| 
 | 
| 
 | 
  
Achim Wagner 
 flugschau
wie sich eine drehung bewirkt 
|   Kritik | 
  | 
 
 
 
  | 
  | 
  
Achim Wagner 
 flugschau 
Gedichte 
 [SIC] – Literaturverlag 2011 
 | 
 
 
 Gerade weil dieser Gedichtband schon eine Weile da ist, muss man einfach noch einmal eigens auf ihn hinweisen: Er ist  die kleine Sensation der kleinen Sensationen – da, wo uns fast ausschließlich große Sensationen täglich bestürmen und mit ihrer inflationären Wichtigkeit langweilen. Die kleinen Sensationen geschehen immer weitab dessen, was Aufsehen erregt –
 ich rannte fast in dich / hinein auch wenn ich mich / damit nicht auskenne 
Achim Wagners  flugschau schwebt wahrlich ein Stück über den Wolken der gängigen Dichtkunst, und beweist uns – natürlich mit Bezug zu Mallarmé – wie grenzenlos die Freiheit dort oben ist. Die Freiheit der Sprache wird einmal aufs Neue dargeboten und es ist schier unglaublich, was hier noch alles möglich ist. Was auch „noch keiner gemacht hat“, – sofern es irgendwem darum geht. Wie die Sprache kreuzt, wie sie quertreiben kann, wie Halbsätze in thermische Strudel geraten, welche Strömungen noch gänzlich unerforscht scheinen und wie sich Worte von warmen Aufwinden emporheben lassen. Das kann sehr erhebend sein. Hier sind alle Möglichkeiten offen, nahezu alles scheint denkbar und dichtbar, ohne dabei in Beliebigkeiten abzudriften. Die Sprache birgt noch allerhand Ungeahntes, wie sich hier einmal neu eröffnet und in der atemberaubenden Freiheit ihrer Flughöhe bewiesen wird.
 gegen den wind starten / partir face au vent 
 
valerie schläft mit nassen haaren auf der couch 
manchmal versteckt sie sich in zusammenhängen 
manchmal vertuscht sie sich selbst 
nachher zimmert sie einen stuhl 
Durch Auslassungen ergeben sich haargenaue Beschreibungen und Porträts. Ein paar schnell hingesprochene Alltagssentenzen werden motivisch variiert, deren Poesiegehalt noch nie jemand überprüft geschweige denn aufgegriffen hat. Flüchtige Andeutungen, erstaunliche Wort-Anflüge und allerlei Ephemeres, was da spontan vorgefunden wird, fließt in diese Gedichte. Gesprächsfetzen huschen vorüber, Szenen passieren: man vernimmt halblaut im Hintergrund ein Telefonat, bei dem man nur einen Sprecher hört und sich aus elliptischen Phrasen rasante Clips ergeben, in denen die Fantasie sich ganz von selbst Ungesagtes ergänzt. Dabei wird das, was gedankenlos an phrasenhaftem „Neusprech“ in aller Munde „unterwegs“ ist, weniger vorgeführt als vorgefunden und kunstvoll eingewoben; es bleiben Findlinge, die sich in die Gesamtmusik Wagners impressiver Lyrik einfügen. Die Schnitte sind rasant, die Zufälligkeit und Flüchtigkeit darf stehenbleiben. Somit bleibt immer eine Idee, wo der jeweilige Findling herkommt. Insofern ist die Herkunft des überraschend Erratischen dieser Poesiewelt immer noch ein Stück weit nachvollziehbar. Man kann beobachten, wie Sprechblasen durch den Raum huschen und rasch hingeworfene Worte darin wie alles schnell Vergängliche sogleich wieder verpuffen – nachdem sie von Achim Wagner eingefangen wurden. Diese feinen Gebilde schaffen erstaunliche Einblicke in das Wesen der Kommunikation – was da alles geschieht an den Kanten der Alltagssprache, was u. a. durch kunstvolle Enjambements ans Licht geholt wird.
 
