Martin Lechner
Gefahr des lockigen Wegs
Bevor mir der Kopf zerplatzt, kurbele ich das Fenster herab. Dort, da hinten! Leuchtend dreht sich das Riesenrad. Geben Sie Acht, sagt der Taxifahrer, als wir ankommen. Ich schnappe einen Schein aus der Börse und laufe in den Rummel. Unzählige Menschen, die Schlange stehen vor dem Riesenrad! Als mein Bauch vor lauter Zuckerwatte schon zu wölken beginnt, komme ich an die Reihe und stürze meiner Geliebten in die Arme, die in der Gondel, wie sie behauptet, schon wartet seit unendlicher Zeit. In Wahrheit muss sie vor mir in der Schlange gestanden haben. Seit unendlicher Zeit, sagt sie noch einmal, während wir in die Höhe steigen zu unserer ersten gemeinsamen Runde seit dem Frühling, immer weiter hinauf, bis das Heulen und Kreischen aus der Geisterbahn kaum noch in die Gondel dringt.
Ich bewundere die Arme meiner Geliebten. Sie umschlingen meinen Rücken. Sie sind schmal und glatt und zeigen keine Ader, die sich vor Erregung aus der Beuge hebt. Aber sie hält mich fest mit aller Kraft, so fest, dass ich ihren Herzschlag spüre in der Brust. Ich habe das Kinn auf ihrer Schulter abgesetzt und schwanke hin und her im Duft ihrer pinkfarbenen Locken. Wäre mein Kopf von einem Glockenhelm umschirmt, ein lautes Läuten verkündete meine glücklichste Stunde der Saison.
Als es wieder hinuntergeht, krallt sie ihre spitzen falschen Fingernägel in meinen Rücken, mit einem solchen Ruck, als hätte sich die Schraube gelöst, als stürzte unsere Gondel auf die Erde zu. Aber ich trage ein festes Jacket und ein kräftiges Hemd und empfinde keine Schmerzen. Durch die Nase ziehe ich den Duft, der aus der Tiefe ihres Rückens steigt. Sie schwitzt ein wenig. Dem Riesenradbesitzer, der mich mit verschränkten Armen überprüft, zwinkere ich zu, als wir vorübergleiten zu einer weiteren Runde hinauf in die Höhe, so weit, bis wir wieder schweben auf diesem Summen, zu dem sich die Stadt hier oben verringert.
Schau die da drüben, sage ich, niemals, nicht einmal zum Jahrmarkt, dürfen sie aus der Wohnung. Schau, wie krumm sie im Fenster hocken, sage ich, endlose Abende im Wohnzimmer, unter diesem Wohnzimmerlicht, das nichts anderes ist als ein Gefängnislicht, das erst abgeschaltet wird, wenn sie hinunterstürzen in den Schlaf. Und schau die Straßen, diese Schluchten, die Schlangen der Wagen darin, in jedem Wagen einer eingesperrt, jeder Wagen ein Gefangenentransport, lauter Beine, lauter Füße, sage ich, die gekettet sind an die Pedale, lauter Hälse, die an die Lehne geschnürt sind, nur eine falsche Bewegung auf dem Transport nach Hause, der geringste Blick zur Seite, und sie erwürgen sich selbst.
Da flüstert mir meine Geliebte ins Ohr: Möchtest du mit mir in der Gondel bleiben, auch dann, wenn das Rad sich nicht mehr dreht? Herzlich gern, sage ich. Auch dann, fragt sie, wenn wir stehenbleiben auf halber Höhe, die kalte Nacht hindurch? Aber ja, sage ich. Auch dann, fragt sie, wenn die Gondel vom Rad geschraubt wird und wir all unser Geld hinlegen müssen, um den Riesenradbesitzer zu überzeugen, dass er uns nicht hinauswerfen darf, nie mehr, dass er uns in der Gondel lassen muss, immerzu, beim Ab- und beim Aufbau des Jahrmarkts, während langer Fahrten im Dunkel der Transporter, über Tage hinundhergeworfen und mit nichts versorgt als mit alten Süßigkeiten? Nichts lieber als das, sage ich. Aber auch dann, wenn wir eingelagert werden, sechs Monate lang, vom Herbst bis zum Frühjahr und vom Frühjahr bis zum Herbst, mit einer Plastikplane abgedichtet gegen Licht und Luft. Auch dann, rufe ich. Auch dann, fragt sie wieder, wenn man uns aufgehängt hat, an einem winzigen Rad, das sich nur mit unserer Gondel dreht, auch dann, wenn wir mit Eis beworfen werden, während unserer winzigen Runde, mit Glühwein überschüttet, auch dann, wenn sich die Menschen bereits die Nase zuhalten, weil wir bereits so riechen, so stinken, so sehr, dass selbst der Riesenradbesitzer uns nur aus der Ferne und nur mit einem Feuerwehrschlauch abzuspritzen wagt, umsonst!, da sich der Gestank längst durch die Haut gefressen hat bis ins Fleisch, willst du so, mein Geliebter, mit mir leben?
Während ihres letzten Satzes habe ich Luft geholt und schreie jetzt aus vollem Hals: Ja, ich will! Mein Atem fährt an ihrem Rücken herab in die Tiefe und lässt ihr Kleidchen flattern.
Da nimmt sie meinen Kopf in die Hände und sagt, mein Lieber, wir müssen uns trennen. Kaum haben ihre Lippen sich wieder aufeinandergelegt, springt sie aus der Gondel. Ihre pinkfarbenen Locken leuchten im Sturz. Der Riesenradbesitzer erwischt sie mit hochgestreckten Händen und trägt sie an der Schlange vorbei. Sie macht die Augen zu und pustet einen Kuss in die Nacht. Als sie etwas zu ihm sagt, drückt sie der Riesenradbesitzer, in dessen Armen sie immer noch liegt, fest an seine Brust, während ich fortgetragen werde zu einer weiteren Runde durch die Luft.
Zuerst erschienen in Sprachgebunden Nr. 4 | © Martin Lechner
|
Martin Lechner
Prosa
|