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Was heißt beim literarischen Schreiben eigentlich „Handwerk“?

Von Christophe Fricker
Backe hinhalten!

I

E
s gibt zwei Berufe, die man in Deutschland nicht lernen darf. Wer sie lernt, wird schief angesehen. Ich spreche nicht von der Prostitution, allerdings nur deshalb nicht, weil ich mir nicht ganz sicher bin, ob man sie als Beruf bezeichnen sollte. Die beiden Berufe, die ich meine, sind Politiker und Schriftsteller. „Berufspolitiker“ ist ein Schimpfwort. Es suggeriert, daß dem Betreffenden die Lebens­erfahrung fehlt, die er sich in einem anderen Beruf erworben hätte. Der Politiker soll „einer von uns“ sein, soll einmal gekellnert oder im Taxi am Steuer gesessen haben, auch wenn seine spätere Tätigkeit mit Kellern oder Taxifahren wenig zu tun hat. Das ist die eine Seite der Ablehnung des Berufspolitikers. Die andere ist die Sehnsucht nach dem genialen Staatsmann mit all seiner Freiheit und seinem unbändigen Mut. Man will nicht den durch die Ränge aufge­stiegenen Fachmann mit Mandat, der sich in Gremien und immer größeren Parla­menten nach und nach die Sporen verdient hat. Denn für die Feinarbeit gibt es ja Beamte.

Ein Berufspolitiker ist aber genau das: ein Fachmann fürs Politische. Er versteht sein Handwerk. Gut in Erin­nerung sind noch Wolfgang Schäubles teils schaden­frohe, teils sorgenvolle Reden aus den Monaten nach der Regie­rungs­über­nahme durch Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Bei Gesetzes­vor­lagen fehlten Seiten, bei Abstim­mungen erschienen die Vertreter der Regie­rungs­parteien nicht in aus­reichender Zahl, und immer wieder mußten im Interesse der Ver­fassungs­mäßigkeit Entwürfe nachge­bessert werden. „Sie können es einfach nicht“, rief Schäuble ein ums andere Mal in volle Säle. Aber dann lernten Schröder und Fischer es auch. Denn Regieren läßt sich lernen. Daß nur Beamte etwas lernen sollen, damit sie die Genialität von Politikern richtig kanalisieren, ist nicht nur wenig effizient, sondern auf Dauer brandgefährlich.

Der andere Beruf, den man um Gottes willen nicht lernen darf, ist der des Schrift­stellers, der im Extremfall „Dichter“ genannt wird.1 Er sollte sich unge­bunden seiner Inspiration hingeben und sich bloß nichts vorschreiben lassen. Neu soll das sein, was er schreibt, frisch und rebellisch.

Diese Einstellung ist teils noch verbreitet, aber hier deutet sich eine Verschiebung an. Zugegeben: Die Idee vom ungebun­denen und stets alles erneuernden Autor hat eine gewisse Über­zeugungs­kraft. Das Gedicht als „Augenblick der Freiheit“ haben Autoren von Ernst Jünger bis Hilde Domin, von Walt Whitman bis Joseph Brodsky wortgewaltig als uneinholbaren Anspruch in unsere Mitte gestellt. Ihre oft schwierige, oft aber auch ganz einfache Sprache stellt Gewißheiten in Frage und erlaubt uns einen neuen Blick auf das Vertraute, durch den dieses Vertraute im Idealfall für uns wieder lebendig wird.

Genau diese Erfahrung des Neuen im Vertrauten straft aber die Ideologie von der Unerlernbarkeit des Dichtens Lüge. Wer im Augenblick der Freiheit seine Mitwelt schreibend oder lesend neu erfährt, kann das nur, weil die angeblich so geniale Literatur zwei Eigenschaften hat, die sich sehr wohl lernen lassen und die eng zusammen­hängen. Es sind Weltbezug und Ver­ständ­lich­keit. Literatur wird uns unser Leben und das Leben anderer in neuem Licht zeigen, wenn sie sich auf die Welt bezieht und wenn sie verständlich ist. Diese Begriffe bedürfen der Erläuterung. Auf ihnen aufbauend möchte ich dann Grundelemente einer Theorie des lite­rarischen Handwerks vorschlagen.

