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Deus ex machina

Das zehn Cent Stück rutscht in den Metallkasten hinein. Ein blechernes Geräusch fällt aus dem dickgefüllten Büchsenbauch heraus. Lange habe ich diesen Knall schon nicht mehr gehört. Wie ein Schuss klingt das. Immer noch das alte verkratzte Ding.
Es surrt und das Türchen öffnet sich. Ich bin klein, mein Herz ist rein, darf niemand drin wohnen als Jesus allein. Und was ist mit dir? Ist da noch Platz für dich? Das Püppchen fährt auf seiner kleinen Schiene zu mir ans Gitter heran und surrt wieder von dannen. Viel wollte ich dir erzählen, aber du hast wieder mal keine Zeit. Immer beschäftigt. Rutschst auf deinen kleinen Zugschienen hin und her. Zehn Cent sind ja auch nicht viel Geld um lange zuhören zu können. Zurück ins kleine Häuslein mit der Puppenlaterne. Armes Jesulein, ganz allein in der Holzbarracke. Klipp, Klapp und die Falle ist zu. Licht aus.

Neben uns stehen Mutter und Tochter. Das Mädchen vielleicht fünf oder sechs. Von einem Bein aufs andere wippt es hin und her zu einer lautlosen Musik. Die rechte Hand ist in die großen, fleischigen Finger der Mutter verkrallt, in der Linken klimpert das Geld. „Wie du in dem Alter“, sagt meine Mutter und stützt sich auf meine Schulter.

Nicht aufs schwarze Pflaster gehen, sonst kommst du in die Hölle. Ein gutes Kind war ich. Weiß. Weiß! Einfach ist das. Lasset die Kindlein zu mir kommen und jeden Samstagabend sind wir in die Kirche marschiert. Im Kirchenkleid, im Büßerkleid.

Mein Gesicht liegt auf dem kleinen Sims vor dem Fenster, ich kann kaum darüber sehen. Ich bin zu klein für mein Alter, weil ich nicht genug esse. Sie ruft mich. Bist du fertig? Draußen sehe ich Hüte vorüberlaufen. Der Schlüsselbund klappert. Wir sind spät dran.

„Mach nicht so ein Gesicht“, sagt sie zu mir, wenn ich mit halb offenen Augen aus dem Haus gehe. Das mag sie nicht, weil sich sonst die Leute über mich beschweren. Über sie beschweren. „Hoffentlich bleibt das so, das Wetter war ja furchtbar in der letzten Zeit.“ Wir ziehen an den Leuten vorbei, zwei Schritte, drei Schritte. Bleiben stehen, stammeln die Kirchenlitanei, laufen weiter. Wie die Kühe auf der Weide. Von einem grünen Grasfleck zum anderen, bis alles abgefressen ist.

Das dampfende Fleisch liegt auf dem Teller, in bissgerechte Stückchen geschnitten. Sie zieht die Gabel aus dem Mund wie ein Messer aus der Scheide. Ratsch. Das schabende Geräusch durchschneidet die Stille. Während des Essens spricht man nicht. Sie spießt zwei neue Stücke auf die Gabel und schiebt es zu dem Fleischbrei in ihren Mund. Sie isst viel, meine Mutter. Kann nicht aufhören zu essen. Als ob sie ein Loch in sich zustopfen wollte.
Schmeckts? Ich mag kein Fleisch, dieser Geruch. Die Fasern, die im Speichel schwimmen und sich in alle Ecken der Mundhöhle legen wollen. Das macht Kraft! Iss! Iss! Das Fleisch Jesu. Mir wird schlecht, ich muss mich übergeben. Auf den Teller, auf das Fleisch. Patsch. Eine Hand landet in meinem Gesicht. „Schämst du dich nicht? Ich koche den ganzen Tag und dir fällt nichts anderes ein als zu kotzen?“ Ich sollte dem lieben Gott dankbar sein. Damit ich sehe wie es den armen Heidenkindern in Afrika geht, gibt es heute kein Essen mehr und ich muss die Großmutter füttern. Die ist in der Kammer neben ihrem Schlafzimmer. „Das ist einfacher“, sagt meine Mutter.

Das vierte Gebot: Du sollst Mutter und Vater ehren. Jahrelang schon. Irgendwann hat sich die Großmutter ins Bett gelegt und ist nie wieder aufgestanden. Sie kann sich nicht mehr bewegen, kein einzelnes Glied. Steiff liegt sie in ihrem weißen Grab wie ein Wickelkind. Stammelt gegen ihre steifen Beine an, die wie rauhes Leder im Bettzeug liegen. Ihr Mund, die schmale Narbe, macht meiner Mutter Beine.

„Sie braucht uns“, sagt meine Mutter, und deshalb ist sie immer für sie da. In der Nacht, wenn die Großmutter ihre trockenen Lippen spitzt und wie ein Wolf heult. Sie ist immer da und fragt nicht warum. „Es ist meine Mutter“, sagt meine Mutter.

Der Beichtstuhl sieht von außen wie eine Fotobox aus.
Doch drinnen blitzt es nicht, ganz finster ist es und ich falle fast hin, weil sich meine Augen in der Dunkelheit nicht zurechtfinden. Wenn man tot ist, legen sie einen auch in eine Holzkiste. Ob man dann für alle Ewigkeit Abbitte tun muss, frage ich meine Mutter. „Wie kann man nur so dumm sein?“, ihre rechte Hand fliegt wie ein erschrockener Vogel durch die Luft, der auf meiner Wange landet.

