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Carola Gruber

Aufzeichnungen



Eines Tages, wenn ich aus der Wohnung ausgezogen bin, könnte jemand, eine Frau oder ein Mann, am gleichen Ort sitzen, vielleicht zwei Meter weiter rechts, auf dem Balkon stehen, mit einer Zigarette, in der Küche Zwiebel schneiden, mit einer Freundin am Kaffeetisch sitzen, und den Einfall haben, über das Haus, in dem ich wohne, zu schreiben;
die laut gedrehten Fernsehstimmen abends, ein Topfgeklapper am frühen Nachmittag, das Gluckern einer Toilettenspülung, Schritte auf dem Gang könnten – wie auch der Hahn der benachbarten Gärtnerei, der immer erst mittags kräht, oder das Summen einer verirrten Fliege am Fenster – etwas in dem Menschen auslösen,
der Blick auf die abgezäunte Wiese, der Schnitt der Wohnung, die Aufstehzeiten der Nachbarn, die Art, wie sie im Treppenhaus grüßen, die Autos vor der Tür parken, leise über die unfreundliche, süddeutsche, verstorbene Vormieterin reden, könnten den Menschen auf etwas bringen, das er festhalten möchte; er oder sie würde sich hinsetzen, hier, wo ich jetzt sitze, zwei Meter weiter rechts oder am Küchentisch, und beginnen zu notieren,
mit einem Bleistift auf dickes, raues Papier, mit einem Kugelschreiber in den dünnblättrigen Terminkalender, mit geübten Fingern auf einer Tastatur, vielleicht bei offenem Fenster, so dass der harzige Duft des Waldes, der saftiggrüne Geruch eines frisch gemähten Rasens oder die Ahnung von fauligem Brennholz hereinweht; vielleicht wird der Mensch darüber schreiben,
über das Haus, wie es ist, mit seinem offenen Gängen auf jeder Etage, wie ein schnell gebautes Motel am Rand einer Schnellstraße, wie es sein könnte, drei Stockwerke höher und stolz die Stadt überblickend, mit frisch sanierten Appartements, sechzig Quadratmeter große Wert­anlagen für erfolgreich Berufstätige, statt der kleinen, subventionierten Sozial­wohnungen, allmählich entstünde ein neues Haus, in dem die Töpfe anders klappern, die Menschen anders grüßen, die Luft anders riecht,
der Leser erfährt nichts von der Wohnung, von deren Schnitt, von der Türschwelle zum Bad, vom Blick auf die beiden Apfelbäume vor dem Haus, von der stillen Straße, auf der kaum Autos fahren, von den Gerüchten über die Vormieterin; vielleicht klappert kein Geschirr, fahren keine Autos, steht niemand am Fenster, sondern
eine Frau zupft ihre Augenbrauen, Haar für Haar fällt in das weiße Waschbecken, während sie im Spiegel beobachtet, wie die dünne Linie über ihrem Auge sich schmälert und windet, böse und erschrocken wird, dann schwach und zittrig, bis im Ausguss die kurzen, stoppeligen Haare liegen wie die Nadeln unter einem alten Christbaum, und das Gesicht nackt aussieht, nackt und unbestimmt, die Frau in der Erzählung erschrickt, über sich und den Schmerz, der das Blut durch die gerötete Haut presst, sie tupft die Blutkügelchen mit Watte ab, und auch die Tränen, wischt über die nasse Haut, bis sich rote Schlieren unter ihren Augen bilden und es aussieht, als weine sie Blut,
