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Fass von Segendorf

Es fiel mir schwer zu schlucken. Der Raum war leer, von draußen drang das Dröhnen herein, der Chor der Knaben, unterstützt durch das Orchester. Es hörte sich schräg und falsch an, wenn man hinter der Bühne saß, ganz anders, als auf ihr oder davor. Es hörte sich an, als klagten sie, prusteten und spuckten ihren Unmut gegen die Wände, von denen er abprallte, zurückkehrte, sich vermehrte und verstärkte und dann, dann wurde es mit einem Mal still.
Der Wink des Dirigenten.
So graziös, als würde er den Dirigierstab in der Hand halten, ohne ihn zu berühren.
Bei der Generalprobe hatte der Chor der Knaben nicht geschlossen darauf reagiert, und der Dirigent hatte unseren Chorleiter – wir nennen ihn den Chef –, mit einem Kopfschütteln zu sich gebeten. Dann beschimpfte uns der Chef. In der Pause stürmte er in unseren Probenraum, warf die Tür hinter sich zu, dass wir verstummten, aufstanden, auf den Boden sahen. Mit gehetzten Schritten durchquerte er das Zimmer, kam zurück, durchquerte es ein weiteres Mal. Nannte uns einen Haufen Arschlöcher. Mit einer brabbelnden, undeutlichen Stimme, von der man als allerletztes gedacht hätte, dass sie die eines Gesangslehrers sei. Er sah einzelne an, deutete auf uns. Wir hätten ihn so sehr blamiert. Vor einem Weltorchester! Vor einem Weltdirigenten! Wir waren Arschlöcher! Kinder!
Gleich darauf seufzte er, sagte, er könne das alles nicht mehr ertragen, die Proben, die Strapazen. Die Diskussionen! Die ewige, ewige Kritik. Von oben! Nein, wir sollten nach Hause gehen. Er verließ den Raum, die Gesangslehrer stoben durcheinander, einer folgte ihm, ein anderer, Herr Scheid, blieb bei uns und sagte, flüsternd, wir üben die ganze Sache nun gemeinsam. Bis es sitzt.
Der Herr Scheid probte darauf zwei Stunden mit uns. Er ließ uns einzeln singen, bis jeder die Stelle perfekt beherrschte. Was der Chef in dieser Zeit trieb, wussten wir nicht, wir sahen nur, dass er später das Lob des Dirigenten grinsend entgegennahm und mit keinem Wort den Herrn Scheid erwähnte.
Das heißt aber nicht, dass wir den Herrn Scheid mehr leiden mochten, als den Chef.
Allein hinter der Bühne versuchte ich zu verstehen, wieso ich nicht bei den anderen war. Wie in meinen Computerspielen hätte ich gerne noch einmal von vorn angefangen, vergangene Woche, als die Gesangslehrer uns vorgeschwärmt hatten was für eine Ehre es war, mit dem Chor nach Köln fahren zu dürfen. Nicht jeder war dafür geeignet. Bei den Proben hatte ich mich angestrengt, und war selbst erstaunt gewesen, als ich eingeladen wurde. Stolz berichtete ich meinen Eltern davon; wir hörten den ganzen Abend Aufnahmen vom Knabenchor. Auf den CDs waren blonde, dünne Jungen mit Seitenscheitel abgebildet, exakt so, wie man sich Chorknaben vorstellt: strotzend vor Energie und Jugendlichkeit, hingebungsvoll, die Lippen fotogen geschürzt, das schwere Notenheft würdevoll vor die Brust gehoben, ein erhabenes Profil, nur andeutungsweise und genial gebrochen durch eine Haarsträhne, die flott in die Stirn fällt.
Dieser Glanz passte so gar nicht zu dem mulmigen Gefühl in meiner Brust, wenn wir von hinten eine Bühne betraten. Jetzt war es besonders stark. Im matten Licht glichen die leeren Holzbänke Särgen. Ich fürchtete mich vor der Pause, wenn der Chor zurückkehren würde, euphorisiert, erregt und verbunden durch ein Gemeinschaftsgefühl, das sich nach jedem Auftritt einstellte. Ich fürchtete mich vor den amüsierten Blicken der Gesangslehrer und den abfälligen meiner Chorkameraden. Lieber konzentrierte ich mich darauf zurückzuspringen, den letzten Spielstand aufzurufen, um ein zweites Mal dem Auftritt entgegenzufiebern.
Nach dem Einsingen hatten wir auf den unbequemen Holzbänken Platz genommen, unter denen unsere schwarzen Aktenkoffer ruhten. Jeder von uns besaß einen, wir beklebten sie mit Abziehbildern von Orten, die wir mit dem Chor besucht hatten. Es war Weihnachten, Heilig Abend. Wir trugen schwarze Schuhe und Hosen, schwarze Pullover mit dem Wappen des Knabenchors auf der rechten Brust. Jeder hatte ein dickes, schwarz gebundenes Buch bei sich, das Weihnachtsoratorium von Bach, das wir kennen und hassen gelernt hatten.