Zunächst: Weltbezug und Verständlich­keit. Weltbezug heißt nicht, daß das dichte­rische Wort das, was es in der Welt gibt, einfach nach­voll­ziehen und beschreiben oder gar objek­tiv abbilden könnte. Die Suche nach obses­siver Genauig­keit haben in den 1890er Jahren die Natura­listen durch­gespielt und sind damit, wie es Stefan George ausdrückte, in die „offenbare Narrheit“ geraten. Denn auch wenn man hunderte von Adjektiven anein­ander­reiht, wird man den Frühling nicht fassen: „Betö­rendst, / berü­ckendst, be­zau­berndst, be­glü­ckendst, be­drän­gendst, be­drückendst, / be­rau­schendst, / ver­zückendst, zer­stückendst“ usw. steht im Phan­tasus von Arno Holz, und so geht es dort seiten­lang weiter. Weltbezug heißt auch nicht, daß Dichtung das, was sie vorfindet, wie eine Gebrauchsanleitung erklären soll. Eine solche Einschränkung würde die Bedeutungs­fülle, die jedem Wort inne­wohnen kann und die es zur Grundlage seiner befreienden Wirkung macht, ungebührlich und unnötig einschränken.

Weltbezug heißt aber, daß sich die Sprache eines Autors an der Sache, über die sie unweiger­lich spricht, schulen muß. Wer in einem Roman, der in der Ära von Elisabeth I. ange­siedelt ist, über Musik am Hof schreiben will, muß wissen, was dort von wem wann auf welchen Instrumenten gespielt wurde. Wer ein Gedicht über die Liebe zu seiner Freundin schreibt, muß dieser Liebe auf den Grund gehen. Das schuldet er ihr und das wird dem Text, seiner Liebe und der Freundin – und dadurch insgesamt auch ihm selbst – gut tun. Selbst wer ein Gedicht über sein leeres Blatt oder seine Einsamkeit als Dichter schreibt, oder ein Gedicht über Einträge in einem Wörterbuch, oder Lautfolgen im Straßenverkehr, der muß diese Sachverhalte kennen­lernen, bevor er sie in Worte faßt. Indem er sie in Worte faßt, wird er sie noch besser kennenlernen. Das alles ist ein Lernen, das sich lernen läßt.

Daß es Texte gibt, die nicht „über“ etwas geschrieben werden, sondern aus der Sprache selbst kommen und sich gleichsam in die Sprache selbst zurückfalten, ist ein Mythos, den sich Stéphane Mallarmé in den 1870er Jahren eine Zeitlang geleistet hat, den Hugo Friedrich 1956 in seiner Struktur der modernen Lyrik auf magerer Textbasis und mit viel normativer Verve in Stein geschrieben hat und der seitdem, auch bei Language Poets und Konkreter Poesie, fröhliche Urständ feiert. Eine ange­messene Analyse dessen, was auch jene Autoren machen, ermöglicht er nicht.

Der zweite Aspekt von Literatur (sei es Dichtung, sei es Prosa, sei es Drama), der es ermöglicht, daß wir uns selbst, unsere Mitwelt und unsere Sprache neu sehen, ist die Verständlichkeit dieser Literatur. Verständ­lichkeit heißt nicht, daß ich jedes Wort eindeutig, objektiv und nach­prüfbar auf einen Gegenstand beziehen kann. Was „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“ oder „schwarze Milch der Frühe“ oder „den / wind grub. hügelan. tiefer. / richtet“ genau heißt, läßt sich nicht sagen. Daß es aber immer wieder etwas bedeuten kann, ist nicht zu bestreiten. Bedeutung ist nie objektiv. Ein Leser gewinnt sie aus einem Text. Er wendet Worte und Zeilen auf etwas in seinem Leben an. Bedeutung ist immer Bedeutung für einen bestimmten Leser. Das heißt aber nicht, daß der Autor sich mit diesem Prozeß der Anwendung nicht beschäftigen muß. Denn Bedeutung kann nur da gewonnen werden, wo Bedeut­samkeit nicht unterbunden wird (was letztendlich auch nicht geht, denn deuten kann man alles, aber ein Autor kann es einem Leser schon sehr schwer machen).