Ein Tropfstein aus milchigem Schleim hängt an dem Großmutterkinn. „Pass doch auf“, schreit sie. „Das hast du absichtlich gemacht. Das Kind!“ Meine Mutter stürzt zur Tür herein. „Was ist?“ „Das Kind verhunzt alles hier“, kreischt die Großmutter. Die gekräuselten Lippen entblößen altrosa Zahnfleisch. Meine Mutter sagt nichts, schweigt. Nur ein tiefes Seufzen stößt sie aus. Ihre rissigen Lippen berühren mein Ohr: „Ich habe dir Suppe ins Zimmer gestellt.“ Sie streicht über mein Haar, das ist so schön. Wie eine Fahne hängt es an ihrer Hand, die sich beim Hinausgehen strafft und weh tut.

Ein Holztürchen schiebt sich zur Seite, ein alter Mann sitzt hinter dem Gitter. Er macht ein Kreuz in die Luft, sein Zeigefinger streift fast meine Wange, aber die Eisenstäbe passen schon auf. „Der Herr sei in deinem Herzen, dass du voll Reue und Demut deine Sünden bekennst.“ Ich erzähle ihm von der Taube. Auf der Straße saß sie, hat sich kaum bewegt. Erst als ein Auto auf sie zufuhr, versuchte sie aufzufliegen. Ein, zwei Meter und sie fiel zurück auf den Asphalt wie ein hüpfender Gummiball. Dummer Vogel. Ein kaum sichtbares Zucken klebte auf der Straße. Nach zehn Minuten habe ich sie gepackt und ihr den Hals umgedreht. Das heiße Pochen war mit einem Ruck verstummt und der Flügel umschloss meine Hand wie ein warmer Schal. „Mein Kind“, sagt der Priester, „du hast nicht gesündigt.“ Ich hätte der Qual ein Ende bereitet. Der liebe Gott verzeiht uns alles.

In dem Großmutterzimmer hängt eine Wanduhr. Manchmal, wenn sie schläft, öffne ich den Glaskasten, ganz leise, ziehe die Uhr auf und stoße das Pendel an.
Ich rücke einen Stuhl heran und stecke meinen Kopf zwischen Zifferblatt und Holzwand. Tick, tack, tick, tack. Das Pendel stößt meinen Kopf sachte an, sanft wie unsere Katze. Ein paar Mal lasse ich das Pendel schwingen, halte es aber bald aber wieder an. Einmal habe ich es vergessen. Ungezogen, eine alte Frau so zu erschrecken. Meine Mutter hat mich aus dem Zimmer gescheucht und drinnen habe ich sie sagen hören: „Sie hat sich nichts dabei gedacht.“ Falsch gedacht.

Nach der Beichte gehen wir in den Andachtsraum, dann zündet meine Mutter eine Kerze an. Damit wir gesund und glücklich bleiben. Drei Mark kostet die kleinste Kerze. Im Laden um die Ecke kosten sie zwanzig Pfennig, aber die sind nicht geweiht. Das ist das Geld wert und unbezahlbar. Ein rundes Eisenrad mit schwarzen Spießen steht vor dem gekreuzigten Jesus. Einmal ist ihr eine Kerze aus der Hand gerutscht. Ein roter Faden lief herunter und sie hat es nicht einmal bemerkt.

Irgendwann musste die Großmuter ins Krankenhaus. Ganze zwei Wochen lang. Meine Mutter saß in dem Sessel neben dem Großmutterbett. Die Hände ineinander verwoben. Ganz klein sah sie aus und ich hatte Angst sie könnte zerbrechen als ich mich auf ihren Schoß setzte. „Pst!“, und sie lachte. Die sonst zugeklebten Lippen offen. Sie deutete auf die Uhr, das Pendel schwang gleichmäßig hin und her. Wange an Wange saßen wir in dem Sessel und schauten dem schwingenden Pendel zu. Sie drückte mich ganz fest an sich. Als ob sie etwas ersticken wollte.

In einer kleinen Nische steht ein Pult mit einem schwarzeingebunden Buch. Jesus schläft in seiner kleinen Hütte, wir haben heute kein Wechselgeld für ihn dabei. Hinter dem Häuschen steht eine Marienstatue mit einem Rosenkranz in den Händen. Ihr Kopf ist leicht zur Seite geneigt. Das flackernde Kerzenlicht fällt auf sie und es sieht so aus als ob sie beinahe umfallen würde. Auf die Hütte, auf Jesus und auf mich.
„Das ist albern“, sagt meine Mutter, und sie deutet auf die zwei großen Schrauben auf den nackten Mariafüßen. „Die bleibt da stehen bis in alle Ewigkeit.“

Manchmal schreibt sie etwas in das Buch hinein, ihre Finger sind dann ganz verschmiert von dem Blau des Kugelschreibers. „Was schreibst du da?“ Aber sie ist ganz vertieft, hat wässrige Augen. Als wir im Auto nachhause fahren, reicht mir ihre Hand ein Taschentuch nach hinten um die blaue Farbe von meiner Wange abzuwischen. „Sag' nichts“, sagt sie ohne sich zu mir umzudrehen.

Das Mädchen steckt eine Münze durch den Schlitz. Das Häuschen öffnet sich und das kleine Püppchen surrt zu ihr ans Gitter heran. „Ich werde alt“, sagt meine Mutter und hängt sich bei mir ein. Das ungewohnte Gewicht an meiner Schulter lässt mich beinahe über die schwarzen Pflastersteine stolpern. „Was würde ich nur ohne dich tun“, sagt sie und lächelt mich an.

Jasmin Herold  10.09.2006

Jasmin Herold
Prosa