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Gespräch über Gespräche mit Dichtern

Axel Helbig im Gespräch mit Eyk Henze von Kunststoff
Axel Helbig befragt seit Jahren für die Zeitschrift für Literatur und Kunst OSTRAGEHEGE Autorinnen und Autoren zu ausgewählten Aspekten ihres Werks. Die Gespräche liegen nun gesammelt in dem Band »Der eigene Ton – Gespräche mit Dichtern« vor, was Anlass dazu bot, mit ihm über das Reden zu reden, das Lesen und Schreiben.

Das Gespräch führte Eyk Henze für die Zeitschrift KUNSTSTOFF externer Link.


Eyk Henze: Herr Helbig, ich stelle Ihnen hier Fragen über die Gespräche, die Sie mit Schriftstellern geführt haben, man könnte sagen auf Meta-Meta-Ebene. Wie nähern Sie sich den beiden Ebenen, der Literatur selbst und den Autoren und Autorinnen im Gespräch?

Axel Helbig: Ich nähere mich mit der gebotenen Achtung. Der Literatur, die ich als solche verstehe, indem ich versuche, ein wacher Leser zu sein. Den Autoren und Autorinnen, indem ich grundsätzlich alle Bücher der zu Interviewenden vor dem Gespräch noch einmal lese und mir bei dieser Lektüre entsprechend Notizen mache. Das, was mich beunruhigt und zugleich begeistert – Sprache, Formen und Inhalte –, möchte ich so intensiv wie möglich aufnehmen. Dieser Aufwand ist geboten, denn ich breche in den Alltag eines arbeitenden Menschen ein, der sich auf mich einlässt. Für diese Ruhestörung muss ich einen Preis zahlen. Allerdings gebietet diese Methode, dass ich nur jene Autoren interviewen kann, deren Gesamtwerk mir hinreichend interessant erscheint, um es noch einmal zu lesen. So gesehen erhalte ich eigentlich ein Geschenk. Dieses Geschenk nenne ich kostbare Unruhe.

E. Henze: Im Vorwort zu Ihrem Buch machen Sie deutlich, dass Sie sich der Wissenschaft nicht andienen wollen und deshalb auf ein starres Frageraster verzichten. Sie stellen zwar allen Autoren und Autorinnen andere Fragen, aber sie stellen welche, und die brechen zuweilen mit der zuvor gegeben Antwort. Inwieweit lassen Sie sich von der Eigendynamik der Gespräche treiben oder führen es entlang eines roten Fadens?

Axel Helbig
Der eigene Ton
Edition Erata 2007

A. Helbig: Das Interessante an einem Gespräch mit einem Dichter ist, dass man nie weiß, wo man ankommt. Diesen offenen Raum über das Gespräch hin zu erhalten, scheint mir wichtig. Natürlich versuche ich, einen roten Faden im Blick zu behalten. Natürlich notiere ich vor dem Gespräch Fragen, die mir bei diesem Gespräch nützlich sein können. Wichtiger jedoch ist die Eigendynamik des Gespräches. Dem Autor muss die Möglichkeit eröffnet sein, auch seinerseits das Gespräch auf das für ihn Wichtige hin zu strukturieren. Denn es geht ja um diesen Autor, um den Versuch, diesen Menschen in seinem Denken und seinem Werk kennen zu lernen. Das ist der ganze Sinn und Zweck des Gesprächs. Damit dieses gelingt, muss ich hundert Fragen ins Gepäck nehmen, auch wenn ich letztlich nur acht oder zehn stellen kann. Insofern besteht die „Wissenschaft“ im Auswählen der für die jeweilige Gesprächssituation angemessenen Fragen. Die Wissenschaft besteht nicht darin, ein Frageraster abzuarbeiten.

E. Henze: Ergibt sich für Sie als Naturwissenschaftler – Chemiker? Ich bin nicht sicher, ob ich richtig zwischen den Zeilen gelesen habe – eine andere Art des Lesens? Arnold Stadler verweist auf das Lesen als Kunst, in der der ideale Leser mit seiner Interpretation eine Version der Partitur des Textes zustande bringen könne? Sie gebrauchen beispielsweise Worte wie Modus, Denkoperation, assoziieren an einer Stelle sofort Geiger-Müller-Zähler und legen Tangenten an.