Wir warteten darauf, die Bühne zu betreten, und der Chef ließ jetzt, kurz vor dem Auftritt, noch einmal jeden einzeln eine schwierige Passage auswendig vorsingen.
Draußen wartete das Publikum, die Scheinwerfer, das Orchester, der Dirigent, auch die Fernsehkameras, die das Konzert übertrugen, in die Wohnzimmer unserer Familien, die sich vor dem Fernsehgerät versammelt hatten und darauf warteten, ihren zehn, elf, zwölf Jahre alten Sängerknaben auf dem Bildschirm zu sehen (und auf Videokassette zu bannen), wie er das Weihnachtsoratorium in der Kölner Philharmonie unter der Leitung von Claudio Abaddo sang.
Der Chef rief mich beim Namen, und als ich aufstand, die Augenpaare von dreißig anderen, sitzenden und schmunzelnden Chorkameraden auf mich gerichtet, brachte ich nicht den Ton hervor, den ich treffen wollte, sondern rutschte an ihm ab. Der Chef parodierte das, indem er den Unterarm auf sein Minikeyboard fallen ließ, womit er eine Lachsalve auslöste.
Das Fass von Segendorf, sagte er, und wieder wurde gelacht. Seit wir ein Volkslied gelernt hatten, in dem die Zeile vorkam das Fass von Segendorf rollt und springt, wurde ich als Fass von Segendorf bezeichnet. Weil ich der dickste Sängerknabe war.
Während die anderen auf die Bühne eilten, bat mich der Chef, sitzen zu bleiben.
Du bist nicht gut genug, sagte er zu mir, leider, aber das wird schon. In der Pause würde ich noch eine Chance bekommen. Dann ging er. Ich setzte mich und versuchte nichts zu denken, nichts zu sein – besser, als ich zu sein.
Es kam mir vor, als hätte ich etwas verloren; als hätte ich etwas verloren, nach dem ich eben erst zu suchen begonnen hatte. Ich dachte, wieso, ich dachte, warum? Weil ich dicker war als die anderen? Weil ich dicker war als die anderen. Weil ich zu dick war. Zu dick für den Chef, der gerne einen von uns auf seinen Schoß nahm, besonders bei einer Solostunde, und seine kaputten Knie am Po eines Chorknaben wärmte. Ich war keiner von denen, obwohl ich gerne einer gewesen wäre.
Die Soloschüler des Chefs waren die Besten.
Ich war zu dick, das sagte ich auch immer zu meiner Mutter, die gerne und viel kochte und nur den Kopf darüber schüttelte, ich war zu dick, zu pausbäckig, zu langsam und träge, außerdem nicht hübsch, viel zu sensibel, vor allem sensibel, das sagte meine Mutter immer und strich mir liebevoll über den Kopf: du bist eben sensibel.
In einem anderen Chor hätte man mich besser behandelt. Auch wenn der Chef oft und ausführlich von einem Zeitungsartikel über die Konkurrenz erzählte, in dem berichtet worden war, dass jener Konkurrenzchor alle Stimmbrüchigen mit einer goldenen Uhr belohne.
Eine goldene Uhr! rief der Chef empört, eine goldene Uhr! Die ist bestimmt nicht echt. Was ihr hier bekommt, ist weitaus mehr wert. Hier könnt ihr berühmt werden! Und eine musische Bildung erhaltet ihr noch dazu. Eine goldene Uhr! Er lachte, aber ich stellte mir eine goldene Uhr an meinem Handgelenk vor.
Ich wagte es kaum, daran zu denken, aber ich hoffte auf meine zweite Chance, in der Pause. Ich konnte das singen. Ich hätte es schon vorher singen können.
Der plötzliche Applaus riss mich hoch. Mein Herz schlug heftig. Ich dachte mir, dass wenigstens ein Paar Hände, das nun klatschte, eigentlich für mich bestimmt gewesen war.
Als sie zurückkamen, unterhielten sie sich angeregt, schubsten und stießen einander, nahmen kaum Notiz von mir. Mir war es lieber so. Der Chef trat neben mich, er biss in eines der Brötchen, die wir als Zwischenmahlzeit bekamen, eine zähe Mischung aus Wurst, Butter und Teig, und schmatzte dabei so genüsslich, dass ich unwillkürlich einen Blick auf seine gelben Zähne und spröden Lippen werfen musste. Mitkommen, sagte er zu mir und führte mich zu einem kleinen Raum, nicht größer als eine Toilette, in der nur ein Stuhl stand. Auf dem Stuhl lag sein Minikeyboard. Er setzte sich und schloss die Tür. Ich war erleichtert, mit dem Chef allein sein zu dürfen, froh, dass er sich mir allein widmete. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, betrachtete er mich abschätzig. Ich roch ihn. Es war der Geruch von Bettzeug, seit Tagen nicht gelüftet, ein feuchter Fußabtreter.
Nachgedacht? wollte er wissen. Ich nickte; ich war aufmerksam, ich war bereit, ich konnte, ich wollte. Musste es tun.