Natürlich: Ein Dichter darf sich nicht zum Sklaven des Publikumsgeschmacks machen. Wenn er seine Aufgabe, ein abge­stumpftes Publikum zu sensibi­lisieren, wahrnehmen will, kann er nicht nur das Erwartete liefern. Erwartbares und Berechenbares, das Schielen nach Marktwert und Unterhaltungswert sind nicht unbedingt unmoralisch, aber auch selten mutig. Trotzdem: Es kann nicht angehen, daß Autoren mit dem Bade der undurchdachten Selbstver­ständ­lichkeit auf Seiten des Lesers auch das Kind der durch­denkbaren Verständ­lichkeit ihres Textes ausschütten. Wer nicht will, daß ein wohlwollender, neugieriger Leser einem Text nachgeht und darin auch etwas für sich entdeckt, an dem er gern festhält, darf sich auch nicht darüber beschweren, daß er am Ende keine Leser mehr hat. Die Literatur der Hochmoderne, die auf den Sturm und Drang zurückgeht und den Gedanken an das Genie, den Experten für Einzigartigkeit, nie aufgegeben hat, hat ihre Leser zu einem Gutteil deshalb verloren, weil sie sich von ihnen abgewandt hat. Die Leser des 20. und 21. Jahr­hunderts sind nicht weniger interes­siert an Dichtung, als es frühere Leser waren, sie bekommen nur weniger davon geboten.

Verantwortlich für diese Entwicklung sind nicht der Ästheti­zismus oder die Avant­garde, sondern der Ästhe­tizismus und die Avantgarde. Der Ästhe­tizismus der Pariser Autoren um Mallarmé hat in seinen weißesten Stunden das leere Blatt zum Ideal erkoren, daß seine Bedeut­samkeit radikal bestreitet. Die Avant­garden um Marcel Duchamps und die Gebrauchs­lyrik haben Banalität oder Provokation produziert, wehren sich aber ebenfalls dagegen, daß ihre Produkte auf Dauer für den Museums­besucher bedeutsam sein dürfen. Wenn die Provo­kation von Duchamps' Urinal abgeebbt ist, steht kein neues Sinnangebot bereit, sondern nur ein kleines Urinal, das niemand benutzen darf, weil es im Museum steht. Die Avantgarde mit ihren Provo­kationen stellte das gelingende Werk und eine selbstsichere Lebens­er­fahrung unter den General­verdacht des Ana­chronismus und der Dogmatik. Der Ästhetizismus machte das Umgekehrte: Er verdächtigte das Handfeste des Lebens als unwürdig und banal. Das Ergebnis war die klirrende Kälte konfligierender Kon­zeptionen und die mißmutige Konfrontation von Autoren und (potenziellen) Lesern.

II

G
egner der These, daß man Schreiben lernen kann, behaupten, daß es fürs literarische Schreiben „kein Rezept“ gibt. Sie übersehen dabei, daß auch das Rezept eine schwierige, historisch und sozial bedingte, auslegungs­bedürftige Textgattung ist. Zwei Leser desselben Rezepts werden unterschiedliche Gerichte produzieren, je nachdem wo sie einkaufen, welche Geräte sie haben und wieviel Erfahrung im Umgang mit beiden. Gegner des Schreiben-Lernens verwenden nicht nur das Wort Rezept, sondern auch das Wort „Schule“ negativ (und verzichten meist darauf zu klären, ob sie damit eigentlich einen Prozeß oder ein Ergebnis oder beides meinen). Die Feindschaft gegenüber der Schule ist ein unschöner, später Reflex der 60er Jahre, der eine bestimmte Art von autoritären Institutionen meint, die historisch völlig kontingent ist. Schule kann auch Verantwortung, Austausch, Lernfreude und Vertrauen heißen. Dieser Möglich­keit werden im übrigen auch diejenigen Teilnehmer an Schreib­seminaren nicht gerecht, die nur teilnehmen, weil sie jemanden bewundern wollen, den Dozenten oder sich selbst (in der Regel nicht ihre Kommili­tonen). Unkritische Bewunderung spielt aber im schulischen Lernen allenfalls eine geringe Rolle.