A. Helbig: Dass ich einige Jahre als Wissenschaftler gearbeitet habe, ist für meine Art des Lesens nicht von Belang, vielleicht beeinflusst es jedoch die Art der Herangehensweise an ein Gespräch und die Art und Weise der Gesprächsführung.
Ein Wissenschaftler hat immer eine Theorie. Wissenschaft erschöpft sich jedoch nicht darin, Bestätigungen von Theorien zusammenzutragen. Jeder Wissenschaftler weiß, dass sich Theorien nur solange halten, bis sie abgelöst werden. Auch die Widerlegung einer Theorie ist ein wertvolles Ergebnis. Dies zu beachten, kann die Flexibilität der Gesprächsführung erhöhen. Arnold Stadlers sehr schönem Gedanken von der Kunst des Lesens möchte ich nichts hinzufügen.

E. Henze: Norbert Gstrein zum Beispiel ist diplomierter Mathematiker, hat zu dem Thema promoviert, wie sich nach der Wahrheit fragen lasse und ob diese sich mittels Sprache erfassen lasse, und er beschäftigte sich wissenschaftlich damit, Computern natürliche Sprache verständlich zu machen. Merken Sie den Texten einen spezifischen Ton an, deren Autoren Wissenschaftler, zumal Naturwissenschaftler sind?

A. Helbig: Ich denke, bei den wirklich ernsthaften literarischen Auseinandersetzungen spielt es keine Rolle, ob einer Mathematiker oder Heizer ist. Die Probleme, die sich dem Autor stellen, sind von anderer Art als jene, die sich dem Naturwissenschaftler stellen. Norbert Gstrein hat diese Frage im übrigen beantwortet und in unserem Gespräch den Einfluss der von ihm wissenschaftlich untersuchten Situationssemantik auf sein Schreiben beschrieben, ein Einfluss, der ihm erst später, nach Abschluss der Arbeit am Text, bewusst geworden war. Solche spezifischen „wissenschaftlichen“ Tonlagen werden nicht gesucht, sondern eher gemieden, sie schleichen sich jedoch unbemerkt ein.

E. Henze: In Ihrem Buch sind die Gespräche nicht chronologisch aneinandergereiht, sondern gegliedert in die drei Kapitel „Zwischen Fakten und Fiktion“, „Die Sprache ist ein Unterwegs-Gebilde“ und „Dichten ist Sehen lernen“ sowie einen exilgeschichtlichen Epilog, der in einem Gespräch mit Lenka Reinerová besteht. Welchen Regeln oder Intentionen folgt Ihre Partitur der einzelnen Töne?

A. Helbig: Das Ordnungsprinzip des Buches hat sich erst ganz am Ende ergeben. Ein thematisches Ordnen der Texte erschien mir letztlich sinnvoller als ein chronologisches Ordnen. In „Zwischen Fakten und Fiktion“ werden weitestgehend Probleme des Schreibens von Prosa angesprochen. In „Dichten ist Sehen lernen“ geht es um Probleme der Lyrik. Die Gespräche in „Die Sprache ist ein Unterwegs-Gebilde“ ließen sich auch den beiden anderen Kapiteln zuordnen. Die hier interviewten Autoren weisen jedoch eine Besonderheit in ihrem Verhältnis zur Sprache auf: sie experimentieren mit Sprache (Endler) oder hinterfragen Sprache auf eine eigenspezifische Art (Erb) oder warten auf eine geradezu „martialische“ Weise auf Sprache (Lange-Müller). Der Epilog steht insofern für sich, weil in diesem Gespräch von den Büchern der interviewten Lenka Reinerová kein einziges Mal gesprochen wird. Das Gespräch war – obwohl ich auch für dieses Gespräch alle Bücher gelesen hatte – programmatisch auf die exilgeschichtlichen Aspekte und die Lebensumstände Reinerovás im totalitären Kontext beschränkt.

E. Henze: Herta Müller sagt, das Poetische entstehe durch die Präsenz des verschwiegenen Satzes. Für Arnold Stadler beginnt ein Buch erst nachdem sein Inhalt erzählt ist und für Niklas Luhmann ist Kommunikation ein eigenes System: Nur Kommunikation könne kommunizieren. Sie erwähnen an einer Stelle Novalis, der meinte, Sprache bekümmere sich nur um sich selbst. Wer nun macht den Ton eines Textes und hört der Leser diesen oder lediglich einen?

