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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 19. Nachwort

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  19. Nachwort

Affentanz um die 11. Feuerbach-These


Wie sich herumspricht, wird die Stadt unter­tunnelt. Das macht sie so unend­lich kostbar. Es entstand ein geheimes S- und U-Bahn-System von der Pleiße bis zum Rhein und Main, wo im Westen die Milliarden in Bank­türmen begraben liegen. Manchmal, wenn ich am Fuße des Feldbergs im Taunus morgens um sechs Uhr aufwache, um sieben gefrüh­stückt habe und Lust auf ein Abenteuer verspüre, besteige ich 8 Uhr 15 die U-Bahn in der Hohemark und bin um 11 Uhr 30 in Leipzig, Station Dimitroff­platz, ich nenn' ihn so aus lauterster Gewohnheit als alter Mann von gestern und übermorgen …
So stehts in der Folge 95 und darf futuris­tisch und fantastisch vervollständigt werden. Innerhalb der Stadt befinden sich diverse Halte­stellen. Drei sind unverzicht­bar: Auerbachs Keller, Ratskeller und Kaffeebaum. An diesen Orten spielt unser Lach-Drama mit Personal von gestern, heute und übermorgen. Wie der gelernte Marxist weiß, gibt's Basis und Überbau, und der überlebende Postmarxist weiß auch, die Musik spielt im Underground. Wenn der tanzende Gott von oben die Dächer abhebt, erblickt er die blanken Glatzen der Oberklasse, falls die Toupets gerade pausieren. Da macht sich der liebe Gott seine Gedanken und die sehen so aus:
Die Linke war in Russland ein Irrtum. In Frankreich eine permanente Revo­lution. In Italien ein Sommer­fest. In Deutschland ist sie eine Tot­geburt. Die laufen lernen soll. Als Revolu­tionär lebst du radikal zwischen den Fronten. Unbenützt. Von Sancho Pansa beschützt.
Wir spenden dem Schöpfer zum Dank einen Vierzeiler, der geht so:
Die Erde, Hölle auf Erden,
rollt in die Werkstatt zurück.
Es fehlt ihr himmlischer Segen.
Der Konstruktionsfehler wegen.
Da wir nicht der reparierten Erde Rückkehr aus der himmli­schen Werkstatt abwarten wollen, versuchen wir's selber.
Zur Debatte steht die 11. Feuerbach-These: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden inter­pretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern. Der Wortlaut wurde ungenau zitiert, doch ging es zuletzt nur noch um die von der Partei orthodox ausgelegte Welt­verän­derung. Grundsätzlich davon zu unter­scheiden ist die bürger­liche passive Haltung, die den Lauf der Welt sich selbst über­lassen möchte. Nihilismus, Neo­liberalis­mus und Post­moderne lehnen aktivis­tische Theorien bereits im Ansatz ab. Die 11. These ist ihnen nur Anlass zum Spott. Den Rest erledigen Hedgefonds mit globalen Speku­lations­krisen. Eine andere Haltung und Inter­pretation bietet Bloch in seinem Haupt­werk Band I, Kapitel 19: Welt­verän­derung oder die elf Thesen von Marx über Feuerbach. Dieses 19. Kapitel ist das Kernstück des Konflikts zwischen Partei und Bloch sowie Haupt­ursache für den Revi­sionismus-Vorwurf. Schluss­folgerung: Sage mir, wie du zur 11. Feuerbach-These stehst, und ich sage dir, wes Geistes Kind du bist. Der ganze Komplex hat sich erst 160 Jahre nach der Marxschen Nieder­schrift bis in seine existen­tielle Schärfe zugespitzt. Jetzt kommt es darauf an.
Es gibt nur 11 Thesen von Marx zu Feuerbach. Die 12. ist eine Blochsche Schluss­folgerung, die er nicht ausdrücklich zog, zu der seine Reflexionen aber berech­tigen, wo nicht nötigen, wenn wir dem Marxschen Satz Die Philo­sophen haben die Welt nur verschieden inter­pretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern die Variante, es kommt darauf an, sich zu verändern anfügen. Wobei die Subjekt-Verän­derung nicht von der Objekt-Verän­derung entbindet. Es geht nur das eine nicht ohne das andere. Bloch steht philo­sophisch zu Marx wie Trotzki politisch zu Stalin – als Revolutionär des Subjekts. Was Ironie nicht aus­schließt.