Der Vorwurf, der mir am häufigsten gemacht wird, wenn ich so argumentiere, ist, ich wolle den Künstler zum Kunsthandwerker degradieren. Dieser Vorwurf ist nicht nur eine ebenso unverhohlene wie unverfrorene Abwertung des Handwerkers, sondern auch eine grobe Verkennung dessen, was ein Handwerker eigentlich macht. Aber die geläufige Argumentation geht so, daß man eine Kunst nicht lernen kann, sondern allenfalls ein Handwerk.

Daß diese Trennung in bezug auf das Handwerk nicht überzeugt, zeigt ein einfaches Gedankenspiel. Stellen Sie sich vor, Sie müßten morgen eine Ausbildung zum Klempner anfangen. Das würde Ihnen wahrschein­lich schwer fallen. Mir jedenfalls. Oder: Erinnern Sie sich einmal daran, wie sie zuletzt von Ihrem Dachdecker enttäuscht waren. Der Punkt ist der: Auch ein Handwerk kann man nur zu einem bestimmten Grad erlernen. Auch zum Hand­werk braucht es Talent. Nicht jeder kann einfach ein guter Klempner werden. Umgekehrt gilt für den Künstler: Nicht alles an der Kunst kann man lernen, aber vieles schon. Das beginnt mit schiefen Formu­lierungen („Übergewichtige Kinder haben stark zugenommen“), wie sie der Zwiebelfisch oder der „Hohlspiegel“ im Spiegel aufgreifen, und geht bis zu Ken Folletts Bemerkung über Tolstoi, daß es keine gute Idee sei, zwei Prinzessinnen denselben Namen zu geben, zumal dann, wenn sie auch noch nebeneinander wohnten. Den Rang von Tolstoi schmälert das kaum (auch wenn Follett das behauptet), aber daß Tolstoi nicht ein besserer Tolstoi hätte sein können, ist eine Unterwerfungsgeste seitens des Lesers, aus der unter Umständen weitere Mißver­ständ­nisse hervorgehen können, denn sie bezeugt eine sehr enge Wahrnehmung.

Es ist eben nicht wahr, daß ein Handwerker alles machen kann und daß ein Künstler nichts machen muß. Auch Handwerker haben auf ihre Fähigkeiten, auf die Eigenschaften ihres Materials und auf die Wünsche ihrer Kunden Rücksicht zu nehmen. Wohlgemerkt: Dieser letzte Punkt ist nur einer von vielen. Ein Handwerker ist kein Sklave seines Kunden oder seines Auftrag­gebers. Der Stolz des Handwerkers liegt darin, daß er eine Sache gut macht, daß sie zunächst einmal in sich einen Wert hat. Erst danach hat sie ihren Preis, der sich auch aus ihrem Nutzen bestimmt. Richard Sennett hat diesen Punkt in seinem Buch über das Handwerk stark gemacht.2 Seine Ergebnisse lassen sich auf das Handwerk des Dichters übertragen – oder genauer gesagt, auf denjenigen Teil der Arbeit eines Autors, der handwerk­lich geprägt ist. Sennetts Buch hilft zu sehen, wie groß dieser Anteil ist. Es hilft zu sehen, daß Handwerker keine Maschi­nisten sind, keine blinden Pro­gram­mierer.

Literatur ist gern sperrig und Leser sind manchmal träge, aber die Möglichkeit der Begegnung von Literatur und Leser ist gegeben, weil im Schreiben – wie übrigens im Lesen, das man ja auch nicht einfach so kann – Handwerk ist. Man kann das Schreiben üben, man kann sich darin verbessern und dadurch seinen Bezug zur Mitwelt, zu der auch der Leser gehört, verfeinern. Kein Autor bleibt sich immer gleich. Und seine Veränderungen sind nicht allein seinem Willen oder der Gnade Gottes oder der Muse oder dem Zufall zuzuschreiben. Das diebische Interesse vieler Leser an den Juvenilia von Autoren rührt oft daher, daß man sehen will, wie er war, als er es noch nicht recht konnte. Der Anteil des Willens, Gottes und des Zufalls sei nicht bestritten, aber eben auch nicht überbetont.

