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Sabine Peters

Im Gespräch mit Carola Gruber
»Mich interessiert die Vermischung von Erlebtem und Erfundenem«
  Gespräch        Literatur und Alltag

Illustration: Miriam Zedelius
 

»Was die kleinen Pausen an­langt – zum Brief­kasten ge­hen, Tee aufbrühen – die sind sehr be­fördernd.«
Sabine Peters in poet nr. 13



Gespräch in poet nr. 13   externer Link

Sabine Peters wurde 1961 in Neuwied geboren. Sie studierte Literaturwissenschaft, Politik­wissenschaft und Philosophie. Ab 1988 lebte sie als freie Autorin im Rheider­land/Ostfries­land, seit 2004 in Hamburg. Neben Erzählungen und Romanen ver­öffent­lichte sie Hörspiele, Kritiken und Essays. Zuletzt erschien der Roman Feuerfreund (Wallstein Verlag, 2010). Sabine Peters erhielt unter anderem den Ernst-Willner-Preis (1989), den Förderpreis des Landes Niedersachsen (1999), den Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg (2001) und den Evangelischen Buchpreis (2005).


Carola Gruber: Liebe Frau Peters, zu Beginn ein paar ganz konkrete, lebens­prak­tische Fragen zu Ihrem (Schreib-)Alltag. Es gibt die verschiedensten Modelle, wie sich Schreiben in den Alltag inte­grieren lässt. Zum Beispiel durch feste Zeiten, etwa drei Stunden Schreiben am Vor­mittag wie Thomas Mann oder durch das Aufsuchen bestimmter Orte, etwa das Kaffee­haus für viele Schrift­steller in Wien um 1900. Andere Schrift­steller können auf Reisen oder unterwegs am besten schreiben. Wie würden Sie ihren Schreiballtag beschrei­ben (falls man von »Alltag« sprechen kann): Haben Sie feste Schreibzeiten, einen bestimmten Ort, an dem Sie am liebsten schreiben, oder auch Rituale wie Tee­trinken und Rauchen, die das Schrei­ben begleiten?

 

Sabine Peters: Wenn es gut läuft, fange ich vormittags um 9 Uhr an, schreibe bis 12, manch­mal bis 14 Uhr mit kleinen Unterbrechungen. Rituale: Rauchen, Kaffee oder Tee trinken. Der beste Ort ist mein jeweiliges Zimmer mit seinen Bildern, Pflanzen, Büchern und dem vertrauten Kleinkram.

 

C. Gruber: Noch eine ganz praktische Frage: Füll­federhalter, Kugelschreiber, Computertastatur, Notizheft, lose Blätter, Text­ver­arbeitungs­datei … Mit und in was schreiben Sie am liebsten?

 

S. Peters: Seit 1990 mache ich mir Notizen zu ziemlich allen Themen, zu politischen Tagesereignissen, Reisen, Büchern, Radiosendungen, Erlebnissen mit Leuten, Land­schafts­ein­drücken, Museums­besuchen ... Dazu benutze ich schwarz­rote China­kladden und bin jetzt bei Heft 24. Auch im aktuellen Heft gibt es umkrin­gelte Stich­wörter, und natürlich sind die Einträge datiert. Aber es ist die Pest, auch nur in einer einzigen Kladde das zu finden, was man sucht. Vielleicht sind diese Notizen allenfalls wichtig, um das Gefühl zu haben, sich im Zweifelsfall auf etwas stützen zu können.
  Literarische Texte schreibe ich anfangs von Hand, mit einem Lieblings-Kuli auf die Rückseiten von nur einseitig bedrucktem Din-A-4-Papier. Es gibt immer einen breiten Rand für Korrek­turen. Von einem mir unklaren Zeitpunkt an jage ich den Text in den Computer und tippe weiter, streiche und ergänze.

 

C. Gruber: Schrift­steller antworten verschieden auf die Frage, ob sie an ihren Texten kontinu­ierlich arbeiten oder ob kreative Schübe und schreib­freie Phasen einander abwechseln. Was würden Sie in Bezug auf Ihr eigenes Schreiben sagen: Wie viel Alltag ist für das Schreiben nötig, wie viel Abwechs­lung und Pausen anderer­seits? Oder auch: Wie gestaltet man seinen Alltag so, dass man auch am nächsten Tag noch etwas zu schreiben hat?