zwei junge Männer tauschen Blicke, Blumen, Wohnungsschlüssel, lieben einander immer mehr, bis einer von beiden – wegen seines Stoppelbartes, wegen der Marke seiner Jeans – mit einem russischen Drogenhändler verwechselt und beim Zahnarztbesuch, im Restaurant, am Ausgang eines Fitnessstudios erschossen wird, sich bei einem Autounfall am Gurt stranguliert, woraufhin der Hinterbliebene einen Verein gründet, zur Gleichstellung Hinterbliebener aus homosexuellen Partnerschaften, zum Schutz bedrohter Pflanzenarten, zur Bekämpfung der Kinderarbeit in Indonesien, oder er wird drogenabhängig, pädophil, steinreich und spiel­süchtig,
das ist übertrieben, wendet der Mensch ein, der die erste Seite seines Zeichenblocks mit großzügiger Schrift bedeckt, die Blätter der kommenden Kalenderwoche unter dem Druck seines Kugelschreibers geprägt, den Computer bereits wieder ausgeschaltet hat, und stellt sich etwas Anderes vor,
ein Ehepaar, dessen Kinderwunsch sich nicht erfüllt, das ein Kind adoptiert oder sich trennt, wegen einer Kleinigkeit, der Mann verlegt seine Socken, den Ehering, schwängert die Putzfrau, die Montagnachmittags durch die Wohnung klimpert, ihre Glasperlenkette schlägt bei jeder Bewegung gegen den üppigen Busen, berührt den Teppichboden, wenn sie den Stecker des Staubsaugers aus der Wand zieht, was den Mann jedes Mal erregt,
wegen des runden Hinterns, wegen des Glasperlengeklimpers, als würde sie in diesem Moment wippend auf ihm sitzen und die Kette würde regelmäßig gegen ihre Brust schlagen, wovon die Ehefrau nichts ahnt, bis sie die zusätzlichen Zahlungen ihres Mannes an die Bedienstete entdeckt, oder dieselbe ihr in einem Streit über westeuropäische Vorstellungen von Sauberkeit einen Teil dieser Wahrheit entgegenschreit, woraufhin die brave Frau aufhört zu reden, für immer, ins Kloster geht, ein Solarium eröffnet –
oder eine einzelne Person, die etwas sucht, einen Handschuh, das Glück, einen Studienplatz, vergeblich, und stattdessen etwas Anderes bekommt, eine Socke, eine Offenbarung, ein Kind; und der Mensch, der schreibt,
wird aufstehen, in die Küche gehen, Knöpfe auf der Espresso­maschine drücken, den Wasserhahn aufdrehen, den Kühlschrank öffnen, Fauliges aus dem Gemüsefach ziehen, Besteck von der Spüle in eine Schublade sortieren, deren Schienen er selbst angebracht hat, so wie dieser Mensch einiges verändert hat an der Wohnung; vielleicht steht eine alte Couch auf der unvergilbten Insel im abgenutzten Fußboden, wo früher mein Bett stand, Gardinen hängen statt der Jalousien vor den Fenstern, die Bohrlöcher der Halterung sind mit Gips gefüllt, der eigens dafür gekauft wurde, oder aus Resten zusammen­gemischt wurde, in einem Joghurtbecher, von mir oder jemand anderem, vielleicht ihm selbst,
weil ich es vergessen habe, überstürzt ausgezogen oder eines Nachts auf dem Nach­hause­weg von einer Jugendbande ausgeraubt und niedergestochen worden bin, so dass, als mein Körper aus der Blutlache auf dem Gehsteig gelöst, von einer Freundin identifiziert und schließlich in die Erde eingelassen worden ist, sich niemand zuständig fühlte, die Bohrlöcher über den Fenstern zu füllen,
vielleicht zieht der Mensch gerade einen Vorhang auf oder zu, fasst das Seil der Jalousie dort, wo ich es mehrere hundert Mal berührt habe, hat für einen Moment den gleichen Blick aus dem Fenster wie ich jetzt, denkt über seine Figuren nach, über die Frau, die sich die Augenbrauen vollständig ausgezupft hat,
