hinlänglich. Schepp indes hält sich für glücklich und ist angetan.

So geht das über mehrere Seiten, die Spannung ist fast nicht auszuhalten – Politycki kostet diesen Kunstgriff des personalen Erzählers auch ordentlich aus, während sein Held auf der Leitung steht – Schepp schwelgt innerlich noch, jenseits jeglicher Realität und kommt alsdann mit einem Schlag zu sich. Als er endlich erkannt hat, dass seine Frau tot ist, versteht er es nicht und beschließt, dass es nicht wahr ist. Nun steht er fassungslos da und beginnt über seine große Liebe zu Doro von ihrem Anbeginn an nach­zudenken. Mit wenigen Worten wird die Situation umrissen, aus der heraus sich nun im Folgenden die private Tragödie des Hinrich Schepp entrollt. Wie sie sich kennengelernt haben, am Lehrstuhl II für Sinologie, wie die An­näherung an das „Fräulein Dorothee“, die mit ganzem Namen Dorothee Wilhelmine Renate Gräfin von Hagelstein heißt, vonstattenging. Wie über­haupt alles gewesen ist: das Miteinander.

„Dann, im Sommer 2003, nach mehr als zwei wunderbar stillen Jahrzehnten an ihrer Seite, hatte er sich auf Anraten seines Arztes die Augen lasern lassen. Woraufhin es mit der Beschaulichkeit vorbei war.“ Dies ist der Keim der beginnenden Tragödie. „Welch ein Schrecken, die Welt mit einem Mal so voller Details zu sehen und in voller Schärfe!“ Seit seiner Augenoperation führt Schepp sozusagen ein Eigenleben und kann von da an alles glasklar sehen – auch die Frauen. Mit einem Zeichen des I-Ging, dem Kan (das u.a. „Das Abgründige, das Wasser“ bedeutet), das er am Hals einer Besucherin seiner Stammkneipe ausmacht, beginnt Schepps Verhängnis.

Zum Zeitpunkt, wo die Geschichte einsetzt, ist für Schepp alles in Butter – wenigstens in moralischer Hinsicht. Er ist sogar glücklich. Seine für ihn sehr beschauliche Ehe mit Doro wird in der Rückblende beschrieben, das Ge­schehen springt hin und her, vom monologischen Nachdenken über Ge­schehenes immer wieder zurück in die Jetztzeit, zum Leichnam seiner Frau. Die beiden wollten sogar im Tod vereinigt sein; so glaubte wenigstens Doro an einen dunklen, kalten See, wo beide sich einst wieder begegneten: in diesem See würde man dann ein zweites Mal sterben und nun für immer. Im Folgenden wird Schepp in seiner verschrobenen, umständlichen Art gezeigt, wie er mit dem (Nicht-)Tod seiner Frau umgeht, weder Arzt noch Polizei informiert, es eigentlich gar nicht in Erwägung zieht oder noch warten will, vielmehr versunken vor sich hin sinniert, Stunde um Stunde nur durch das Läuten des Guten Hirten unterbrochen. Er liest sein eigenes Manuskript, über das gebeugt Doro gestorben ist, und vor allem Doros letzte Zeilen, liest Doros Anmerkungen am Rande und begreift nach und nach die Situation …

Matthias Politycki, 1955 geboren, Romancier, Lyriker und Essayist, schrieb den legendären Weiberroman und legt nun eine Novelle vor, die sich eben­falls mit dem Thema Mann und Frau beschäftigt. Eine Novelle, die bis zum Ende kurz und bündig erzählt ist und voller Überraschungen steckt. Frauen sind Polityckis großes Thema; auch hier sorgen die unergründlichen Seiten zweier Frauen gehörig für Zündstoff. Schepp erlebt, neben seiner toten Frau stehend, einen „Tag ohne Gnade“ – wie es der Klappentext verheißt.