 

S. Peters: Was die kleinen Pausen anlangt – zum Brief­kasten gehen, Blumen gießen, Tee aufbrühen – die sind sehr befördernd, da lösen sich oft Hemmungen. Die großen Pausen lassen sich schwer be­schreiben. Walter Benjamin hat in seinen zehn Rat­schlägen für Schrift­steller geschrieben: »Nulla dies sine linea – wohl aber Wochen.« Also sinngemäß, kein Tag ohne Schreiben, wohl aber Wochen. Das strenge Schema siehe oben, Arbeit von 9 bis 12, lässt sich oft nicht durch­halten, weil es Rezen­sions­termine gibt, oder man muss zum Arzt usw. Das ist manchmal ärgerlich, aber nicht schlimm. Schlimm sind große Zweifel an einem begon­nenen Schreib­projekt, wenn einem kein einziger Satz des Bisherigen einleuchtet. Oder auch die Zeiten nach einem beendeten Manu­skript, wenn man denkt, jetzt gibt es nichts, an das man sich heran­wagt; nichts, was einen ruft. Ich weiß anfangs beim Schreiben und über­haupt lange Zeit nicht, was aus ein paar Sätzen wird; denke meist, das wird viel­leicht eine Erzählung. Manchmal ist ein Roman daraus geworden. Würde ich mir aller­dings vor­nehmen, so etwas hin­zulegen – diese Vor­stellung würde mich erschlagen. Das kris­talli­siert sich erst Schritt für Schritt heraus. Wenn ich einem Text leid­lich traue, geht das »Weiter­schreiben« am nächsten Tag oder eben am über­nächsten eigent­lich immer. Durchs Über­lesen und Korrigieren kommt man wieder in diesen anderen Raum, in dem es eigene Gesetze und Gesetzes­über­schrei­tungen gibt.

 

C. Gruber: Ist das Schreiben auch ein Spagat zwischen Zurückgezogenheit und Konzentration einerseits und dem Sammeln von Eindrücken, also dem Ausziehen in die Welt und Beobachten, andererseits?

 

S. Peters: Ich finde, Schreiben heißt vor allem Warten. Es gibt diese wochen- und monate­langen Zeiten, in denen überhaupt keine literarischen Texte entstehen. Diese Phasen fülle ich mit Rezen­sieren, Unterrichten, Vor­träge-Schreiben, All­tags­kram. Erst allmählich und beinahe unmerk­lich sammelt sich etwas in einem, in der doppelten Wortbedeutung. Sammeln heißt ja nicht nur »Zusammen­bringen«, sondern meint auch Konzentration. Man bügelt, sieht aus dem Fenster, verstarrt sich in einen Anblick, gerät in einen Zustand von dösendem Hellwachsein, in eine andere Zeit. Die Wahrnehmungen verändern sich. Man horcht manch­mal mehr auf den Rhythmus als auf den Sinn von Wörtern und Sätzen. Tut mir leid, wenn das etwas mystisch klingt. An sich hat ja das Schreiben nur sehr wenig Mystisches. Es ist vor allem eine bewusste, reflek­tierte Arbeit. Und trotzdem gerät man in einen Zustand »außerhalb«. Für mich ist es ein Unterschied, ob ich einen Brief schreibe oder einen lite­rari­schen Text: Der Brief will einem Gegen­über was erzählen, ihn was fragen. Literatur fragt viel­leicht mehr danach, was die Sprache einem erzählen will und wie ein Satz nach einem andern ruft.
  Eine Bekannte wollte einmal wissen, wie viele Stunden arbeitest du denn durch­schnitt­lich im Monat, nur an den literarischen Sachen. Im Grunde interessierte sie die Frage nach dem Stundenlohn. Stundenlohn! So eine absurde Kategorie für eine Leidenschaft. Andererseits könnten wir jetzt stundenlang über die ökono­mischen Bedin­gungen künstle­rischer Arbeit reden. Aber es war doch eine sehr spannende Frage: Wie definiert man Arbeit? Der Spaziergang, auf dem man eine Formulierung findet, die nie in einen Text Eingang findet, einem aber trotzdem hilft – ist das Arbeit? Ist der ausführ­liche Erzähl­brief an eine Freundin schon Arbeit, weil ein einziger Absatz schließ­lich in ver­änderter Form in einem Roman auftaucht? Manchmal denke ich, wir schuften von morgens bis abends, manchmal denke ich, wir sind die größten Faulpelze und ­Trödler.
 