Die führenden Vertreter deutscher Schreib­schulen zeigen das, aber bezüglich der Begriffe Handwerk und Werkstatt verhalten sie sich ausgesprochen zaghaft. Hanns-Josef Ortheil spricht von der Roman- und der Schrift­steller-Werkstatt und meint mit Bezug auf seine eigene Arbeit seine wachsenden Notizen (sein enzyklo­pädisches Sammel­interesse inmitten der Fülle der Welt), sein „Tage-Buch“ (die fremden Materialien, die er sichtet und zuweilen auch ordnet) und die „Chronik“ (eine Art knapper Rechen­schafts­bericht über einen Tag).3 Er stellt dar, wie sich aus dieser Ursuppe eine Idee herausbildet und als „Durchbruch eines Faszinosums“ die Phantasie in Gang setzt. Jetzt werden bestehende und neue Anknüpfungs­punkte ausgewählt, arrangiert und ausphan­tasiert. Der Autor sucht nach ihnen, öffnet sich, setzt sich ihnen aus. Er fragt und fragt weiter, er nährt seine Idee. Die äußere­ Welt verleibt er sich ein, sagt Ortheil. Man könnte all das, sicher ganz in Ortheils Sinne, ein Handwerk nennen, aber Ortheil tut es nicht. Das verstellt unnötig den Blick auf das, was er beschreibt.

Und es führt dazu, daß Klaus Siblewski von Ortheil den Begriff der Werk­statt übernimmt und ihn ebenfalls in einem zu engen Sinn verwendet. Zur Werkstatt gehört für Siblewski nämlich all das nicht, was er – sehr großzügig – Veröffentlichen nennt: Gespräche zwischen Autor und Lektor und zwischen Autor und Freunden, Exposés und alles, was explizit der Suche nach Selbst­vergewis­serung im Angesicht von Anderen dient. Wo bleibt da für Siblewski die Werkstatt? Sie liegt vor jeder Veröffent­lichung, also auch vor allen Gesprächen. Sie gehört zur „introvertierten“ Phase. Siblewski könnte aber sehr gut und im Rahmen seiner Position sehr konsequent argumentieren, daß das Handwerk offen, heute würde man sagen: vernetzt ist. Er hält statt dessen nolens volens am Bild des „einsamen Handwerks“ fest, das er eigentlich umgehen möchte. Immerhin spricht er an anderer Stelle in handwerklichen Bildern vom Autor, der „praktisch“ und „profes­sionell“ arbeitet und die „Position des Architekten und Handwerkers am eigenen (Roman-)Bau“ einnimmt.4 Und er kritisiert Autoren, die in der Öffentlichkeit sein wollen, die die An­näherung an die Öffentlichkeit aber als unwürdig empfinden. Statt dessen gelte es anzuerkennen, daß ein Roman in „Zusammen­arbeit“ zwischen Lektor und Autor fertig gestellt werde. Der Lektor werde spätestens dann zum „Mitautor“.

III

I
ch will versuchen, diese Position auszubauen und im Interesse der Deutlich­keit einige Charakte­ristika des Hand­werk­lichen vorschlagen. Richard Sennett erzählt viele Beispiele, aber um seine Einsichten auf ein Feld zu übertragen, von dem er nicht spricht, sind Defini­tionen nötig.5 Wir sprechen schon lange von „Workshops“, als wollten wir uns um den deutschen Begriff Werkstatt drücken. Was also sind Kate­gorien des Handwerk­lichen, und was haben sie mit Literatur zu tun?

Erstens, asymmetrische Rollen­verteilung. Im Handwerk arbeiten Men­schen zusam­men, deren Erfah­rungen und Kennt­nisse sich unterscheiden. Die Autorität des kenntnis­reicheren und erfah­reneren Meisters beruht auf seiner Fähig­keit, ein gutes Produkt zu schaffen und andere, weniger Erfah­renere dazu auszubilden, ein ähnlich hoch­wertiges Produkt zu schaffen. Dienst und Gehorsam von Gesellen und Lehrlingen erhalten ihre Würde und ihre Recht­fertigung daraus, daß sie dem Meister vertrauen, aus ihnen selbst die Fähigkeiten zu entwickeln, im Umgang mit Material und Werkzeug und mit der Welt, für die sie das Produkt herstellen, die Meisterschaft zu erreichen. Sie sollen nacheifernd lernen und Erfahrungen machen, die sie verändern, und nicht blind kopieren. Das bedeutet, daß sich die Gemeinschaft der Arbeitenden durch die Arbeit selbst einstellt, also durch den Bezug auf die Sache, nicht etwa durch Unterwer­fungs­gesten oder Diskurs­strategien.