Die Wörter  licht und  leicht kommen vom selben Wortstamm. Beide Beschreibungen treffen für die  flugschau ins Schwarze, obwohl die Texte insgesamt helle Farben, ja beinahe Pastelltöne haben. Leicht aquarelliert, zartfüßig (oder zartflügelig?), impressiv, variantenreich, luzid – wären so ein paar Schlagworte, mit denen man sich Wagners Dichtungen nähern könnte und ihrem sehr poetischen und immer wieder verblüffend neuen, aufregend „schlanken“ Tonfall. Flüchtige Schwebstoffe der Worte, leichter als Luft, addieren sich zu einer einzigartigen Komposition. Sporadisch, immer leicht und mitunter leicht verstörend. Die Texte machen es sich und dem Leser nicht leicht. Immer wieder werden Erwartungen unterlaufen.
 bis zu einem hintereingang / beschatte ich mich
ein kopf der nur noch sich selbst / hört zwei gespräche gleichzeitig 
 
 Auch wenn Wagners Texte zumeist ultraleichte Fluggeräte sind, haben sie doch Gepäck und transportieren immer etwas. Verblüffend ist, dass sogar sperrige Frachten wie das Thema  Identität des lyrischen Ich und der zumeist weiblichen Protagonisten auf gelenken Tragflächen durch die Lüfte befördert werden. Es geht immer wieder um Identitäten: Protagonisten erkennen sich selbst wieder, in Dingen, identifizieren sich mit Gegenständen, werden selbst zu solchen,  ich bin ein film ein dorf / ein gelber briefkasten, oder verdinglichen:  am rand einer tasse /bemerke ich // mich wieder oder  ich werde mich ersetzen lassen. Das lyrische Ich spricht im Monolog zu sich,  ich wurde bedingt / in einen unfall verwickelt / in ein versehen. Es gelingen Texte, die trotz ihrer Skizzenhaftigkeit eine kleine, empfindsame Geschichte erzählen; es entstehen Bilder,  mélanie bringt ein Klavier / durcheinander. Es sind jedoch nicht nur die luftig leichten Themen und Motive, die Wagners Gedichten Inhalt verleihen.
  
(…)
 anne hing an fünf 
infusionen die glucksten 
minütlich sie denkt 
daran wie ihre fäden 
gezogen wurden seitdem 
beobachtet sie sich häufig 
dabei wie sie einen 
mühsamen ventilator 
 bestaunt oder 
 eine einfältige tischlampe 
(…)
  
„Zarte Gebilde, Kunstflüge sind die Wagnerschen Miniaturen. Für Auftrieb unter den Tragflächen sorgen Anspielungen u. a. auf das französische Kino, die Nouvelle Vague. Diese  flugschau ist auch eine Verbeugung vor den Literaten und Filmemachern des großen Nachbarn. Dunkles kommt zur Sprache, man hört das Räuspern hinter dem Kinositz, verhaucht eine rasche Zigarette im Foyer“, steht auf dem Rückumschlag.
  
das leitwerk / l'empennage 
 
hinterher verzweigte sich ihr nacken 
die umgebung an ihren fersen 
ich betrachtete nur die bilder 
das knistern an den nähten 
das waren stellen die sich auflösten 
hélène 
Dazwischen Frauennamen. Oder eigentlich Frauenporträts. Ophélie, Isabel, Michelle. Noémie, Yvette, Emmanuelle. Frankophil, leger, pikant. Zwischen nebenbei aufgefangenen Viertelstgesprächen ein raffiniertes Spiel mit der Erotik. Neben pittoresken Wortspielen  farbkleckse sprengeln / sylvies kinn entstehen  positionslichter auf schulterblättern. Doch einige Texte haben auch ihre Melancholie, ihre Tragik: sie laufen sich in straffer Melodie an ihrer chansonhaften Leichtläufigkeit fest und erhitzen, werden im Laissez-faire messerscharf – jene Ambivalenz, wie sie beispielsweise im englischen Wort  daisy chain steckt, das gleichzeitig als  Gänseblümchen und  Kette gelesen werden kann. Das ganz Schwere im Allerleichtesten. So kommt, auch aufgrund der französisch angehauchten Tristesse cineastischer Anspielungen, bei manchem Gedicht bisweilen ein leichter Schauder auf.
 die wetterkarte / la carte du temps 
 