»Das autobiografische Material
hat seine besonderen Tücken.«







Sabine Peters
Feuerfreund
Roman
Wallstein Verlag 2010

 

C. Gruber: Ihrem Roman Feuerfreund ist der Hinweis vorangestellt: »Die Gestalten in diesem Buch sind nicht identisch mit lebenden oder toten Menschen.« Eine ähnliche Anmerkung findet sich in Ihrem Buch Singsand. Solche Sätze weisen für mich darauf hin, dass Erfun­denes und Erlebtes hier Hand in Hand gehen. Ich lese sie als Fingerzeig, dass Ihre eigenen Erfah­rungen zum Teil sehr stark einge­flossen sind in diese Texte. Wie geht man damit um, wenn man über Dinge schreibt, die man selbst erlebt hat? Wie gelingt es, die Distanz zu halten, die es erlaubt, einen litera­rischen Text zu schreiben (der also seine ästhe­tische Eigen­gesetz­lichkeit hat)?

 

S. Peters: Mich interessiert die Vermischung von Erlebtem und Erfundenem. Wobei doch jeder lite­rarische Text Fiktion ist, sofern man ja nie »alles« abbilden kann oder will. Texte sind vielleicht einerseits eine Art Überbleibsel, ein winziger Rest des Massivs dessen, was überhaupt Leben ist. Andererseits fügt man dem tatsächlich Gegebenen etwas hinzu. In dem Roman Feuerfreund bekommt Marie einen Brief, den es »in Wirklichkeit« nie gab, den es aber von mir aus und in meinem Leben gern hätte geben sollen. Egal, auch wenn er tatsächlich nicht existierte, im Roman hat er seine Funktion.
  Das autobiografische Material hat seine besonderen Tücken. Naturgemäß ist es einem besonders nahe, und es geht darum, Distanz zu gewinnen bezie­hungs­weise zwischen Nähe und Distanz zu balancieren. Das ist aber im Grunde immer so beim Schreiben. Die Schwierigkeit bei Texten mit auto­bio­grafischen Zügen hat sehr viel mit der Rezeption zu tun; fast unweiger­lich werden Autor und Hauptfigur mit­einander kurz­geschlossen. Dieses Wissen macht einen sehr vorsichtig, auch wenn das vielleicht keiner glaubt außer den Kollegen, die ähnliche Erfahrungen haben.

 

C. Gruber: Haben Sie Techniken im Umgang mit eigenem biographischen Material entwickelt?

 

S. Peters: Über Techniken mit biografischem Material kann ich wenig sagen. Ich merke nur beim Schreiben: Wenn tatsächliche Menschen in einen Text eingehen, nehmen sie ein Eigenleben an. Es geht dann nicht mehr unbedingt darum, sie der Wirklichkeit anzunähern. Es geht darum, literarische Gestalten glaub­würdig und autonom werden zu lassen. Natürlich fällt dabei dann viel Persönliches weg. Das bespricht man vielleicht mit Freunden oder mit sich selbst oder niemals. Wenn einer scheinbar autobiografisch schreibt, wird so oft angenommen, jetzt sagt er alles. Dabei ist das doch auch nur eine der vielen Formen des Versteckspielens.

 

C. Gruber: In Ihren Büchern begegnet uns immer wieder die Figur Marie, zum Beispiel in Abschied, Singsand und Feuerfreund oder auch in Der Stachel am Kopf. Ist diese Figur eine Art Schutz­schild oder auch ein Filter, durch den auto­bio­graphische Elemente gleichsam »hindurch­müssen«, damit sie im Text erscheinen?