Ein Autor lernt, indem er liest und indem er spricht. Er lernt von anderen, die geschrieben haben und die besser schreiben als er. Er lernt auch von sich selbst, indem er Vorstufen liest und verbessert. Im Regelfall lernt man vom Besseren. Aber auch Scheitern und Verunglücken, das negative Beispiel, „wie man es nicht macht“, kann man sich zeigen lassen. Dieses Zeigen selbst ist asymmetrisches Lernen.

Zweitens, persön­liche Nähe. Die Arbeit wird gemeinsam getan. Die persönliche Ebene kommt dadurch zustande, daß Gesellen und Lehrlinge mit dem Meister von Angesicht zu Angesicht umgehen. Er sitzt nicht zehn Stockwerke höher in der Vorstands­etage. Der Meister ist für die Ausbildung der fachlichen Fähigkeiten, aber auch allgemein für die persönliche Entwick­lung seiner Gesellen und Lehrlinge verant­wortlich. Ein einsames Handwerk gibt es nicht. Handwerk ist Gemeinschaft. Wer als Autor handwerklich arbeitet, muß sich nicht darum sorgen, daß er keine Leser findet, denn wer sich um seine Mitwelt kümmert, wird ihr nicht verborgen bleiben. Der Lohn des Handwerkers besteht darin, daß er seine Welt neu erfährt und auf sein Produkt stolz sein darf. Diese Freude wird er mit seinen Lesern teilen.

Für den Komponisten ist das selbst­verständ­lich. Man geht nach Karlsruhe und lernt von Wolfgang Rihm, wie man Musik schreibt. Dasselbe gilt für Bildende Künstler. Nicht erst Michelangelo hatte eine Werkstatt, und im 20. Jahrhundert ist diese Tradition nicht abgebrochen. Literarische Schulen hat es immer gegeben, von Sappho über Hans Sachs und die Meistersinger bis zur Schule für Dichtung in Wien. Selbst die einsam-inspirierten Romantiker haben durch enge Freund­schaften verlorene produktive Gemeinsamkeit wieder hergestellt. Die moderne Schul­feindschaft im Literarischen ist ein historischer Sonderfall, der vielleicht auch mit dem beklagens­werten Zustand vieler Schulen um die Wende zur Moderne zu tun hat. Wedekind hat das in Frühlings Erwachen dargestellt. Inzwischen gibt es aber Schreib­schulen wie das Deutsche Literaturinstitut und die Textmanufaktur in Leipzig oder den Studiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. In den USA ist es ohnehin undenkbar, daß ein Autor nicht mit den Programmen, die einen Master of Fine Arts verleihen, zusammenarbeitet. Das ist aber nicht alles. Denn auch in der direkten Begegnung mit dem Buch, dem sich der lernende Autor widmet, findet ein Lernen statt. Auch das ist eine Form der Unmittelbarkeit im Umgang mit dem Vorbild, dem Unter­suchungs­gegenstand.

Heißt das also Diplome für gutes Dichten, und Dichten nach DIN-Norm wie beim Klempner? Bringen nicht die genannten Schreib­schulen einen aus­tausch­baren Schulstil hervor, wo einer wie der andere klingt und keiner Überraschungen bietet? So arg ist es nicht: Ein Text gleicht einem anderen nie so sehr wie ein Maschinen­produkt einem anderen. Es ist gar nicht möglich, zweimal den gleichen Text zu schreiben (Borges wußte das). Aber daß man einander schreibend näher­kommt, wenn man voneinander lernt, ist wahr. Man macht sich verständlich. Nur geschieht das nicht aus blindem Gehorsam, sondern aus sorgfältiger Prüfung heraus. Nicht alles, was ein anderer schon einmal gemacht hat, muß deshalb schlecht sein. Umgekehrt heißt das natürlich nicht, daß alles, was aus einer Schreibschule kommt, auch gut ist. Es gibt ja nicht nur gute Schulen und gute Lehrer, sondern auch schlechte. Aber daß das gemeinsame Lernen besser ist als das einsame Beharren auf dem Nicht-Lernen, haben sie glück­licher­weise gemeinsam. Letzendlich bleibt „Handwerk“, wie „Schule“, ein Modell-Begriff für das Schreiben – ein Begriff, dessen Tragfähigkeit man prüfen muß. Ich glaube aber, daß es ein sehr gutes Modell ist.