Subjekt, sagte der Alte gern, das besitzt auch nicht mehr den früheren guten Klang. „Sie Subjekt! Sie!“ Ohne Zweifel, eine schwere Beleidigung.
Siegfried Prokop | 1956 - DDR am Scheideweg
Ernst Bloch
Durch die Wüste
Frühe kritische Aufsätze
Suhrkamp
Karl-May-Text des Philosophen. Aufsätze und Parabeln als Reise quer durch Deutschland.
Siegfried Prokop | Zwischen Aufbruch und Abbruch
Karl May: Durch die Wüste
In Der Impuls Nietzsche von 1913, abgedruckt in Durch die Wüste 1923, dann 1984 – spricht Bloch vom „suchenden Ich“, verwahrt sich gegen Zarathustras Über­menschen samt Nietzsches „endloser Wieder­holung“ und wendet gegen die herr­schende Wissen­schaft ein, sie „sei ohne Subjekt und ohne Traum.“ Aber:„Darum leuchtet hier zuerst die Ahnung eines noch nicht bewuss­ten Wis­sens auf …“ Bloch nennt Nietzsche uner­sättlich und schöp­ferisch: „ …hier gilt in der Tat, dass es nicht darauf ankommt, die Welt nur zu begrei­fen oder doch nur zu dem Ende, dass man sie danach ver­ändere …“
Der nachfolgende Text trägt nicht zufällig die Über­schrift: „Die Landes­grenze des Nihi­lismus.“ Für Sozia­listen sind die Weltzustände Anfang des 21. Jahr­hunderts nichts anderes als militärisierte, nihilis­tische Barbarei.
Als sich im Jahre 1957 ein Dutzend Bloch-Gegner ab­mühten, den aus der Uni­versität bereits Verbannten als Revi­sionis­ten des Marxismus zu entlarven, strengten sie sich, wie Lektüre zeigt, fürchter­lich an, ihre Vorwürfe zu unter­mauern. Sie ahnten nicht, dass der Ange­klagte neben Marx auch Nietzsche revidierte, auf dass am Ende ein revolu­tionäres Klassiker-Gestirn Marx-Nietzsche-Bloch am Firma­ment der Philo­sophie auf­schiene. Hätten sie es geahnt, wären sie wohl dialek­tisch-mate­rialis­tisch explo­diert. So aber sind sie drei Jahr­zehnte später nur implo­diert. Friede ihrer Asche?
Als Bloch im Verlauf der Vorle­sungen zum dritten Mal den Satz des Epikur zitierte: „Ich kam nach Athen und niemand merkte es“, ersetzte ich Athen durch Leipzig und Epikur durch ihn. Dieser Bloch kam anno 1949. Sie merkten es erst 1956. Im Jahr 1957 erschien der Sammel­band Ernst Blochs Revision des MarxismusKritische Aus­einander­setzung marxis­tischer Wissen­schaftler mit der Bloch­schen Philo­sophie. Dass Bloch nicht nur ein Revi­sionist von Marx, sondern auch von Nietzsche war, ent­ging ihnen, doch auf ihre Weise hatten sie recht. Am ver­trackten Recht­haben krankte ihre Partei und daran starb sie drei Jahr­zehnte später.
Ich komme im Januar 2000 auf dem Leipziger Hauptbahnhof an. Unter den Gleis­anlagen zwei Stock­werke der Konkur­renz. Ein Konsum-Tempel in Marmor mit Trans­port­bändern direkt ins Herz der Post­moderne. Kauf dir 100 Paar Schuhe, der Hinkefuß als Tausend-Füßler in 22 Kaffee­tränken, hoch die Würste und Schinken im Klamot­ten­paradies, ach Herr, gib mir Scheine, damit ich mich tot­kaufen kann. Ein Rentner mit Dackel, der apportiert und Ernst heißt spielt Zirkus­direktor. In der strahlend ausgeleuchteten Buch­handlung verhökert Dieter Bohlen scheibchen­weise Naddel und Verona Feldbusch. Leipzig liest.
Der Band Ernst Blochs Revision des Marxismus beginnt mit folgender Passage von Rugard Otto Gropp: „In der Ein­leitung zu seinem Prinzip Hoffnung erklärt Ernst Bloch, er werde sich so oft wieder­holen, bis man ihn ver­standen habe. In der Tat kommt er in seinen Schrif­ten immer wieder auf die gleichen Grund­thesen seiner Welt­lehre zurück. Aber zugleich spricht er in einer Sprache, die sich keineswegs um Klarheit und Verständ­lich­keit bemüht, die vielmehr in ihrer Geschraubt­heit und künstli­chen Zurecht­gemacht­heit das Gemeinte ebenso aussagt wie auch verbirgt.“