A. Helbig: Das Poetische und die Kommunikation sind unterschiedliche Dinge. Es gibt aber eine Gemeinsamkeit. Beide verweisen auf die Beteiligung des Lesers. Der verschwiegene Satz provoziert eigene Lösungen. Insofern „hört“ jeder Leser einen anderen Text, weil jeder Leser eine andere Erfahrung in den Text einbringt. Diese Partitur des Lesers, von der Stadler spricht, klingt, „nachdem der Inhalt des Buches erzählt“ ist, weiter und wird zu einer ganz eigenen Erfahrung des Lesers, die er mit keinem teilt. Zur Bedeutung der Kommunikation kann man im Gespräch mit Ilma Rakusa wichtige Hinweise erhalten. Sie ist eine Meisterin der Polyphonie. Aus dem Spannungsverhältnis unterschiedlichster Kommunikationsebenen und -formen speist sich die Eigendynamik ihrer Texte. Interessant finde ich, was sie über ihr Verhältnis zu eigenen Texten sagt: „Ich kenne meinen Text selber nicht zur Genüge. Ich werde ihn immer neu lesen, lesen müssen, denn der Zustand, als ich ihn schrieb – und selber war –, ist vorbei. Und vorbei jener geringfügige Anlass, der ihn auslöste.“ Wie René Char weiß sie um die Notwendigkeit, die wesentlichen Schatten zu bewahren. Diese poetischen Zwischenräume sind zugleich Angebote an den Leser, sich diese Texte ganz individuell anzueignen. Die Äußerung von Novalis nehmen Sie bitte als die Äußerung eines der originellsten Denker überhaupt und als Aufforderung, Novalis immer wieder einmal zur Hand zu nehmen. Es lohnt sich, über seine Gedanken zu meditieren.

E. Henze: Wie nahe darf Literatur, wenn sie Literatur bleiben und nicht Sachbuch werden will, der faktischen Wahrheit kommen? Jorge Semprun spricht von ihrer Neuerfindung, Arnold Stadler von erfundener Erinnerung, Herta Müller von erfundener Wahrnehmung und Norbert Gstrein von fiktionaler Wahrheit oder sogar fiktionaler Wahrscheinlichkeit. Oder umgekehrt, wie wichtig ist faktische Wahrheit für gute (mehr oder minder) fiktionale Literatur?

A. Helbig: Norbert Gstrein beantwortet diese Frage in unserem Gespräch erschöpfend. Wenn man, wie er, ein Buch über die jugoslawischen Kriege schreiben will, kommt man nicht umhin, ein Endlos-Archiv anzulegen. All dieses Angelesene muss man aber wieder „vergessen“ können, um, wie Gstrein es wunderbar beschreibt, aus dem Zustand eines „halbvergessenden Wiedererinnern“ heraus schreiben zu können. Dieser Zustand ist die verlässlichste Grundlage für glaubhafte fiktionale Literatur.

E. Henze: Angenommen, es gibt eine Realität, die dem Autor in irgendeiner Weise vermittelt wird oder die er sich selbst vermittelt als Realität'', die er mittels Sprache und Verschweigen in Realität''' verwandelt und der Leser seinerseits in eine vierte. Kann Literatur dann überhaupt absichtlich etwas bewirken? Günter Kunert meint ja, Schriftsteller haben ihre Funktion als moralische Autoritäten verloren. Für Christoph Meckel ist der moralische Appell Bestandteil der Kunst, die ihn aber verschlüsselt. Sie sei eben nicht – beispielsweise – Religion.

A. Helbig: Die Realität, die dem Autor vermittelt wird – etwa die Fakten der jugoslawischen Kriege als Recherche-Hintergrund für Gstreins Roman „Das Handwerk des Tötens“ – stehen unveränderbar im Raum. Man muss sie als Autor zur Kenntnis nehmen. Insofern ist es interessant, was Norbert Gstrein in diesem Zusammenhang über Peter Handke sagt: „Auf Leichenfeldern wandernd kann man den Kopf nicht nur in die Luft halten, sondern muss auch auf den Boden schauen und sehen, wo man hintritt.“ Das, was Gstrein fiktionale Wahrheit nennt, bedeutet also nicht, dass man sich als Autor eine neue Realität erschafft. Erschaffen wird eine Fiktion, die sich zwar auf die verbürgten historischen Realitäten gründet, allerdings eine Trennung von Fakten und Abbildung für notwendig ansieht. Gstrein bringt zum Beispiel in seinen Roman „Die englischen Jahre“ Imaginationen (Tagebuchnotizen einer Rechercheurin) ein, die den Roman für den Leser strukturieren, ihn jedoch zugleich auf eine falsche Fährte führen. Diese „fiktionale Wahrheit“ von Gstrein ist also eher eine neue Form der Wahrheitsfindung, die er dem Leser anbietet. Dies erschien ihm notwendig, weil er befürchtete, dass der immergleiche Anspruch der „1:1-Abbildung der Wirklichkeit“ (z. B. der Nazi-Verbrechen im Zweiten Weltkrieg) letztlich zu einer immer weiter fortschreitenden Konsumierbarkeit dieser Geschehen führt. Ihm lag es aber daran, den Leser zu verunsichern und ihn damit wieder stärker an diesem Geschehen zu beteiligen. Literatur kann diese Beteiligung des Lesers provozieren. Welche Schlussfolgerungen ein Leser für sich daraus zieht, bleibt ihm selbst überlassen. Der moralische Appell wird heute nicht mehr ausgesprochen, er wird in den Leser projiziert. Eine 1:1-Abbildung von allgemein bekannten Fakten kann beim Leser nichts bewirken. Wir brauchen, wie es Herta Müller sagt, die „Präsenz des verschwiegenen Satzes“, um den Leser für die, wie es Christoph Meckel nennt, „Inventare des Limbo“ zu sensibilisieren.

