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Martin Lechner

Betrachtung des zu Tode gekommenen Menschen
in der Gaststätte Willi Bresch



Bis zur Kreuzung vor, soll er gesagt haben, und zurück auf den Posten zwischen den letzten Schultern der Welt, hinein durch die schwingende Tür, um sich wieder, endlich wieder, einzuordnen in den Verkehr der Menschen an der Bierdeckelbahn, der auf die einzig tragbare Weise herrscht und herrschte und immerfort herrschen wird in der Gaststätte Willi Bresch, einzig da, ruft der seit geschlagenen zwei Jahren in seiner Wohnung verschanzte Mensch, da hinein zurück!, ruft er durch den Trichter seiner Hände in den wolkenreichen Himmel über der Kreuzung und setzt, ohne abzuwarten, dass die Ampel umspringt von einem roten auf ein grünes Männchen, seinen Fuß auf eben diese Kreuzung, das ist die Kreuzung Danziger, Ecke Greifswalder Straße, und wird nach zwei Schritten sogleich erfasst von dem einzigen, durch diesen totenstillen Sonntag gejagten Gefährt, wird hochgestoßen in die Luft, wird verschluckt auf dem Bremsweg und verschwindet, vom Tresen klar zu sehen, unter dem Kühlerhaubengrill, unter dem es knackt, klar zu hören, ein Platzen der Organe, das widerhallt von sämtlichen Hauswänden der Kreuzung, ein aufgeplatzter Brustkorb, ein lahm gelegter Leib, der vermutlich, ja, vermutlich, gleich hervorgezogen und mit kurzem Umweg über das Klinikum Vivantes davongefahren werden wird auf den Ersten Pfarr­bezirks­friedhof, und geschlagene drei Tage später, mittags um zwei wird es sein, in einer bereits ausgehobenen Grabstellengrube versenkt werden wird, mittags um zwei wird es sein und die glänzende Kiste, Mittwochmittag um zwei auf dem Ersten Pfarrbezirksfriedhof am unteren Ende der Greifswalder Straße, und die glänzende Kiste steht in der letzten Ruh, wie es heißt, und wird beworfen mit Blumen und mit Erde, vermutlich, ja, vermutlich, von drei dicht aneinandergepressten Angehörigen, deren Münder zittern, vermutlich, weil sie nichts mehr sagen können, gleichviel, ob sie hundert oder zwei oder dreihunderttausend Worte angesammelt haben in ihren plötzlich gelb gepunkteten Hälsen, Worte, die herauswollen, hinab in die Grube und hoch in die Luft, die sich augenblicklich, kaum dass die Maschine den Leib erfasst, ihn hochstößt, dann verschluckt, mit einem Wind anfüllt, einem regelrechten Sturm, der ausbricht inmitten des Himmels, und der vermutlich, ja, vermutlich, die Blumen verwirbelt am Blumenhaus Eltschik, und der, wie man hört, seine ungeheuren Wolken zwischen den Hauswänden entlangschiebt, immer weiter durch die allmorgendlich wie allabendlich von einem hinein­und­hinaus­rasenden Verkehrs­strom zugestopfte Greifswalder Straße, hinauf bis zur Kreuzung mit der Danziger Straße, auf die er, der Wind, der ausgekochte Sturm, geradewegs herab eins seiner Ungeheuer drückt, den Menschen zu verschlucken, der früher, vor geschlagenen zwei Jahren, häufig unsere Blicke kreuzte, das sind die Blicke der Tresen­mannschaft der Gaststätte Willi Bresch, und der eben durch den Trichter seiner Hände rief, ich will zurück, zurück zu euch, bevor er herunter­gerissen wurde von seinen frei voran­geworfenen Beinen, die nun, wie der gesamte Mensch, ver­schwun­den sind unter der Kühlerhaube des letzten Gefährts, das nun, samt des überfahrenen Körpers des Menschen, eingewattet ist, zugenebelt ist, genauso wie der Tresen in der Gaststätte Willi Bresch, der in der jäh hereingebauschten Wolke plötzlich zu schweben scheint, samt der gesamten Tresen­mannschaft, deren Köpfe und Mützen schon an die Zimmerdecke stoßen und die erst wieder auf die Füße kommen, schwindelnd auf die Bohlen herab, als die Wolke endlich die Kreuzung verlässt, auch die Wirtschaft, wieder hinauf­gestiegen ist bis hoch in den Himmel, verscheucht, wie es scheint, von