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Christoph Szalay
stadt land fluss

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Kritik
Christoph Szalay | stadt land fluss   Christoph Szalay
stadt land fluss
Gedichte
Leykam Verlag Graz 2009


Wenn es in der Dichtung darum ginge, Dinge zum Vorschein zu bringen, die mit normaler Alltags­sprache nicht mehr formulierbar sind, wenn also Dichter gewisser­maßen Forscher des Unbekannten in uns sind, wären Gedichte so etwas wie Erfor­schungen des Innenlebens mit Sonde oder Echolot. Und wenn es darum ginge, mittels Komplett­über­schreibungen – also Schwär­zung durch Buch­staben bis zur Unkennt­lichkeit – auf Inhalte hinzuweisen, die irgendwo tief unter pastos aufgetragenen Sprach­schichten liegen, wären Gedichte so etwas wie Umkehrungen ihrer selbst. Und wenn es darum ginge, nur die Stellen stehenzulassen, die vom authentischen Ich des Schreibenden beglaubigt eine wahrhafte Aussage treffen, wären Gedichte Elaborate des Gültigen.
Der jüngst im engagierten öster­reichischen Leykam Verlag erschienene Gedicht­band stadt land fluss des 23 Jahre jungen Grazer Lyrikers Christoph Szalay, der den auf­regenden Lebens­lauf eines Profi­skifahrers mit ehe­ma­ligen Olympia-Avancen vor­zuweisen hat, wirkt auf den ersten Blick wie das Ergebnis der­artiger Forschungen.
Drei Kapitel hat das Buch.

Anlass zur Dichtung gibt in Kapitel 1 die physische Grenz­erfah­rung mit unmittelbarer Natur: flüchtige schlaglichthafte Texte zeigen draußen auf dem land hautnahes Erleben in Eis, Schnee und Berg. In Kapitel 2 wird stadt als mondäner Raum besungen, wo der Einzelne inmitten einer grotes­ken Sprach­versatz­stück­welt verloren­zugehen droht. In fluss, dem etwas stilleren dritten Kapitel, fließt Bezie­hungs­alltag in knappe Re­flexionen ein und mündet in zykli­sche Gedicht­passagen.

Der wenig originelle Titel stadt land fluss nach dem Quizspiel für Kinder ist so oder leicht abgeändert schon mehrfach verwendet worden; es fallen einem sogleich Namen wie Christoph Peters, Carl-Christian Elze und Bodo Hell ein.
Im Kapitel land ist zunächst Natur­erleben und Körper­erfahrung Pro­gramm. Die in sich gekehrten Texte tasten mit auf­regend wenig Worten an Schnee, Eis und Fels­spalten geradezu atemlos nach einem Du. Orien­tierung und Körper­erfahrung sind zentral, die Finger werden zu Mess­sonden im Eis und erspüren das gerade noch Fühlbare.
Anfangs freut man sich, herme­tische und beinahe foto­grafisch genaue Abbilder der Eis­umgebung vor sich zu haben, wo man fast den Herz­schlag der lyri­schen Stimme im Hals pochen hört. Erst zur Mitte hin wird ein zartes Ich greifbar. In den recht kurzen Einzel­texten dieses Kapitels sollen vermutlich die alten Sujets „Berg“, „Eis“ und „Schnee“ in Gedichte gefasst werden – doch es bleibt beim Eis, beim Schnee und beim Berg. Man hätte sich viel­leicht ver­schiedene Arten von „Schnee“ gewünscht, Spe­zifi­kationen vom „Eis“ als kristal­line Struk­turen o.ä.; Eis, Schnee, Berg, hin und wieder Fels, Gletscher und Wald bleiben begriff­lich vereinzelte Vokabeln – unnah­bar und starr. Die eher meta­phern­armen Tex­te bringen dafür eine schier unend­liche Flut an immer neuen 2-, 3- und 4-fach-Komposita. Einige dieser Wort­kumula­tionen, mit denen im ersten Kapitel höchst arti­fiziell neue lyrische (Pseudo-)Bilder erzeugt und meist anhand von Schräg­strichen montiert werden, sind ganz gelungen, wie „eis/spitzen/gefühltes“ oder „fuß/gewölb/zwischen/raum“.
Bei „spiegel/glatt“, „blick/feld“, „baum/grenze“, „gras/narbe“ u.v.a. fragt man sich allerdings früher oder später, was denn der poetische Mehr­wert eines derart inflationär gewor­denen Schräg­striches sein könnte? Inhaltlich gibt es keine wirklich erkennbare Linie. Was als Innerer Monolog oder Ansprache ans Selbst raffiniert mit dem lyrischen Du beginnt, wird schnell diffus, löst sich abrupt auf in ein kaum greifbares lyrisches Wir; bald kommt noch ein Ich hinzu, das genauso diffus und unper­sönlich ist: die drei völlig anonym bleibenden Instanzen Ich, Du, Wir sind im ganzen Buch Träger des Erlebens, werden aber durch­gängig nicht verortet.