Gropp liegt in einem Punkt richtig. Sein Unverständnis gegenüber der Mischung von Hermetik und Sklaven­sprache bei Bloch gras­sierte nicht nur im Osten. Wurden dem Philo­sophen dort von der obersten Zentral­monade Grenzen gesetzt, verharrte der Westen freiwillig innerhalb seiner typischen Beschrän­kungen. Der Tübinger Bloch-Schüler Beat Dietschy dazu: „An Paraphrase und strecken­weise apologe­tischer Wieder­holung krankt – von den an Ver­ständnis gar nicht interes­sierten pole­mischen Attacken einmal abgesehen – in der Tat ein Großteil des bis heute über Bloch Geschrie­benen. Obwohl er selber doch der Ansicht war, einen Denker verstehen hieße: Über ihn hinaus­gehen.“
Schon Schopenhauer unterschied zwischen Philosophen und Philo­sophie­profes­soren. Schopenhauer hatte einen einzigen Freund, das war ein Pudel, der hieß Putz und speiste mit Messer und Gabel. Philosophie – ein Hundeleben.
Wenn die großen Revolutionen misslungen sind und Reformen behauptet werden, um den Stillstand zu legitimieren, dann herrscht seine Majestät, das Vakuum, das die moderne Astronomie als „schwarzes Loch“ kennt, eine Art feststehender Strudel, der alles in sich hineinzieht und vernichtend auflöst. Was die Philosophen ratlos das „Nichts“ nennen, hat astrophysikalisch und astronomisch seinen Ort im Kosmos und politkulturell seinen Platz in regressiven Gesellschaften. Es ist die Zeit der subtilen Subversion. Ende 1952, Anfang 1953 hielt Ernst Bloch Vorlesungen über Demokrits Kosmologie, wonach die Atome als kleinste Bausteine der Welt sich im „freien Fall“ befinden, was Lukretius „Landregen der Atome“ nannte, von Epikur als geheimnisvoll „ursachenlose Abweichung“ bezeichnet, ach du Schreck, das kennt man aus der lausigen Grammatik, mit dem Namen „Deklination“ versehen, schließlich handelt die Karl-Marx-Dissertation von der Differenz zwischen demokritischer und epikuräischer Naturphilosophie.
Wer nicht aufpasste, bemerkte die subtile Subversion Blochs gar nicht. Wer genau zuhörte fand Zutritt ins Bloch-Land. Erst weichen die Atome ab, dann die Leute. Hosianna, der Mensch ist geboren. Nietzsche: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß.“
Bloch: Der Mensch ist etwas, das erst noch wird.
Na, wie hätten wir's denn gern, überwinden oder werden? Oder uns überwinden, um zu werden? Wie war das mit Saulus und Paulus? Warten bis Gott einen anruft? Und wenn Gott tot ist, was dann?
Am 14. August 1956 starb Bertolt Brecht. Ich saß über den Druckfahnen meines Büchleins Aristotelische und Brechtsche Dramatik, musste aus taktischen Gründen einiges umstellen und setzte schnell noch eine halbe Seite an den Anfang:
„VORBEMERKUNG
Als ich die nachfolgenden Gedanken über Brecht, seinen Arbeitsstil, seine Dramatik und Dramaturgie niederschrieb, schrieb ich über einen Lebenden, der, wie ich glaubte, noch Jahrzehnte besten Schaffens vor sich habe.
Ich schrieb aber einen Nekrolog.
Wenn ich nun, nach diesem schwarzen 14. August 1956, meine Arbeit betrachte, scheint es mir fast, als habe ich des Distanzierenden zuviel getan.
Es mag sein, dass wir immer so denken, wenn einer seines. Lebens Lauf vollendet hat, wieviel mehr aber erst, wenn er ihn nicht vollenden konnte, sondern mitten aus größter Anstrengung und Menschlichkeit herausgerissen wurde.
Der Mensch und das Phänomen Brecht wird die Jahrhunderte noch faszinieren, keines aber kann leinen Tod schmerzlicher empfinden als wir, seine Zeitgenossen.
Ehren wir ihn, indem wir seinen Tod ignorieren.