vierter oktober zweitausend 
sieben 
in einem vorsätzlichen 
souterrain stammt sie 
aus martinique heute 
ist ihr namenstag 
was sie gleichmäßig 
bestätigt wir kaschieren 
marine fugen 
sie sitzt neben mir 
meine augen sind verbunden 
sie sitzt neben mir und 
behandelt eine marimba 
ich heuere indes 
mehrere szenen an 
Auch Bilder der klassischen Moderne, vornehmlich von Modigliani, kommen einem bei dieser speziellen Ästhetik in den Sinn. Manchmal meint man, in einem Studio selbst vor einem Zeichenblock zu stehen, wo ein Akt gemalt wird, hört die rauen Wischer der Kohle, riecht das Fixativ und spürt förmlich die Wärme des Körpers wenige Meter vor sich. Diese Gebilde sind in ihrem Einfallsreichtum inmitten einer Poesielandschaft hochkarätig, wo Zwischentöne und Vielschichtigkeit zunehmend abhandenkommen, die keine Nuancen mehr kennt, wo Gedichtbände aufrüsten und ihren Gehalt gleich im ersten Gedicht zynisch verfeuern; denn das muss „packen“ und „plätten“ – von derlei plumpen Versuchen, sich interessant und wichtig zu machen, ist Achim Wagners Lyrik meilenweit entfernt.
 
Seine  flugschau wirkt leicht und luftig, hebt ab und setzt zu grandiosen Flügen an. Die Gedichte sind propellergetrieben, strotzen weniger vor Kraft als dass sie wendige, kleine Kunstmaschinen in den Lüften sind. Es geht dabei weniger ums Fliegen von eleganten Figuren, auch wenn gerade darin die Meisterschaft zu spüren ist. Man wird immer wieder überrascht, was in puncto Sprache noch alles möglich ist (und vor allem wie virtuos es beherrscht wird) an Farbabstufungen, Abschattungen, Tempo-, Takt- und Rhythmuswechseln. Geschickt wird die Welt des Fliegens, des Bewegtseins, der Flugmanöver und ihrer Triebwerke in den Bereich der Zwischenmenschlichkeit angehoben. Wagners Poesie besticht immer wieder von neuem mit Eleganz und Finesse und wirkt dennoch nie willkürlich. Hier geht es um Nuancen, um oft Ungehörtes und fast unhörbar Subtiles. Und fast atmet man auf, dass es das noch gibt. Dass man das noch erleben darf – es wirkt dabei nicht einmal ansatzweise „retro“! Da, wo manch junge Lyrik in ihrem lauten und naiven Mitteilungsenthusiasmus so etwas wie „Komplettversprachlichung aller Dinge“ anstrebt, und mit Popstargehabe und superkluger Pose jugendlichen Sprechdrang auslebt, ist diese Dichtung voll zarter Zwischentöne und glaubt längst nicht mehr daran, dass alles sagbar ist – oder gar an das unsterbliche Gerücht, dass die Poesie die oft zitierte „Anwältin des Unsagbaren“ ist.
 
Wagners Poesie ist zurückhaltend und zeigt dennoch ein vielschichtiges Zwischenreich der sprachlichen Frei- und Feinheiten, der Überraschungen, der Wendungen und somit der kleinen, oft unbemerkten zwischenmenschlichen Manöver, die auch immer wieder Anflüge von Erotik haben. Dabei bleibt das alles nicht nur fragiles Spiel, sondern birgt zwischen den Zeilen so manch heikle Fracht. Die Texte sind dabei weit weg von allzu grüblerischer Hermetik oder expressiv überladenen Wortkaskaden. Auch hier kommt Luft in die Texte, die schlank und schön auf dem Papier stehen. Deutlich wird die Freude am kühnen Sprachexperiment mittels vorsichtig und fein verfugter Sprache. Das Angenehme: Achim Wagners Gedichte heben ab ohne abgehoben zu sein. Sie bleiben sanft in der Schwebe. Die federweiche Landung gelingt, das Leserpublikum applaudiert.
 
  
 
 | 
 
 
 | 
 
 
 | 
   
Armin Steigenberger 
Lyrik 
 
  
 
 | 
  |