 

S. Peters: Marie hat einige autobiografische Züge, anderes ist erfunden. Ich hoffe schon, dass sie und die jeweils übrigen Figuren in vielen Punkten ver­all­gemeiner­bar sind.
  Mit dem Buch Abschied über das letzte Lebensjahr eines ziemlich pa­triarcha­lischen Vaters habe ich mal eine schöne Erfah­rung gemacht. In dem Buch wird der alte Doktor Phil zunehmend schwächer; die eingefahrenen Macht­verhält­nisse in der Familie brechen auf, und dann auch wieder nicht ... Doktor Phils Frau und seine erwach­senen Töchter, unter ihnen Marie, haben Schwierig­keiten, sich in dieser Situa­tion zu­recht­zufinden. Ja, und dann wollte eine ent­fernte Bekannte den Roman lesen. Ich habe gezögert, ihn ihr zu geben; denn sie war sehr alt, sie hatte große Schmer­zen, ähn­lich wie Doktor Phil. Ich dachte, vielleicht findet sie sich in dem trau­rigen, lei­denden und lebens­satten Mann wieder ­ und wie hart muss es sein, wenn am Ende das Leichenhaus steht und die Tür zugeht.
  Die über achtzigjährige Bekannte gab mir das Buch nach der Lektüre zurück und sagte mit einem unvergess­lichen Lächeln: »Mein Vater war genauso«, mit einer ganz hohen Mädchen­stimme. Mit einer Tochter­stimme. Wir waren so erfreut miteinander – und das meinte ich damit, dass Marie hoffent­lich auch verallgemeinerbare Züge hat.
  In meinem Kopf gibt es neben anderen Autoren auch die großen ­Vor­bilder Friederike Mayröcker und Hubert Fichte. Das »Ich« bei May­röcker und »Jäckie« bei Fichte, diese Gestalten haben mit den beiden Autoren zu tun und sind doch wieder etwas ganz anderes, sie sind literarische Spiel­figuren, in denen sich Welt­erfahrung nieder­schlägt und mit denen Sprache erprobt wird. In etwa diese Richtung soll Marie gehen. Auch wenn ich mich mit Mayröcker und Fichte nicht messen kann be­ziehungs­weise natürlich auch meine Eigen­art des Schreibens bewahren und entwickeln möchte.

 

C. Gruber: Ihr Roman Feuerfreund schildert die Beziehung zwischen Marie und Rupert, einem Schrift­steller­paar mit 33 Jahren Alters­unterschied. Als Rupert stirbt, steht Marie vor der Aufgabe, weiterzuleben und weiter­zuschreiben – in einen neuen Alltag zurückzukehren. Das Buch handelt also vom Schreiben und vom (Zusammen-)Leben von Schrift­stellern, aber auch vom Schreiben über echte Menschen, vom Schreiben über einen Ver­storbenen – und vom Weit­schreiben nach dem Tod eines geliebten Menschen: »Sie habe nicht vor, Rupert zum Objekt ihrer Arbeit zu machen, er sei ein Subjekt. Immer noch sei er tot. Sie wisse nicht, was sie künf­tig allgemein Interes­santes erzählen solle. Ein Text aus Trauer sei fad, und eine Bewegung, die durch die Nacht zum Licht führe, finde sie un­glaub­haft. Viel­leicht sei nicht nur das Eine ans Ende gekommen, die Ehe. Viel­leicht auch das Andere, das Schreiben.« Das (Weiter-)Schreiben erscheint hier als große, fast un­mensch­liche Herausforderung. Holt der Roman hier seine eigenen Ent­stehungs­bedingungen ein?

 

S. Peters: Sie beschreiben das, worum es in dem Buch Feuerfreund geht so, dass ich eigentlich nur »ja« sagen kann. Ja, es geht um die Liebe zwischen Rupert und Marie, um den Verlust, als er stirbt und um die Frage, die sich aller­dings immer wieder stellt, bei jedem neuen Projekt: Wie kann man es wagen, zu schreiben.

 

C. Gruber: In Feuerfreund hilft das Schreiben, nach einem Schick­sals­schlag einen Alltag (wieder) auf­zunehmen: Erstens ist das Schreiben hier ein Schreiben über den Verlust und das Verlorene und bedeu­tetet damit auch Ver­arbeitung des Schick­sals­schlags. Zweitens strukturiert das Schreiben als (physische) Tätigkeit den Tag und bereitet damit einen Weg zurück in routinierte Abläufe. Entspricht das einer Erfahrung, die Sie selbst gemacht haben? Hilft Schreiben nach einem Schicksals­schlag?