E. Henze: Franz Hodjak setzt die ästhetische Funktion der Literatur an die erste Stelle. Die politische stehe an zweiter in einer Diktatur, während derer man nicht anders als politisch schreiben könne. Wie politisch ist die Literatur unserer Tage? Oder anders. Ist unsere Gegenwart, ich meine absichtlich nicht unsere Vergangenheit, kontrovers genug, um Gegenstand der Literatur zu sein? Wie etwas handwerklich gut oder schlecht gesagt wird, ist das eine, aber was hat uns die Literatur von heute zu sagen? Vergreift sie sich auch mal im Ton?

A. Helbig: Die ästhetische Funktion der Literatur stand zu allen Zeiten an der ersten Stelle. Wenn Sie so wollen, sind all die von uns besprochenen Fragen – die „Präsenz des verschwiegenen Satzes“, die „fiktionale Wahrheit“ – Fragen der ästhetischen Funktion der Literatur. Ob eine Literatur politisch ist, ist eine Definitionsfrage. Man kann Hertha Kräftners Text „Wenn ich mich getötet haben werde“ als ganz privaten Abschiedsbrief lesen oder als psychologischen Exkurs auffassen oder aber auch als permanente Gesellschaftskritik ansehen – das ist jedem Leser selbst überlassen. Dieser Text beantwortet auch die Frage, ob unsere Gegenwart „kontrovers genug“ ist, um Gegenstand der Literatur zu sein. Die Probleme des Zusammenlebens von Menschen scheinen heute eher zuzunehmen, immer mehr Menschen mit vorzüglicher Ausbildung stehen ungebraucht am Rand, die Gesellschaft scheint heute stärker radikalisiert zu sein als noch vor zwanzig Jahren. All diese Probleme sind kontrovers genug, um Gegenstand der Literatur werden zu können. Wichtig ist nur, dass Formen der Kommunikation zwischen Text und Leser gefunden werden, die diesen beteiligen. Eine 1:1-Abbildung unseres Alltages könnte, selbst wenn sie das offensichtlichste Elend abbildete, an unserem von Bildern bereits übersättigten Gleichmut abprallen. Deshalb sind die Autoren immer wieder vor die Aufgabe gestellt, neue Formen der Vermittlung von „fiktionaler Wahrheit“ zu finden. Den besten gelingt dies. Das müssen dann keine Bestseller sein. Allerdings wäre es schön, wenn die Anerkennung von Leistung in diesem Bereich wenigstens von Seiten der Kritiker und Juroren gesichert wäre. Oft sind es die besten Autoren, die auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind.

E. Henze: Was ist für Sie als Vielleser und Belesener, der zudem durch die Gespräche mit zahlreichen Schriftstellerinnen und Schriftstellern über noch ganz andere Einsichten als nur aus deren Bücher allein verfügt, guter Ton in der Literatur, nicht normativ, sondern qualitativ?

A. Helbig: Guter Ton in der Literatur entsteht, wenn der Hauptantrieb des Schreibens darin besteht, etwas so zu erzählen, wie es noch nicht erzählt worden ist, und sei es noch so gewagt. Norbert Gstrein spricht während unseres Gesprächs etwa von der „Notwendigkeit der Distanz“ und von der paradoxen Feststellung, dass „durch Distanznahme Nähe“ erreicht werden könne. Dies sehe ich zum Beispiel als einen guten Ansatzpunkt für qualitativ gute Literatur an. Auch Heinrich Bölls Bemerkung über die Kunst halte ich in diesem Zusammenhang nach wie vor für sehr treffend: „Wenn sie Grenzen überschreitet … dann merkt sie's schon: es wird auf sie geschossen. Wie weit sie gehen darf oder hätte gehen dürfen, kann ihr ohnehin vorher niemand sagen; sie muss also zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf ...“
Axel Helbig
Der eigene Ton. Gespräche mit Dichtern
Edition Erata, Leipzig 2007

Axel Helbig im Poetenladen

Eyk Henze     27.05.2007    
© Kulturmagazin Kunststoff

Eyk Henze
Interview