der gestreckten Faust des Fahrers, der auf der auge­nblicklich still und reglos daliegenden Verkehrs­straßen­kreuzung sein Gefährt untersucht, sich bückt und darunterschaut, wo, bis auf die schwarzrot glänzende Spur, nichts mehr ist, kein Mensch, nur er, der Fahrer, und sein Gefährt, diese zwei sind da und erfüllen die Kreuzung mit Leben, ganz für sich sind sie da, und sind einander zugetan, wie es scheint, denn der Fahrer, der nach einer Stippvisite im Kleinen Versteck nunmehr eilig unterwegs war in die Wohnung zu seiner ihm angetrauten Frau, er streichelt sein Gefährt und wischt ihm die Wunden aus, das Blut, das den Scheinwerfer färbt und das zur Prüfung eingeschaltete Licht aus dem Scheinwerfer, das Blutlicht an diesem, bis auf den unerhörten Wolkenfall, verhältnismäßig verstandesgerechten, überdies sonnigen Sonntagvormittag, das wird jetzt heruntergewischt von dem Scheinwerfer, auch die Stoßstange putzt der Fahrer dem Gefährt wieder sauber, denn so, erklärt er gleich am Tresen, so behandelt man Wesen, die man am Leben zu halten trachtet, weil auch sie uns am Leben erhalten, auch, wenn es einmal schwer wird, das Leben, das im Grunde aber ein leichtes ist, ein leichtes Leben und ein großes Spezial, ein leichtes Lebensspezial voll würdiger Zeit, sagt der Fahrer, die aber dann nur würdig ist, aufgemerkt, wenn sie nicht gelöchert wird, denn allein die ungelöcherte ist die würdige Zeit, sagt der Fahrer, die unbestimmte und die stimmige, meine Herren, die hochgestimmte Zeit, eine solche wie diese, sagt er jetzt und lässt den unlängst vor die Lippen gehobenen Obstler endlich herunterrinnen durch seinen weiten, weichen Hals, an dem sogleich ein Punkt aufleuchtet, ein gelber, da ein zweiter, noch ein dritter, vierter, fünfter knallgelber Punkt, ver­mut­lich, da es so schrecklich gerummst hat, ja, vermut­lich, beim Aufprall des Gefährts auf dem Menschen, der in der Wolkenluft sich aufgelöst, nein, geflüchtet, sich weggeflüchtet haben muss in die Kanalisation, während unsereins, meine Herren, sich genötigt sieht, die Leibesruhe aufzufrischen, die so zerrüttet ward, keineswegs gleich weiterhasten darf in die Wohnung zu der uns hauptamtlich angetrauten Frau, nein, sondern erst einmal, nach dieser so unwürdig übereilten Verab­schiedung von den saftigen Gesäßen im Kleinen Versteck, einen weiteren Obstler hinunter­schicken muss, zur Auf­lösung des Schreckens, der immer noch nachzittert, in den Hoden genauso wie den Händen, meine Herren, das sind übrigens zwei langjährig eingeübte Fahr- und Lenkers­mannhände, denn ein jeder Schrecken, der uns fürchten lässt, wir haben einem Menschen das Leben abgeluchst, und sei es nur einem betrü­geri­schen Menschen, einem Windhund, Leichtfuß, Tier, das in Wahrheit, jede Wette, sich längst hinab­gestohlen hat in die Kanäle, die Ströme der Abwässer, heimlich wieder hochgeschlüpft sein muss, aus dem Gulli hinein in den Sparstrumpf, das ist die feindliche Wirtschaft auf der anderen Seite der Kreuzung, denn ein jeder Schrecken verdient nichts als seine Vernichtung, zumal, wenn er schnurstracks aufzusteigen droht in das Gemütlichkeitsgefüge, zu dem das Leben mit der uns angetrauten Frau, Amen, sich beruhigt hat, Amen und Prost, sagt der Fahrer und verlässt, allerdings anders als mit diesen unwürdig übereilten Schritten die prall gepumpten Brustwerke im Kleinen Versteck, die Gaststätte Willi Bresch, und sagt sich, durch die Fensterfront von seinen Lippen klar zu lesen, dass genau zu dieser Einsicht, dass die würdige Zeit auch die gelassene, ja, die in Gelassenheit zur Stimmigkeit sich hochstimmende Zeit ist, den Menschen umzufahren gut war und vernünftig, und fährt davon, bevor, wer dem Gefährt erlag, jählings, wenn auch geschlagene drei Tage später, ein- und zurückkehrt, nein, wiederkehrt und mit seiner Bestellung