Drittens, produktive Tätigkeit. In einer Werkstatt streben Menschen danach, ein qualitativ hoch­wertiges Produkt zu schaffen. Das vom Meister geschaffene Produkt trägt, ebenso wie die Art, wie er es präsentiert, den Charakter des guten Beispiels, nicht des Befehls. Die Auszubildenden sollen in der Arbeit am Gegenstand, beim Formen von Materialien und im Üben von Arbeits­prozessen sinnvolle Aufgaben erfüllen, Probleme entdecken und Probleme lösen. Ihre Ausbildung ist sach­orientiert, nicht karriere­orientiert. Konkret: Man kann als Autor einen Habitus lernen, aber ein Autor ohne Buch ist auf lange Sicht kein Autor. Die Werkfreude muß immer der Fluchtpunkt sein.

Viertens, soziale Sonderstellung. Der Handwerker weiß sich in einer langen Tradition, die über die Jahrzehnte und Jahr­hunderte, vielleicht gar Jahrtausende hinweg objekti­vierbare, teilweise und verschie­den explizierbare Standards etabliert hat. Hier werden Erfahrungen gemacht, vermittelt und erhalten. In bezug auf die Gesellschaft ist der Handwerker durch seine besonderen Kennt­nisse aus­gezeich­net. Er ist es, der die Qualität eines Erzeugnisses nicht nur prüft, sondern auch garantiert. Dadurch wird aus seiner Sonder­stellung eine mit der Gesellschaft verbundene Position. Er hat Verantwortung.

Diese Rolle schreibt die Öffent­lichkeit dem Autor gern zu. Er ist moralische Instanz wie Grass oder Böll, der sich auch zu tages­politischen Fragen äußern soll, eben weil man annimmt, daß er die Gesell­schaft als Ganze, die die Tages­politik betrifft, genau deshalb besser versteht, weil er sich ihr schreibend widmet. Autoren sind aber auch Anhalts­punkte für den korrekten Sprach­gebrauch: Wie erleichtert waren die Gegner der Recht­schreib­reform, als sich Ernst Jünger in ihrem Sinne äußerte. Wie freut man sich, wenn man in Grimms Wörterbuch findet, daß „schon Schiller“ eine bestimmte Formulierung benutzt hat und sie dadurch ermöglicht. Wie froh sind Lateinschüler, wenn sie bei Cicero eine grammatische Unregel­mäßigkeit finden, denn dann ist das, was sie selber regel­widrig geschrieben haben, kein Fehler, sondern eine sanktionierte Ausnahme. Auch in diesem dritten Beispiel lernt man als lesender Autor nicht, daß „die Großen“ sich jede Idiosyn­krasie leisten dürfen und daß es nur darauf ankommt, als erster eine Regel zu brechen. Man erhält nicht die Sanktion zur Genialität. Sondern man lernt den bewußten, beherzten Umgang mit der Sprache, der diese auch bei bleibender Sach- und Bedeu­tungs­orientierung nicht versteinern läßt.

Dazu gehört die Orientierung an guten Beispielen – nicht die sklavische Befolgung von Befehlen. Die Vor­stellung, man könne einen Text einzig und allein anhand derjenigen Kriterien beurteilen und weiter entwickeln, die er selbst aus sich heraus nahelegt, ist letzten Endes nicht ehrlich. Sie übersieht die implizite Verbundenheit eines jeden Textes mit anderen Texten. Sie ist ein Münchhausen-Argument.