Leipzig, am 19. August 1956          Gerhard Zwerenz“
Die in der Vorbemerkung erwähnte Distanz bezog sich auf den Gesang von den Grabsprüchen, den ich dem Manuskript angefügt hatte:
hier ruht bertolt brecht
dichter und kommunist
einer der letzten der großen feinde der gesellschaft

als bürger geboren
verachtete er die bürger
kommunist geworden verachtete er die kommunisten

in seinen schwächsten stunden
verachtete er auch die kunst

hier ruht bertolt brecht
gerühmt beschimpft mißverstanden müde geworden
gestorben am gebrochenen herzen
das er
vergeblich
zu verleugnen gesucht hatte

hier schIäft bertolt brecht
der letzte große feind der geseIIschaft

nun bin ich voll trauer
hab die augen voll schwarzer träume
trinke gierig mein schIuchzen

auch der zorn trauert
auch die enttäuschungen trauern
auch die gefälschten gestohlenen worte

auch die gelöschten worte
auch die ungeschriebenen worte
auch die verleugneten worte trauern –:

bert brecht ist tot
der mund der worte brach
zu rauen flößen
zerbrach
in dumpfer welle stößen

bert brecht ist tot
der mund
der durch die nächte hat gesprochen
wird grund
durch den der wurm gekrochen
bert brecht ist tot
Vor der Drucklegung strich ich auf Einwände hin das Gedicht, es konnte erst in Gesänge auf dem Markt erscheinen. (Köln 1962) Was ich 1956 gemeint hatte und fühlte, fand ich später in Trotzkis Porträt des National­sozialis­mus, Arbeiter­presse Verlag Essen, Trotzki-Bibliothek, wo es im Vorwort heißt: „Eine der großen und ver­hängnis­vollen Fehl­leis­tungen des zu Ende gehenden Jahr­hunderts war die Konzeption, dass der Kampf gegen Faschis­mus und Krieg die Unter­stützung der sowjeti­schen Regierung unter Stalin erfordere. Nur so könnten, lautete das Argument, die Errungen­schaften der Oktober­revo­lution gegen den Haupt­feind ver­teidigt werden. Man müsse ein Bündnis mit der Moskauer Führung schließen oder zumindest jede Kritik an ihr herunter­schlucken. Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Bert Brecht seien stell­ver­tretend für die breite Schicht von Künstlern und Intel­lektuel­len genannt, die in den dreißiger und vierziger Jahren diesem Trug­schluss auf­gesessen waren.“
Das ist zwar vom Trotzki-Spezialisten Wolfgang Weber überpointiert, trifft jedoch den Kern. Im Abstand von 54 Jahren finde ich meinen Grabspruch für BB etwas zu gefühlig und doch zugleich exakt bestimmend. Bloch hatte 1956 auf Chruschtschows Enthüllungs-Rede beim 20. Parteitag der KPdSU charakter­voll reagiert, Brecht ebenso, er nannte Stalin danach Verdienter Mörder des Volkes. Bleibt das fatale Schweigen in den Jahren zuvor, das zu erklären ein Trotzki-Satz helfen mag, in dem es heißt, selbst er stünde Stalin bei, werde die Sowjetunion von Hitler überfallen. In diesem Dilemma verharrten Brecht, Bloch, Feuchtwanger u.a. lange, wo nicht zu lange Zeit. Statt langer Erörterungen sei hier wiederholt: Für die deutsche Volksmehrheit war es normal, mit Hitler in den Krieg gegen Stalin zu ziehen. Eine Minderheit favorisierte das Gegenteil. Das Jahr 1956 forderte andere Konse­quenzen. Jetzt trat offen zu Tage, wer der SU wohl wollte, musste ihr helfen, den historisch überfälligen Stalin(-ismus) zu überwinden.