Die Texte in stadt wirken schnell hinge­setzt; Ent­fremdung im groß­städtischen Raum wird evident und weist auf gähnende Leer­stellen in der urbanen Psyche hin – ähnlich wie nihi­listische Tags an Wänden der Bahn­trassen und U-Bahn-Scheiben. Was sich in land schon ankündigte, wird hier mit noch gesteigerter Formen­viel­falt fortgesetzt. Hier wird die pulsierende Metro­pole vor allem durch die äußere Form der Texte wider­gespiegelt. Bruch­stücke und Idiome jugendlichen Sprechens werden absichtsvoll in beliebiger Form gemixt und recycelt. Dies mündet in einen furiosen Overkill an dekonstruierter Jugend­sprache, mit deren „ange­sagten“ Phrasen – die zu jeder Zeit immer den allerletzten Hype einzufangen glauben – Szalay sein Spiel treibt; vermutlich soll die Sprachwelt der Jugend mitsamt ihren Ame­rika­nismen als inflationäre, weitgehend inhaltslose Sprachwelt entlarvt werden. Das gelingt nur ansatzweise, da der Autor alles unternimmt, seine (bewusst?) inhalts­losen (Nicht-) Bilder mittels beliebig wirkender Einschübe, effektvoller Schrägstriche, Klammern und Punkte u.v.a. formal auf­zufrisieren und schil­lernde Polyvalenz zu erzeugen; hierdurch werden Sprach­versatz­stücke zwar als reine Signifikanten entlarvt, deren Signifi­kate nicht vorhanden oder austausch­bar scheinen; allerdings wird parallel durch die systemlose Beliebigkeit der Methodik Szalays eine neue Folie der Inhalts­losigkeit geschaffen. Letztlich bräuchte es zur Aufdeckung des Inhalts­losen die Präzision einer eindeutigen und gewisser­maßen analy­ti­schen Methodik statt einer in sich zwar virtuosen aber völlig beliebigen Formen­spielerei.

Vielleicht ist heute unter den (jungen, modernen) Dichtern kein zweiter, der so variations­reich mit der Form experimentiert. Hat Szalay den Mut, alles noch mal ganz anders und (scheinbar) ganz neu zu machen? Es gibt wohl keinen Effekt, keine optische Kapriole, die der Autor nicht ausprobiert; da wird fett und kursiv gesetzt, da werden Wörter in beliebige Phon(em)e und Grapheme zerteilt: „ab/ge dunkel t es“, es wimmelt nonverbal vor „[…]“ und „;(;(;(“, einmal wird ein Fenster, anderswo die Pointe von Hand unter den Text gekritzelt – man beachte den morpho­logischen Zeilenbruch:

NO TOWN (FOR LOS
ERS)


Eckige neben spitzen Klammern, Schrägstriche, Wortmixturen, Komposita und das F-Wort werden inflationär gebraucht. Die Erfindungsgabe des Autors kennt nun kein Halten mehr. Es werden Texte in die Vertikale der Buchseite gekippt, es gibt fingerlange Unterstriche, die (morphologischen) Zeilenbrüche wirken planloser, beliebiger, die ameri­kanischen Einsprengsel nehmen zu. So lautet eine Stelle:

2+2=5 but big brother's not wa
tching


Dass hier erst Arithmetik (demonstrativ falsch?) betrieben, danach George Orwell zitiert und nach dem wa morphologisch umgebrochen wird, ist von der Machart her exemplarisch für die Mehrzahl der Gedichte. Das setzt keine wirkliche semantische Leerstelle und eröffnet auch keinen neuen poetischen Raum „hinter“ dem Text. Es sieht so aus, als ob hie und da ein bisschen Englisch die Textaussage schon um 200 % hebt. Und es scheint, dass ein Gedicht gleich viel poetischer wird, wenn man „you fucker“ oder „(so: they tell you little fuckhead)“ darunter setzt; „with a little help / from your fucking friends“ könnte – abgesehen von 1 Wort – fast der Titel eines Beatles­songs sein.