sich unauffällig einzufügen müht in den großen Eisbeintag, der da heute herrscht im Herzen unserer Wirtschaft, das ist die Gaststätte Willi Bresch, und sich keineswegs verflüchtigt haben kann in die unerhörte Wolkenwälzung, noch sich weggestohlen haben kann auf einen Hocker im feindlichen Sparstrumpf, noch gar, wie ein Teufel, hinabgetaucht sein kann in die Kanalisation, sondern, klar abzulesen an den Schlammspuren in seinem Gesicht, den Erdbrocken an seiner Kleidung, sich herabgewühlt haben muss in die Erde, wenn auch wohl kaum in den wohl verwalteten Erdgrund des Ersten Pfarrbezirksfriedhofs am unteren Ende der Greifswalder Straße, sondern in irgendein ihn geschlagene drei Tage später wieder aus­spuckendes, sogenanntes Erdreich, mit dem die Welt uns im Inneren ihrer müde im Dunkeln hängenden Kugel zu erwarten behauptet, wenn auch wohl nur, zumindest für den gültigen und end­gültigen Aufent­halt, wenn der Zustand kein derart ramponierter ist wie jener dieses zufällig zu Tode gekommenen Menschen, den keiner mehr kennt, kein Mensch, zumindest keiner von uns, und der seit geschlagenen zwei Jahren keinen Schritt mehr, wie es heißt, vor seine Tür gesetzt hat, es sei denn, um vorzulaufen bis zum Supermarkt, wo er hin und wieder gesehen worden war, denn ein derart ramponierter Mensch darf nicht, das ist offenbar, herein und herunter in das bauchig warme Erdreich, denn zunächst einmal muss er in eine Ordnung zurückversetzt werden, genäht und geflickt muss er werden, oder auch mal eine eigenständige Bemühung an den Tag legen, wenn schon nicht den Schaden vollends zu beheben, so doch zumindest die aufge­rissene Haut zu überdecken, über dem Bauch­raum, die linken Wange ebenso, die herunterlappt vom Kiefer bis auf die Schulter, den Blick freigibt in die Mundraumhöhle, auf das Gebiss und das Eisbein, das heute auf der Tafel steht, vor der aufund­zuschwingenden Tür, vor der augenblicklich, nach dem allmorgendlichen und noch vor dem feierabendlichen Verkehrs­straßenstrom, geschla­gene drei Tage nach dem Aufprall, dem Unfall, eine ungekannte Ruhe herrscht, eine erschreckende Mittwochmittagsruhe, die alles, den gesamten Bezirk, und sogar, wie man hört, die Schlünde im Kleinen Versteck, das der Fahrer so eilig verließ, erstickt, in der allein zu hören ist, wie ein Messer durch den Fettmantel gleitet, wie Zähne einen Bissen zerstückeln, wie der Darm im Inneren des zu Tode gekommenen Menschen das Eisbein, statt es einzuordnen in den lebendigen Leib des Leichnams, unordentlich hinaustransportiert ans Licht, das ist unser geschwächtes Tresenlicht, denn in der Nachwelt, zu der sich die Gaststätte nunmehr verdüstert, ist dem zu Tode gekommenen Menschen der letzte Nahrungsanspruch längst erloschen, und selbst das Eisbein, die allerschönste Nahrung, sackt brockig braun durch die durchgeschabte Hose, tropft vom Stuhlsitz herunter auf den Boden, die abgewetzten Bohlen, die auf keinen geringeren zulaufen als auf Bresch leibhaftig, unseren Willi, der bekanntlich eine für ein Höchstmaß an Sauberkeit und Ordentlichkeit sich übermenschlich weit nach vorn lehnende Persönlichkeit ist, und der jetzt, im Angesicht des Unrats, der grässlichen Dämpfe, den zu Tode gekommenen Menschen, der übrigens keinerlei Widerstand leistet, auf die Straße schleift, auf den Bürgersteig, um genau zu sein, der im hellsten und stillsten Mittwochmittagslicht liegt, sogleich nachstößt wie ein Stier mit dem Gaststättensitz, durch die Brust geht ein Bein, in den Hals geht ein Bein und jetzt auch in die Magenblase, aus der ihm ein saurer Strahl entgegenspringt, zischend niedergeht auf dem Wirtskittel, ihn jedoch, Bresch in Rage, statt ihn zurückzuschrecken, sogleich ein weiteres, ein viertes und ein fünftes Mal, zustoßen lässt, denn wer außer Stande ist, das Mindestmaß an Sauberkeit