wobei dem Menschen auffällt, wie ähnlich das fiktive Badezimmer dem eigenen ist, dass die Frau die Züge einer Bekannten trägt, oder der Nachbarin, die neulich im Hausflur an den Briefkästen stand, ihr Fach öffnete und eine tote Maus fand, sich ruckartig abwandte, mit hochgezogenen Augenbrauen und offenem Mund, im Umdrehen den Menschen sah, der jetzt schreibt und in jenem Moment die Treppe herunterkam, was die Nachbarin zusätzlich überraschte und ihr ein spitzes „Ah“ entlockte, was wiederum beide zunächst verunsicherte und schließlich zum Lachen brachte; der Mensch, der gerade den Vorhang aufgezogen hat, den Griff der Kühlschranktür umklammert, eine Gabel zu den anderen gelegt, wieder in die Hand genommen, mit dem Daumen über eine Zinke gerieben und die Gabel zurück in die Spüle gelegt hat, fragt sich,
ob Galgenhumor etwas Gutes ist, ob der Duft des Waldes zu aufdringlich beschrieben ist, ob der Zahnarztstuhl, auf dem die Hauptperson erschossen wird, einen blassgrünen oder einen hellgrauen Bezug hat, ob aus Kunststoff oder echtem Leder – vielleicht lacht der Mensch, über sich, über seine Figuren und all das dumme Zeug, das er sie erleben lässt, vielleicht zweifelt er am zeitlichen Aufbau des Romans, am plötzlichen Interesse des Hinterbliebenen für Andere, am traurigen Grundton der Skizze, den blutigen Schlieren, den sprachlichen Eigenheiten der Sockensucherin in seinem Theaterstück –
ob er eigentlich nur von sich erzählt, von seiner Liebe zu einer hübschen Kroatin, die als Gebäudereinigungskraft arbeitet, von seinen eigenen Eltern, deren Nachkriegskindheiten und der Ehekrise, von dem Lehrer, der ihn in der Grundschule missbraucht hat, nach dem Sportunterricht, im Zeichensaal, im Vorzimmer des Direktors, fragt sich der Mensch, während er den Zucker ungelenk mit einem Teelöffel verrührt, welcher gegen die Wände der Espressotasse schlägt und den heißen Sud überschwappen lässt,
weil der Mensch keinen Espressolöffel besitzt, obwohl er vor langer Zeit sich vorgenommen hat, einen zu kaufen, genauso wie er ein paar Geranien in die Blumenkisten auf dem Balkon pflanzen wollte, das Rauchen aufgeben, die Fenster putzen – was er aber vielleicht schon längst getan hat, weil er doch ganz anders ist, als ich ihn beschrieben habe;
die Augenbrauenzupferin steht immer noch im Badezimmer, ihre Hand hält die Pinzette, setzt sie auf den Spiegel und zieht – mit einem lauten Kreischen – eine diagonale Linie durch das Gesicht gegenüber, dann noch eine und noch eine, die Schlieren unter den Augen verschwimmen, zerlaufen zu Rinnsälen,
die Putzfrau hat eine Frühgeburt, die Glas­perlen­kette reißt, eingeklemmt in der Tür des Ambulanzwagens, in der festen Umklam­merung der Frau, die sich in diesem Moment erinnert, wie die Mutter eines Sonntags die Kette vom Flohmarkt mitbrachte, als Geschenk des Händlers, den sie fünf Monate später heiraten würde und der das Kind, noch bevor es Putzfrau wurde, wie eine Bedienstete behandeln sollte,
während sich das Kloster als ungeeigneter Ort für die frustrierte, kinderlose Frau erweist, die nun ein Schmuckgeschäft eröffnet, während der Hinterbliebene wegen seiner sexuellen Orientierung auf dem Nachhauseweg nieder­gestochen, ins Krankenhaus gebracht wird, und, ohne es zu wissen, im selben Bett liegt wie sein früherer Lebenspartner, der darin verstarb und dessen Sterbezimmer dem meinem ähnelt, zumindest in der Vorstellung des Menschen, bevor er sich besinnt und dem jungen, gutaussehenden Hinterbliebenen einen Preis für ehren­amtli­ches Engagement und Zivilcourage zukommen lässt,
während die glück-, handschuh-, studienplatzlose Person entdeckt, dass die Offenbarung das größte Glück bedeutet, dass die Socke auch als Handschuh taugt, dass das Kind mehr lehrt als die Professoren an der Universität;
dann steht der Mensch auf, verlässt den Tisch in der Küche, im Wohnzimmer, den Stuhl auf dem Balkon, geht ins Badezimmer, wo der Spiegel nicht verkratzt ist und im Ausguss keine Haare liegen, und fragt sich,
wer vor ihm in der Wohnung gewohnt hat, ob Mann oder Frau, ob verliebt, ob rechtsradikal, alleinerziehend, hochbegabt, und was sich seither in der Wohnung verändert hat, welche Löcher in den Wänden habe ich zugegipst, wozu dienten sie, mochte mein Vormieter Miró und Matisse, oder hat er deren Namen noch nie gehört, welche Stellen des Fußbodens hatte die Sonne bereits gebleicht, als ich eingezogen bin, welche sind hinzugekommen, fragt sich der Mensch, der in diesem Moment vielleicht
den Einfall hat darüber zu schreiben,
sich an einen älteren Text erinnert, ihn sucht – es ging um die Apfelbäume vor dem Haus, die Vögel darin und eine Kindheitserinnerung, die damit zusammenhing – und findet und liest,
die Gedanken sind platt, die Beobachtungen ungenau, verstörend, falsch, die Person streicht mit einem schwarzen Filzstift im Notizblock herum, löscht die Datei vom Computer, beschließt, den neuen Einfall nicht zu notieren, stößt sich den Fuß an der Schwelle zum Badezimmer, zischt durch die zusammenpressten Zähne ein Wort, beugt sich über den Papierkorb und sucht nach dem zusammengeknüllten Manuskript, klickt auf Wiederherstellen,
vergisst den neuen Gedanken, schneidet in der Küche Zwiebeln, bietet der Freundin eine weitere Tasse Kaffee an, steht auf dem Balkon und raucht, mit dem Blick auf die eingezäunte Wiese vor dem Haus, mit dem Topfgeklapper der Nachbarn im Ohr; oder der Mensch hat derartige Einfälle nicht,
übt sich in einem Kampfsport, spielt Tischtennis, Basketball, sammelt Streichholzschachteln, wäscht seinen Sportwagen, strickt Socken für Verwandte, beklebt Straußeneier mit bunten Folien, trifft jeden Freitag seine Freunde zur Happy Hour in einer Cocktailbar, verreist nach Alaska, Berlin, Kroatien, um dort zu tauchen, andere Kneipen, andere Basteltechniken kennen zu lernen, Interesse an den Großeltern zu beweisen,
während die Wohnung leer steht,
niemand an der Stelle steht, wo ich jetzt stehe, niemand den Staub beobachtet, der am frühen Nachmittag im schräg einfallenden Sonnenlicht glitzert, und sieht, wie die Autos vor dem Haus parken, wie sich im Winter das Kondenswasser an den Scheiben des Fensters tropfenweise niederschlägt, wie die Apfelbäume zunächst die Früchte herausbilden, um sie später samt Blätter abzuwerfen,
niemand hört, wie die Töpfe nachmittags klappern, wie die Nachbarn streiten und früh aufstehen, wie die Fernsehstimmen abends das Haus durchdringen, niemand wahrnimmt, wie der nahe Wald, der frisch gemähte Rasen, die reifen Äpfel duften, wie eine Nachbarin beim Briefholen über eine tote Maus erschrickt, wie der Fußboden unter den Sonnenstrahlen ausbleicht –

Zuerst erschienen in Landpartie (LP06)

Carola Gruber   23.07.2009    

 

 
Carola Gruber
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