Ohne den Plot gänzlich vorwegzunehmen, sei so viel erzählt, dass Hinrich Schepp angesichts seiner toten Frau die Beziehung zu ihr komplett Revue passieren lässt und erneut durchlebt. Den Text, über dessen Korrektur Doro starb, hat er schon viele Jahre zuvor geschrieben; es ist ein verworfenes Romanfragment namens Marek, der Säufer: dieser Text durchdringt auf­grund seiner (von Doro zunächst als solche konstatierten) authentischen Anteile ständig das Geschehen. Als Buch im Buch wird er häppchenweise in die Geschichte eingeflochten; immer wieder bringen Doros Randnotizen neue dramatische Enthüllungen. Doro kommentiert ihr gemeinsames Leben und Schlag um Schlag wird Schepp klar, was sie alles wusste und wie sie ihn wirklich sah. Er erinnert sich, wie er in seine Stammkneipe geflüchtet ist und dort eine gewisse Dana kennen gelernt hat; doch da sei ja nie „etwas“ gewesen. Es sei alles längst verjährt. Sichtbar wird Schepps Verzweiflung, seine Trauer, gelegentlich auch sein Zorn, wie Doro ihn denn – wie Schepp glaubt – bloß so hat missverstehen können. Doch all das fügt sich bald zusammen wie ein Puzzlespiel. Was es mit dem geheimnisvollen I-Ging-Zeichen auf sich hat, wie Doro Bescheid wissen und in seiner Stammkneipe auftauchen konnte und woher sie überhaupt Dana kannte …

Politycki flicht die Erzählstränge mit ihren zeitlichen Rücksprüngen meis­terhaft ineinander. Der Text ist äußerst stringent erzählt, und am Ende läuft alles auf den Moment zu, mit dem die Geschichte beginnt. Das Buch schlägt einige Haken, mit denen kein Leser rechnet. Das Buch spart an der einen oder anderen Stelle auch nicht an Humor. Allein das Romanfragment aus der Feder des Protagonisten Hinrich Schepp ist unfreiwillig komisch. Und neben so manchem Sprachwitz lässt auch die verklemmte Unbeholfenheit dieses pedantischen und ungeschickten Mittsechzigers, der in seine Stammkneipe La Pfiff geht und sich die Haare über seine Glatze kämmt, immer wieder schmunzeln. Sprachlich besticht Polityckis Jenseitsnovelle durch Stringenz und Genauigkeit, die Bilder werden klar und brillant ver­mittelt. Die Sprachwelt des Romanfragments unterscheidet sich von der Sprache der restlichen Novelle eklatant. Womöglich ist dem einen oder anderen Leser der Kontrast zum Haupttext gar zu augenfällig – dennoch gibt dieser Text im Text der Novelle eine gekonnte Gegenströmung.

Es fehlt natürlich auch die obligatorische Fliege nicht, als das Accessoire des Bösen schlechthin, Todesbotin und Künderin des Dunklen und Ab­scheulichen – sie gehört (aus dem Film entlehnt) inzwischen wohl fest zu dieser Art geheimnisvoll-düsterer Prosa dazu, wenngleich sie gelegentlich auch ein wenig nah am Klischee herumschwirrt oder zwischendurch aus der Nase der Toten kriecht. Und auch wenn die Sprache an ein paar we­nigen Stellen etwas unzeitgemäß klingt oder sich gar den „Retro“sound alter Erzählmanier zugelegt hat (wo z. B. Partizipien ohne Hilfsverben verwendet werden), ist der Text dennoch novellenhaft dicht und ohne Umschweife erzählt, kommt auf den Punkt, und hat sein Personal bestens entwickelt. Alle Charaktere sind plastisch und lebendig. Zum Ende wird deutlich, dass die Liebe, wie sie in Schepps Kopf existierte, nicht mehr haltbar ist. Alles stürzt in sich zusammen. Es kommt zu Enthüllungen schlimmster Art.

Das Buch behandelt die großen Themen Liebe, Verrat und Tod. Polityckis Jenseitsnovelle blickt in die Abgründe und Albträume der Partnerschaften hinein: hier führen Selbsttäuschung, Eifersucht, (Selbst-)Flucht und manch kleine große Unaufrichtigkeit zum größten anzunehmenden Unfall – und am Ende kommt doch alles ganz anders. Man liest das Buch mit seinen 128 Seiten ohne auch nur einmal abzusetzen.

Der Buchtrailer zur Novelle kann auf matthias-politycki.de angesehen wer­den. Dieser bildstarke, modern geschnittene Clip mit seinen superschnellen Bildfolgen und Kamerafahrten (den man freilich auch reißerisch finden kann!) ist natürlich nichts für alle diejenigen („klassisch gestrickten“) Leser, die sich gerne ihre eigene Phantasie und damit den Zauber ihrer eigenen Bilder bewahren möchten. Denn starke Bilder – man weiß es von allen Verfilmungen – treten in Konkurrenz zur eigenen Bildwelt und desavouieren alles selbst Gelesene. Bei einem Trailer als „Heißmacher“ für die Lektüre kommt eine eigene Bildwelt schon erst gar nicht auf.
Armin Steigenberger   04.03.2010   
Armin Steigenberger
Lyrik