 

S. Peters: Ich glaube einerseits, Schreiben »hilft« immer: Als ein Tun, das man weitgehend selbst bestimmt; im Alltag ist man doch von Zwängen aller Art umgeben. Man kann aber auch malen, kochen, Sport treiben oder im Garten arbeiten, um phasenweise ganz zu sich und ganz zur Welt zu kommen. Anderer­seits hat mir das Schreiben nach dem Tod meines Vaters, das nach dem Tod meines Ehe­manns nicht gehol­fen, Dinge zu verarbeiten. Es war kein thera­peutischer Prozess. »Ver­arbeiten« ist doch ohnehin ein grausamer Ausdruck. Man will doch gerade nicht fertig werden mit einer geliebten Person. Auch im Feuerfreund steht vor allem vieles nicht. Es gibt persön­liche Erfah­rungen, die ich nicht in Worte fassen kann oder will. Und die auch nicht an die Öffent­lichkeit gehören.

 

C. Gruber: Der Roman Feuerfreund ist in kurze Abschnitte unter­teilt. Erzählt werden kleine Aus­schnitte aus dem Leben der Figuren, kurze Szenen – wie Moment­aufnahmen. Der kleinen Form begegnen wir auch in anderen Texten von Ihnen, zum Beispiel im Band Nimmer­satt. Eignet sich das Erzählen in kurzen Ab­schnitten besonders gut, um Alltag literarisch dar­zustellen? Oder umgekehrt: Lässt sich das Schreiben in kurzen Einheiten besonders gut in den Alltag »einbauen«?

 

S. Peters: Die kurzen Abschnitte helfen mir, die Angst vor dem Schreiben in Grenzen zu halten. Insofern lassen sie sich gut in den Alltag einbauen. Anderer­seits brauche ich manchmal für 20 Zeilen länger als für fünf Seiten.
  Die kleinen Szenen sollen aber auch auf das Kurzatmige, etwas Verhuschte jedes Lebens hinweisen. Wir bewegen uns ja gerade nicht wie gemächliche weise Schild­kröten durch unsere Tage. Das Profane und Banale liegt doch immer dicht neben den großen und hohen Gedanken und Gefühlen. Denkt man denn dauernd darüber nach, dass man existiert, dass man begrenzt ist, dass man nur die kleine Spanne Zeit hat? Naja, Schild­kröten denken das vermutlich auch nicht.
  Ich finde es interessant, das Unsichere, Flüchtige formal zu fassen, Ecken und Kanten. Sprung und Bruch und dann wieder ein Fluss. Auch in der bildenden Kunst wirken Skizzen auf mich oft viel spannender als das breit Aus­gemalte. Manchmal haben wenige Striche eine größere Prä­zision und Konzen­tration als irgend­ein pracht­voller Öl­schinken. Kurze Sequenzen eignen sich für mein Gefühl auch gut zur Montage. Wenn etwa eine Szene sehr lieblich, fast idyllisch geworden ist, will ich solch einen Zustand in der nächsten Szene relati­vieren. Vielleicht geht es fort­laufend um ein Nicht­sicher­sein: Ist eine Gestalt so, oder ist sie auch noch so. Es soll möglichst viel offen bleiben.

 

C. Gruber: »Reisen, sich reduzieren auf einen Kern«, steht in Singsand. Reisen bedeutet, den eigenen Alltag zu reflek­tieren. Das beginnt bei der Vorbereitung einer Reise: Was brauche ich, um (in Maries Fall) fünf ­Wochen an einem fremden Ort zurecht­zukom­men, um dort einen (Schreib-)Alltag ein­zurichten? Schreiben und Reisen: Geht das aus Ihrer Sicht (gut) zusammen?

 

S. Peters: Schreiben und Reisen geht bei mir gar nicht zusammen. Da füllen sich zwar die Kladden, man schreibt auch Briefe oder arbeitet an einem Vortrag. Aber für das Literarische Schreiben fehlt der vertraute Rahmen, übrigens auch die Bücher anderer Autoren. Manchmal hilft es zu Hause, ein paar Seiten Anne Duden oder Peter Weiss zu lesen, um in ein anderes Hören hinein­zugeraten, und vielleicht daraus in das zu kommen, was der eigene Atem, die eigene Stimme ist be­ziehungs­weise wird.