Der fünfte und letzte Punkt steht etwas außer der Reihe: Tätigkeit und Produkt des Handwerks sind von der maschinen­getrie­benen Industrie auf der einen Seite und der genie­beses­senen Idio­synkra­sie auf der anderen abzugrenzen. Die ver­schie­denen Produkte einer Werkstatt sind einander ähnlich und so erkennbar, gleichen einander aber nie so wie ein maschinell erzeugtes Produkt dem nächsten. Die Maschinen­welt führt zum Überangebot an Waren; das mensch­liche Maß des Handwerks ist bescheidener. Das Handwerkliche enthält Variationen und manchmal Fehler. Der Handwerker wird in der Moderne – manchmal im verklä­renden Rückb­lick – zum Symbol des Menschlichen und zum Gegenbild der Maschine. Zu den Verfechtern dieser Idee gehörte John Ruskin. Ruskins Handwerker strebt nicht in erster Linie nach Originalität. Sein Werk steht nicht außerhalb aller Maßstäbe; es schockiert nicht, sondern bleibt zu beurteilen. Sennetts Sicht des Handwerks kristal­lisiert sich in seinem Diktum, hand­werkliche Produkte seien „eher aus der Praxis destilliert als von der Theorie diktiert“.

IV

E
ine solche Definition des Handwerks wird auch die Trennung in Erfindung (bei der einem niemand helfen kann) und Kritik, in Talent und Technik, die auch Verfechter von Schreib­schulen aufrecht erhalten, in Frage stellen. Man kann einen Menschen so erziehen, im Sehen und Leben schulen, daß er besser erfinden kann. Die Erfindung selbst kann man ihm nicht abnehmen, das stimmt, aber die Aus­führung doch auch nicht. Auch zur Technik braucht es Talent. Wer von der Muse geküßt werden will, muß die Backe hinhalten. Handwerk ist auch: Backe hinhalten.

Juli Zeh hat das einmal sehr schön angedeutet, indem sie sagte, ihr handwerkliches Training sei in ihr schöpferisches Tun eingegangen.6 Wer sein Handwerk gelernt hat, schöpft auch anders, hat andere Ideen. Das hat nichts mit Konditionierung oder Einschränkung zu tun, sondern im Gegenteil mit einem geschärf­teren Blick für innere und äußere Gegeben­heiten.

Peter Sloterdijk hat in seinem Buch Du musst dein Leben ändern darauf hinge­wiesen, daß Richard Sennetts Buch einen Paradig­menwechsel andeuten könnte. Es unterstreicht die leben­dige Beziehung zwischen dem Schaffenden, seinem Werkstoff und seiner Mitwelt. Es zeigt an, daß in jedem Machen ein ethisches Moment enthalten ist. Es erinnert den Machenden an seine Unab­hängig­keit und an seine Verant­wortung. Und es fordert unüberhörbar dazu auf, sich vor gegebenen Einsichten und Erfahrungen nicht zu verschließen, seien es diejenigen anderer Menschen, seien es auch die eigenen. Es wäre schön, wenn in Gesprächen über Literatur einiges davon ankäme. Sicher läßt sich einiges davon dann auf die Politik übertragen.

1Der Einfachheit halber verwende ich nur die männliche Form. Gertrude Stein und Elke Heidenreich sind aber immer mitgemeint, wenn es hier um Autoren und Leser geht.
2Richard Sennett: Handwerk. Berlin 2008.
3Hanns-Josef Ortheil: „Wie Romane entstehen (1)“, in: Wie Romane entstehen. München: Luchterhand, 2008, S. 9-148.
4Klaus Siblewski: „Wie Romane entstehen (2)“, in: ebd., S. 149-283, hier vgl. S. 178f. und 230.
5Implizit sind einige der folgenden Punkte auch enthalten in Burkhard Spinnens wertvollem Artikel „Genie in der Schulbank oder: Versuch, meine Erfahrungen mit literarischen Werkstätten zusammenzufassen“, in: Wie werde ich ein verdammt guter Schriftsteller? Hg. Josef Haslinger und Hans-Ulrich Treichel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S. 66-82.
6Juli Zeh: „Von der Heimlichkeit des Schreibens“, in: Wie werde ich [Anm. 5], S. 29-36, hier vgl. S. 32.

Dieser Aufsatz ist erschienen in L. Der Literaturbote, Heft 101, herausgegeben vom Hessischen Literaturforum in Frankfurt.
Christophe Fricker 10.08.2011    

 

 
Christophe Fricker
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