Auf meinen Schoß? fragte er und steckte sich den Rest seines Brötchens in den Mund. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
Ich schüttelte den Kopf und blätterte im Weihnachtsoratorium. Er sagte, ich bräuchte es nicht. Die Tür war keinen halben Meter entfernt, aber er war doch sehr nah. Er legte mir seine Hand auf die Schulter und fragte mich, ob ich singen wolle, und ich beantwortete die Frage mit Ja.
Ja, ich wollte singen. Weil ich doch deshalb hier war, dafür war ich doch Chormitglied, dafür übte ich doch jeden Tag, fuhr zweimal die Woche nach München zur Probe, erhielt Solostunden und Klavierunterricht. Deshalb sang ich doch. Um zu singen. Um das zu sein, was ich sein wollte: ein singender Sohn und Sängerknabe.
Mit seinem Minikeyboard schlug der Chef einen Akkord an, sagte mir die Stelle und riss mir das Notenheft aus der Hand, als ich es aufschlagen wollte.
Sing! schrie er und hauchte mir Mundgeruch ins Gesicht.
Ich sang. Und ich sang gut. Der Chef hob an diversen, schwierigen Stellen die Augenbrauen, und als der Herr Scheid die Tür öffnete, kurz seinen Kopf in den kleinen Raum steckte und gleich darauf wieder verschwand, ohne ein Wort zu sagen, wusste ich, dass ich mit meinem Gesang nicht allein mich und den Chef überrascht hatte. Nur zweimal konnte ich den Ton nicht halten, aber der Chef ging darüber hinweg. Als wir fertig waren, schaltete er sein Minikeyboard aus und lächelte mich an. Er strich mir liebevoll über den Kopf, wie meine Mutter, und sagte, ich hätte Stimmbruch und könnte nicht mit auf die Bühne. Ich wollte eine Frage stellen – aber wie?
Du hast es doch auch gehört, sagte er, du hast es doch gehört. Dann verließ er den Raum. Ich starrte noch eine Weile auf den Stuhl, auf dem er gesessen hatte.
Ich wusste nicht, ob ich Stimmbruch hatte – hatte ich? Als ich das Zimmer verließ, sahen mich einige Chorkameraden argwöhnisch an. Waren sie verblüfft, weil ich gut gesungen hatte, richtig gut, oder erkannten sie, dass ich keiner mehr von ihnen war?
Stimmbruch bedeutete, dass ich nicht singen durfte, weil ich nicht singen konnte. Ich wollte, aber ich konnte nicht. Es war mein Körper, der entschied, eine höhere Macht. Nach ihm richtete ich mich, nach ihm richteten sich die Sängerknaben, der Herr Scheid und der Chef, sogar der weltberühmte Dirigent.
Manche der anderen nickten mir zu, als sie wieder auf die Bühne gingen, andere taten so, als wäre ich gar nicht da. Ich hatte doch, ich hatte Stimmbruch, gar nichts anderes konnte es sein, einzig und alleine Stimmbruch. Ich steckte die Noten in meinen Aktenkoffer, setzte mich auf eine der Holzbänke und lauschte dem Weihnachtsoratorium. Ich war ein Sängerknabe im Stimmbruch. Zweifellos. Und ich wollte niemand anderes sein.
Auf der Heimfahrt am Tag darauf wurde geprobt. Der Herr Scheid stand hinten, der Chef weiter vorne im Gang. Sie teilten sich den Chor. Bei einer Kurve fiel der Chef auf zwei Jungen und brauchte mehr Zeit als nötig, um wieder aufzustehen.
Ich sang nicht mit; nie wieder würde ich mitsingen. Die Chorzeit war vorbei. Dieser Gedanke heiterte mich auf, ich konnte es kaum erwarten, aus dem Bus zu steigen und meinen Eltern die frohe Botschaft zu verkünden. Umso überraschter war ich, als der Chef nach dem Fass von Segendorf rief.
Ich stolperte den Gang entlang, bis ich direkt vor ihm stand. Auf seinem Minikeyboard schlug er einen Dreiklang an. Zögerlich fing ich an zu singen. Mit einer ungeduldigen Handbewegung drängte er, schlug einen weiteren an. Wieder sang ich, diesmal schneller. Ich hörte, wie die anderen hinter mir flüsterten, und es erleichterte mich, als der Chef sie ermahnte, still zu sein. Er wechselte die Übung. Nun musste ich langsam, Halbton für Halbton, Oktaven singen. Als ich die Töne nicht mehr traf, weil sie zu hoch für mich waren, nickte er und forderte mich auf, wieder an meinen Platz zu gehen. Ich drehte mich um, versuchte nicht in die Gesichter der anderen zu blicken, während ich mich an den Sitzlehnen entlanghangelte, und setzte mich.
Wer hat was von Setzen gesagt? rief der Chef. Ich merkte nicht sofort, dass er mich meinte.
Ich hab doch Stimmbruch, sagte ich. Er verdrehte die Augen, als hätte ich nichts begriffen.
Muss mich wohl geirrt haben, sagte er beiläufig und schlug die Schöpfung von Haydn auf.
Um mich herum raschelte es, als die anderen seinem Beispiel folgten.

Christopher Kloeble       22.05.2006

Christopher Kloeble
Prosa