… ach, war das schön, als Anfang der 70er die Amerikanismen ins deutsche Gedicht Einzug gehalten haben, man denke an Westwärts I+II von Rolf Dieter Brinkmann und andere – da waren kantige ameri­kanische Brocken im Gedicht richtig in, jeder Amerikanismus zugleich anstößig und hip; heute wirken Amerikanismen manchmal schon wie ein Relikt aus einer Zeit, als man noch an das Onetwothreefour der Popmusik, an die Hart­schaum­klapp­schachteln für Hamburger und an die Marlboro­männer dort drüben im weiten Westen geglaubt hat. Heute, fast 40 Jahre später, sieht die Sache doch ein wenig anders aus. Fuck! Auch Beavis & Butthead feierten in deutschsprachigen Ländern auf VIVA und MTV bereits 1995 ihre Erst­aus­strahlung. Warum also noch amerikanisch? Die Texte lesen sich mitnichten als Huldigung an Obamas „neues“ Amerika. Warum nicht einmal russisch, iranisch, afghanisch, haitianisch?

Nach stadt atmet man richtig auf, dass die (pseudo)mondänen Wort­kaskaden ein Ende haben. In fluss geht es etwas ruhiger zu. Kurze Vers­zeilen geben passagen­haft momentane Eindrücke, Gedanken und Emotionen zum Thema Beziehungs­alltag wieder. Auch hier überlappen äußere Wahrnehmung und innere Stimmungsmuster. Hier geht es um Zugehörigkeit zum Partner vs. Verlassen­werden, Fest­gehaltensein und Entfernung vom anderen. Das wiederkehrende Motiv dreier einleitender Punkte markiert einen epischen Zusammenhang. Was in dünnen (Halb-) Sätzen an Fragment stehenbleibt, zeigt ein Ich und ein Du in rudimentärem Zwiegespräch. Es scheint zunächst, als sei eine fast vollständige Reduktion vorgenommen worden. Formal wird hier „nur noch“ die Position der Verse auf dem Weiß der leeren Seite inszeniert, teilweise auch mehrere auf einer Seite.


aus der mitte heraus bewegst
du dich an den rändern

du dachtest daran, dein gepäck hier zu
lassen, da es dir sonst zu schwer werden
würde

Eine der schönsten Strophen im ganzen Buch ist:

als du bemerkst, dass der brief nicht an dich
adressiert ist, willst du ihn wieder zunähen

Fazit: Wer von Gedichten nichts anderes erwartet als beständig vom Autor bewiesen zu bekommen, dass es diesem gewiss nicht an Einfalls­reichtum mangelt, seine Gedichte immer wieder neu und anders optisch in Szene zu setzen, der kommt hier vollends auf seine Kosten. Das Poetische der Texte, das man hie und da beinahe mit Über­raschung „dann doch“ findet, verhält sich gera­dezu reziprok zur formal(istisch)en Insze­nierung. In land wird durch Ver­schneidung von Natur und Psyche keine dritte Wirk­lichkeit evident; in stadt wird weder mittels Über­schreibung das Nicht­formu­lierbare in Sprache gesetzt noch mittels Aus­lassung präzise ein klar umrissener Inhalt heraus­gearbeitet. In fluss werden auf der Be­ziehungs­ebene keine Inhalte zum Thema Liebe aufnotiert, die bisher noch nicht dagewesen wären. Wer Tiefgang und Poetizität erwartet, frische und unver­brauchte Bilder, oder gar geistreiche, intelligente, doppel­bödige Texte, die ihren poetischen Gehalt nicht offen zur Schau, sondern zwischen den Zeilen tragen, der wird hier herb enttäuscht.
Diese Poesie geht ein wenig zu einfach. Es gelingt ihr nicht wirklich, mittels einer solch über­wiegend formalen Insze­nierung, die ihre eigenen extremen Beliebig­keiten mitbringt, das Inhaltslose der (urbanen und amerikani­sierten) Wort­hülsen auf­zudecken. Die Texte gehen über das, was sie als Folie markieren und sich zunutze machen, kaum hinaus. Es bleibt beim mutigen Ansatz. Die skizzen­haften, nervösen Texte wirken auf den ersten Blick äußerst modern, experi­mentell und am Puls der Zeit – was da so alles an Variation mit der äußeren Form passiert. Fast möchte man Szalay sagen, dass es doch gar nicht um die Form geht. Oder dass Form eine reine Äußer­lichkeit ist. Um nicht zu sagen: oft ein Popanz. Oder dass zum Gedichte­schreiben mehr gehört als grandiose (?) Formen­spielerei. Oder dass die Form zwar die Rezep­tion beeinflusst, aber dass es hinter all diesen optischen Modu­lationen auch noch einen so genannten „Inhalt“ geben sollte. Und das ist das Problem.
Armin Steigenberger   16.02.2010   
Armin Steigenberger
Lyrik