Bei diversen Lesungen in Leipzig, das ich seit 1990 ja wieder betreten darf, stieß ich auf einige Bekannte, wenn nicht gar Freunde von damals, doch manche, die sich verschämt oder noch immer feind­selig fernhielten und -halten, blieben aus Gründen auf Distanz, die ich nicht akzeptieren mag. Historische Irrtümer sind vergäng­lich, also von gestern. Verant­wortlich sind nur die Verant­wortlichen. Die Leipziger Spitzen­funktio­näre Fröhlich&Wagner holte gerechter­weise bald der Teufel. Es gehört aber etwas Butter bei die Fische, nein, Wasser in den Wein.
Da sich von Tübingen bis Ludwigs­hafen zu Blochs 125. Geburtstag allerhand tut, sei für Leipzig ans 5. Walter-Markov-Kolloquium von 1997 über Ernst Bloch erinnert. Zitat aus Sklaven­sprache und Revolte: „Nach der Niederlage von 1956 ver­suchten verständ­licher­weise viele der Beteiligten und Sympathi­santen sich zu tarnen. Walter Markov bagatel­lisierte in Zwie­sprache mit dem Jahr­hundert sowohl Blochs wie meine Situation. Auch Georg Lukács gefiel sich in taktischen Verrenkungen, von anderen nicht zu reden. Blochs Kniefall vor ZK-Poten­taten wurde bereits geschildert. So mancher der damals Aktiven verwirft meine Bewer­tung des Jahres 1956 als letzte Chance östlicher Reform­bewegung. So urteile doch ein jeder, wie er kann und unlustig ist. Meine Antwort lautet: Als der Offiziers­aufstand vom 20. Juli 1944 scheiterte und der Hitler­gruß in der Wehrmacht als verbind­lich eingeführt wurde, wusste ich, jetzt gilt es, den Gehorsam ein für allemal auf­zu­kündigen. Fort aus diesem Vaterland. Als im März 1956 die Infor­mationen über Chruschtschows Anti-Stalin-Rede auf dem 20. Parteitag in Moskau zu uns drangen, war ich mir sicher, jetzt war die Reform­chance greifbar. Nach unserem Scheitern und meinem Weg­gang wurde ich im Oktober 1957 in Westberlin von Geheimen befragt, und als ich subtile Aus­künfte verwei­gerte, drohte man mir, mich ins Auto zu setzen, nach Ostberlin zu fahren und vor dem Polizei­präsidium hinauszu­werfen. Da werden die sich drüben freuen …
Der Herr, von dem mir dies so liebe­voll ausgemalt wurde, war ein mindes­tens zehn Jahre älterer, unver­kenn­barer Wehr­machts­helden­typ. Da wusste ich doch gleich, auf welche Insel der Freiheit ich mich gerettet hatte. Das Exempel erhellt exakt eine Situation, die ich 1997 auf dem Ernst Bloch gewid­meten fünften Walter-Markov-Kolloquium in Leipzig mit den Worten schilderte: Die DDR bestand aus zwei Republiken. Die Macht lag in Moskau, das den unter­worfe­nen deutschen Ver­trauten das untaugliche Modell verschrieb. In der Gesellschaft aber bildeten sich die Konturen eines anderen Modells heraus, das unter­drückt zu haben die Schuld der Macht­inhaber ist, die sich und den so­zialis­tischen Versuch damit zur Untauglichkeit verurteilten, und es ist die Schuld derer, die zum Dritten Reich keinen hin­reichen­den Bruch zulassen wollten, so geschehen im Westen.“