und Ordentlichkeit aufrecht zu erhalten, hat nichts zu suchen in der Gaststätte Willi Bresch, und wer ohne das Mindestmaß an Sauberkeit und Ordent­lichkeit sich dennoch hinein­schleicht in das gepflegte Bierlokal, hat in seine Rechnung den Stuhl einzutragen, der mit Schwung jetzt auf den Schädel kracht, einerlei, ob das Herz im Körper des Menschen bereits zerquetscht worden ist, zwischen der Wirbelsäule und dem Brustbein, wie bei Maßnahmen zur Wiederbelebung, wenn das Blut, das den Herzschwamm füllt, nicht mehr allein herausgedrückt werden kann, sondern nur noch mit der Hand, zurück in die Blutbahn und hoch in den Kopf, der nun zum sechsten, zum siebten Mal schon auszuhalten hat, dass ihn die Persönlichkeit Willi Bresch, beim geringsten Versuch erneuter Selbst­aufrichtung, wieder auf den Boden hämmert, zum achten und zum neunten Mal, bis das Möbel in die Brüche geht und der zu Tode gekommene Mensch sich nur noch unkontrolliert herumwälzen kann auf dem Bürgersteig und zugleich in der unsinnigsten aller Erinnerungs­welten, zu der sich ver­mutlich, ja, vermut­lich, die Nachwelt zusammen­geriegelt hat, so fest, dass keine Freiheit blüht für unseren zu Tode gekommenen, im Übrigen noch recht jungen, wenn auch auffällig vorgealterten Menschen, der früher, wie es heißt, nach seiner alltäglichen Arbeitstätigkeit abends sich zwischen uns fügte, und der sich am Ende seines Lebensweges, kurz vor dem Umspringen der Fußgänger­ampel von einem roten auf ein grünes Männchen, in einer stärkeren Korrektur befunden haben muss, wirtschaft­lich gesprochen, einer allumfassenden Eigenheits­korrektur, die ihn, als der verstandes­gemäße Sonntag­vormittag auf den Mittag hin sich wölbt, keineswegs wie einen Wirt­schafts­betrieb, aber doch herabführt, die Treppen herab, mit einem grollend gesteigerten Risiko­appetit endlich heraus aus der Wohnung und hinunter auf die Straße, auf den Bürgersteig, um genau zu sein, wo er sich aufstellt mit einer regelrecht globalen Spreizung der Beine und nunmehr endlich wieder hineinwill in den Verkehr der Menschen auf dieser so lebendig beleuchteten, nichts­destotrotz im Dunkeln hängenden Weltkugel, in die er bereits nach wenigen Schritten, die er abschreitet auf dem neu eingeschla­genen Lebensweg, hinab­zusinken, oder zu wühlen, sich gezwungen sehen wird, wenn auch nur für geschla­gene drei Tage, hinab in das sogenannte Erdreich, das in seinen Mund drängen soll, saftig braun ausstopfen soll es ihn, ihn sich einverleiben soll es, ihn, dessen Namen wir vergessen haben, da er alle Zeit auf eine uns allen unbekannte Weise verlebt hat, bei herabgelassenen Jalousien, wie es heißt, in einer eingestaubten Bettstatt, denn der zu Tode gekommene Mensch war seit geschla­genen zwei Jahren der krank geschriebene Mensch, der ab­ge­schot­tet verholzte Mensch, der burghaft verschanzte, der zugeschlossene, abgeschlossene, unerschlossene Mensch, der über die Zeit ganz und gar vergilbt ist und dürr geworden wie ein Hundekauknochen, und gedankenlos geworden wie ein Luftballon, der an der Zimmerdecke schwebt, und herzlos geworden wie ein im Abguss muffelnder Schwamm, so gehaust hat der bereits im Leben zu Tode gekommene Mensch, der nach dem Tode unbegreiflich wieder­belebte Mensch, der es mittlerweile, wenn auch langsam, allemal aber wunderbar unfallfrei geschafft hat, hinüber­zukrabbeln über die Kreuzung, das ist die Kreuzung Danziger, Ecke Greifswalder Straße, hinein in die der Gaststätte Willi Bresch feindlich gegen­überliegende Wirtschaft Zum Sparstrumpf, genannt Socke, wo er später, wie es heißt, einen Hocker erklomm und sprach, dass Tränen, auch die Tränen einer Dame nicht, kein Anlass für Gefühle sind, sondern allein für Handlung.

Zuerst erschienen in Manuskripte 183 | © Martin Lechner

Martin Lechner   09.08.2009    
Martin Lechner
Prosa