 

C. Gruber: In Singsand geht es viel um fremden Alltag: Die Schrift­stellerin Marie reist nach Israel, erlebt den Alltag dort, führt Gespräche, beobachtet und reflektiert mit den Augen einer Deutschen, was sie sieht. Ist es einfacher, über fremden Alltag zu schreiben, weil man sich über diesen unmittel­barer wundert als über den eigenen?

 

S. Peters: »Fremder Alltag« taucht immer wieder auf, ob in den Stimmen von Nachbarn auf dem Dorf oder in der Stadt oder in denen von israelischen Freunden. Aber es wird eben auch das, was man so das »Eigene« nennt, im Schreiben fremd. Ich glaube, es geht immer um das Sich­wundern, um das, was sich nicht mehr von selbst versteht. Bei ­Thomas Mann habe ich oft das Gefühl, der wusste von einem bestimmten Zeitpunkt genau, was er schreiben wollte, und hat das dann Kapitel für Kapitel abgear­beitet, mit großer Per­fektion. Das andere Extrem wäre das Schreiben als ein völlig ungewisser Suchvorgang. Das finde ich interessanter, auch wenn man natürlich doch sehr bald zumindest ein paar Koordinaten hat.

 

C. Gruber: Inwiefern ist es gefährlich, über den Alltag anderer zu schreiben? Man beobachtet diesen Alltag lediglich von außen, kennt zwangsläufig nicht alle Zusammenhänge, macht sich angreifbar ...

 

S. Peters: Ich finde, das Schreiben ist überhaupt eine Anmaßung. Es sagt doch jeder Text unweigerlich »so ist es«. Man kann als Autor immer nur quasi intern versuchen, gegen­zusteuern, indem man durch eine Fülle von einander ergän­zenden und widersprechenden Gestalten, oder auch durch formale Mittel, die Frage aufwirft: »Ist es so?« Das hat der von mir sehr verehrte Autor Hermann Kinder einmal sinngemäß gesagt.
  Wahrscheinlich werden die Texte jedes Autors von all seinen Bekannten unweiger­lich daraufhin abgeklopft, ob und wie sie selbst darin auftauchen. Außenstehenden ist es egal, ob etwa ein Hofrat Behrens auf dem Zauberberg sich seine Patienten mit faden­scheinigen Rönt­gen­aufnahmen selbst heranzieht; aber irgendein Arzt aus Thomas Manns Bekannten­kreis oder aus einem dieser Sanatorien kann sich auf die Füße getreten fühlen. Die Dis­kussion über die unzensierte Freiheit des Worts und über Persön­lichkeits­rechte muss immer wieder an konkreten Fallbeispielen geführt werden. Ich bemühe mich von Jahr zu Jahr mehr, tatsächliche Menschen in den Texten zu verfremden, so dass dann eine lite­rarische Gestalt aus vielleicht fünf anderen Leuten plus eigenen Erfin­dungen zusammen­gesetzt ist. Und ich versuche, freund­lich zu sein, leidlich ge­recht. Nur: Literatur lebt auch, a u c h, vom Konflikt. Als Leser will man doch keine Bücher, in denen nur Heilige auftreten! Bezie­hungs­weise: Wünschen wir uns denn eine Literatur, in der die Schurken ganz eindeutig immer nur die bösen anderen sind – oder geht es auch darum, in sich selbst das Lächerliche, Peinliche, Schur­kische neben dem Achtens- und Liebens­werten zu entdecken?
  Es ist immer wieder überraschend, wie Menschen lesen, was sie hören. Wir kon­struieren ja beim Lesen und Hören immer auch unsere je eigenen Texte. Einmal habe ich in einer Kurz­geschichte eine ost­frie­sische Hausfrau sprechen lassen, die entlarvt sich im Grunde selbst. Nörgelt über den Rest der Welt und ist aber im Grunde auch sehr einsam. Besten­falls lässt sich in ihrer Tirade ein Funken von Sehn­sucht hören. Den Text mit diesem Rede­schwall der Ost­friesin habe ich im schwä­bischen Reutlingen vorgelesen, und danach stand eine Frau im Publikum auf und sagte: »So bin ich aber nicht!« Weiß der Teufel, warum sie sich angesprochen fand.

 

C. Gruber: Bei Maries Reise nach Israel (in Singsand) wird klar, dass Alltag und Normalität eine Frage der Per­spektive sind: »Auch Deutsch­land ist nicht ruhig. Junge Männer jagen Ausländer und Bettler«, sagt ein Taxifahrer in Israel. Und Marie merkt: »Auch in Israel kam es so wie in anderen Ländern«: Sie findet Freunde; Menschen gehen einkaufen, essen – und im Bus wird auch dort gerempelt. Ist es eine Aufgabe von Literatur, Alltag zu beleuchten und zu hinterfragen?

 

S. Peters: Meine Texte sollen das, ja. Aber mehr noch wünsche ich mir, dass sie ihr eigenes Leben haben, dass sie als Spracharbeit wahrnehmbar sind. Wo Literatur gelingt, macht sie wohl immer zweierlei: Sie erzählt einem etwas, und sie klingt. Wenn man nur wissen will, wovon sie handelt, löst man den Inhalt von der Arti­kulation. Aber man ist erst »ganz dabei«, wenn man neben allem, was einem da jeweils gesagt wird, auch den Tonfall und den Rhythmus eines Textes hört. Viel­leicht könnte man das Schreiben selbst auch als eine Form des Hörens bezeichnen.

 

C. Gruber: Alltag unter Extrembedingungen. Dieses Thema scheint Ihre Bücher Singsand, Abschied und Feuerfreund zu verbinden: Wie ist es möglich, dass Menschen ihren Alltag aufrecht­erhalten – in einer »Krisen­region«, an der Seite eines schwer­kranken Menschen, den sie pflegen, oder auch nach dem Verlust eines geliebten Menschen? Hat Sie diese Frage (beim Schreiben) bewusst beschäftigt: Wie richten sich Menschen auch bei widrigen Bedin­gungen scheinbar so selbst­verständ­lich in ihrem Leben ein?

 

S. Peters: Tut mir leid, dazu kann ich nur stottern. Was sind widrige Verhältnisse und was ist eigentlich »normal«? Wenn eine ganze Gesellschaft oder ein großer Teil von ihr ausrastet, wird das von vielen als Normalität wahrgenommen. »Das ist dann eben so«, einige Leute tragen einen Juden­stern. Ein schauer­liches Geheimnis. Andererseits kann das Norma­lisieren wohl auch gute Seiten haben. Wer an der Seite eines schwer kranken Menschen lebt, für den nimmt das den Charakter des Selbst­verständ­lichen an. Aber das sind abstrakte Über­legungen, und sofern sie sich in meinen Texten niederschlagen, würde ich sie immer konkretisieren wollen, erden wollen. Man könnte zum Beispiel zeigen, dass sich ein Liebespaar wüst streitet, auch wenn der Mann oder die Frau gelähmt im Rollstuhl sitzt. Die beiden wären ja nicht ewig nur »betroffen«.

 

C. Gruber: »Große Geschichte, die ist besprechbar. Bei der Privat­geschichte wird es schwieriger« (Abschied): Erzählt sich das Große scheinbar leichter, weil es seine Rele­vanz nicht unter Beweis stellen muss, während das »Kleine«, das »Private« immer erst beweisen muss, dass es nicht das rein »Private«, das Banale ist, dass es also erzählenswert ist? Ist das Private deshalb umso bedürf­tiger, besprochen zu werden?

 

S. Peters: Mich interessiert »Geschichte von unten« und ich finde das Kleine, Private und Konkrete erzählenswert. Denn darin bilden sich ja immer auch abstrakte Systeme und Strukturen ab. Kulturelle, öko­no­mische, religiöse und politische Systeme bestimmen doch das Be­wusst­sein, die Beziehungen und das Handeln von Menschen ganz entscheidend. Ja, und das »Große« beziehungsweise das »Kleine«: Im alltäglichen Reden ist es anscheinend einfacher, sich etwa über »den« Faschismus zu unter­halten, als über das, was ein Angehöriger während dieser Zeit tatsächlich tat oder nicht tat. Da kann unter anderem das litera­rische Schreiben zu einer Feinarbeit werden und auf Verwick­lungen und ­Knoten hin­weisen.
  Im alltäglichen Gespräch droht immer so vieles unterzugehen, das Stocken, Zögern, Versprecher, Gestik und Mimik, das Verhaspeln, die Auslassungen, der stockende Atem. Man nimmt das zwar teilweise wahr, kann aber oft gar nicht so schnell reagieren. Bei der langsamen Tätigkeit des Schreibens lassen sich solche Wahr­nehmungen hörbar machen.
  »Bedürftig«, diesen Ausdruck von Ihnen finde ich sehr schön. Wir wagen es doch im Alltag oft kaum, tatsächlich dieses wider­sprüch­liche, verletzliche Wesen zu zeigen, diesen Hauch von »Ich«, der man ist, unter all den Sprachblasen, die man von sich gibt, unter all den Masken, die man überstülpt. Neulich bei einer Zugfahrt ein schla­fender junger Mann, der sah ganz friedlich aus. Im Aufwachen fielen ihm die Mundwinkel runter, und er sah sofort aus, als hätte man eine ganze Serie von Kinski-Porträts über sein Gesicht gelegt. Da fragt man sich, was ist passiert. Wovor muss er sich schützen, wem will er was zeigen. Was beschäftigt ihn ... In solchem »Kleinen« stecken doch ganze Welten.

 

C. Gruber: Welche (Schreib-)Projekte beschäftigen Sie derzeit?

 

S. Peters: Derzeit schreibe ich Erzählungen, sie spielen mehr oder weniger heute und in Hamburg. Die Texte sind vom Per­sonal her lose mit­einander verbunden. Wenn einmal ein Familien­vater spricht oder geschildert wird, sieht er im nächsten Text völlig anders aus, in den Augen seiner Tochter etwa. Das ist ein Versuch, Gerechtigkeit walten zu lassen – Vielstimmigkeit her­zustellen. Wieder tauchen einige Figuren auf, die man aus früheren Büchern wieder­erkennen könnte, einmal auch Marie. Aber man soll die Geschichten letztlich voraus­setzungs­los lesen können, sie sollen jeder für sich allein stehen, auch wenn das Ganze, wenn es mal fertig wird, eine Art Reigen sein soll.
  Ich muss noch über­legen, ob ich irgendwo Tante Gilgi aus Dortmund unter­bringen kann. Die schwirrte in den letzten Büchern rum, dürfte aber mittler­weile steinalt sein. Diese Figur hat mir immer gedient, Haltungen aufs Korn zu nehmen, die ich furchtbar finde. Und natürlich hat die Verwandt­schaft jedes Mal gefragt, meinst du mit ihr Tante Tütü oder Tante Fee.

 

C. Gruber: Eine Joker-Frage zum Schluss: Auf die Interview-Anfrage antworteten Sie, dass Ihnen einige Gedanken zum Thema gekommen seien ... Vielleicht gibt es eine Frage, auf die Sie gerne noch geantwortet hätten. Falls ja, wie lautet die Frage? (Und die Antwort?)

 

S. Peters: Vielen Dank für den Joker. Eigentlich haben wir in den Fragen und Antwort­versuchen schon vieles berührt. Und wahr­schein­lich ist das, was mir jetzt noch einfällt, zu groß: Warum schreiben Sie über­haupt, Frau Peters?
  Aus Langsamkeit; weil es mir oft schwer fällt, spontan auf »Welt« zu reagieren. Aus Ohnmacht und Empö­rung. Aus Ratlosigkeit und Unver­ständnis und im Wunsch, die Dinge besser zu verstehen. Aus Lust an Sprache, Form und Spiel. Um die Welt schöner zu machen; wobei man das auch mit einem anstän­digen Risotto kann. Um glücklich zu sein. Um lebenden und toten Leuten »danke« zu sagen.

 

C. Gruber: Herzlichen Dank für das Gespräch!
 

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Carola Gruber    06.12.2012   

 

 
Carola Gruber
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