Das ist noch nicht alles. Walter Markovs Versuch, Bloch 1957 vor Verfolgung zu schützen, war ehrenwert, im Rückblick aber sollte der damit verbundene Integritäts­verlust erkennbar sein. Markovs Hinweis, Bloch sei „Ende 1956 vorübergehend in eine etwas prekäre Lage geraten“ und „zu seinem größten Unwillen von einigen aufgeregten Studenten à la Zwerenz als Kronzeuge beschworen worden“ zeugt von jener Desinformation und orthodoxen Partei­disziplin, die uns heute mindestens so antiquiert anmuten wie der damalige SED-Vorwurf des Titoismus gegen Markov. Das Spiel ist aus. Was dazu weiterer Erläu­terung bedarf, steht in Sklavensprache und Revolte, Kapitel „Ernst Blochs taktischer Selbstverrat. (Tagebuch­notizen nach Kenntnis­nahme einer unwürdigen Verteidigung“.) Wir empfehlen der Leipziger Rosa-Luxemburg-Stiftung, diese Vorgänge von ihrer lobenswerten Vergangen­heits­auf­arbeitung nicht auszuschließen. Es geht nicht um Schuldzuweisung, nicht um Abrechnung, sondern um Reali­täten.
Auf einer Tagung der Linken bezeichnete Helga Grebing, die eigens dazu eingeladene „Grande Dame der sozial­demo­kratischen Historio­graphie“ (Neues Deutschland vom 22.2. 2010) die Linke ungemein charmant als Pudding. Und: „Ich bin seit 62 Jahren in einer Partei, die nicht laufend den Namen wechseln musste.“ Mag sein, dafür wechselten die Namen des SPD-Puddings, in dem Bebel, Noske, Ebert, Schumacher, Wehner, Brandt, Clement und des Freiheitsverteidigers vom Hindukusch, wie hieß er doch gleich, zu einer undefinierbaren jedenfalls nicht sozialistischen Soße verrührt wurden. Erst Lafontaine erkannte die SPD-Blutschuld an der Ermordung von Luxemburg-Liebknecht an, das jedoch ist das mindeste, was Sozial­demo­kraten zu leisten haben, weisen sie mit dem Stinkefinger auf linke Genossen. Doch die verdiente Historio­graphin weiß noch mehr, so ist „Tradition“ für sie nur ein „konser­vativer Begriff“, was bei ihrer Partei exakt zutrifft, und „Erbe ist ein der kapitalistischen Verwertungs­logik entlehntes Wort.“ Kein Schimmer davon, wie viel Relevantes Ernst Bloch zur Kategorie Erbe anmerkte. Das alles ist der Grande Dame Hekuba. Was aber das Noske-Erbe ihrer Partei angeht, trifft sie ins Schwarze, die üble Vergangenheit ist leicht zu erkennen.
Ohne Linksintellektuelle geht die Chose nicht. Wir erinnern mit sächsischer Unver­drossenheit an ein vergessenes Stück Leipziger Kulturgeschichte und präsentieren das Foto einer Seminargruppe Leipziger Philosophie­studenten beim „Ernteeinsatz“, wie das damals genannt wurde. Schön jung und fröhlich schauen sie drein – etwa Mitte der fünfziger Jahre. Was wurde aus dieser verlorenen Generation? Von dreien weiß ich es. Gern wüsste ich mehr. Es war die Zeit der Entschei­dung. Auch für jeden einzelnen. Was also ist im Jahr 2010 aus uns allen geworden?


Studenten an der Zeitengrenze

Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 28.03.2010, geplant.

Fotos zur Lesung mit Gerhard Zwerenz aus der Sächsischen Autobiographie am 19.11.2009 im Haus des Buches, Leipzig   externer Link

Lesungs-Bericht bei Schattenblick  externer Link

Interview mit Ingrid und Gerhard Zwerenz bei Schattenblick  externer Link

Gerhard Zwerenz   15.03.2010   
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz