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Günter Herburger

Der Kuss

Ein Kuss mit Verwesungsgeruch

Günter Herburger | Der Kuss
Günter Herburger
Der Kuss
Gedichte
A1 Verlag 2008
Ohne Schwierigkeit gelingt der Eintritt in die Gedichte von Günter Herburger. Er ist ein Autor der konkreten Benennung und der Alltäglichkeit, die er teils erzählend, teils reflektierend darlegt. Mit einfachen Worten schafft er große Bilder wie „ein Eimer voll Türklinken“ als Ausdruck der Ausweglosigkeit. Er enthebt das Erhabene und holt es in die reale Welt. Die wird allerdings nur als eine Folie benutzt, hinter der sich subtil eine abstrakte Ebene verbirgt, in der Herburger große Themen bis hin zum Schicksal der Welt behandelt: „Blut tropft aus den Fingernägeln / mehrerer Sonnen, deren Folterwerkzeuge / wir noch nicht kennen.“ Zivilisationskritisch stellt er sich bewusst gegen die Modeerscheinungen und die Technik und nähert sich dem Primitivismus; bei dem sich die Natur ihren Rang zurückerobert. Er ist ein Archäologe, der bei der Freilegung auf verschiedensten Schichten trifft, die weder aufeinander aufbauen oder zur selben Zeit entstanden sind, noch sich ineinander fügen. „Es gibt kaum Erde, / aber Geröll, unter dem man begraben wird“ und darunter lauern ausschließlich Bedrohungen.

Der Mensch ist für Günter Herburger nur noch als eine Tragikomödie darstellbar. Sein Schicksal wird mit einer Lächerlichkeit besiegelt: „Sie verknotet die Henkel einer Plastiktüte / vor dem Hals, als sei sie ein Elefantenmensch“. Herburger ist ein heiterer Melancholiker und verbindet aufs Natürlichste trockene, ironische Sentimentalität mit zynischer Ernüchterung. In den Versen „Frage der Angler: Tut`s weh? / Nur beim Lachen, seine Antwort. / Im Wörterbuch vergangener Sprache steht, / dass selbst Raupen sich beklagen können“, scheint Herburgers Poethologie deutlich durch. Nicht nur wird auf das Tragikomische angespielt, sondern auch auf sein Verfahren, die Konflikte auf die kleine Welt zu verlagern, die Tierwelt. Diese erscheint oft als Spiegel der Menschen und die Menschen werden animalisiert.

Es werden Visionen entworfen, die nicht selten grotesk und surrealistisch dargestellt sind und mit denen er gegen die Unkultur und Verödung ankämpft. Was allerdings zu Beginn des Gedichtbandes noch mit Diminutiven untersetzt wird, um durch kindliche Weltaneignung ein Stück Welt zu retten, wird zu Bedrohlichem, Ekelhaftem, wodurch Herburger sein Œuvre erweitert, ja, gar gegen es anschreibt. Waren seine früheren Gedichte Botschaften der Hoffnung, scheint hier oft Verbitterung durch. Letztendlich verwirft er sogar seine Anschauung der Thuja-Trilogie, in der die Sehnsucht auf ein gelingendes, glückliches Leben stets wach gehalten wird und immer neue Utopien und Alternativen entworfen werden, denn in der Kuss "fällten [die Helden] einen Thujabaum, / der gottlos geworden war".

Günter Herburgers poetische Trauerarbeit wird immer mehr zum Schockerlebnis, indem er vermehrt auf die Ästhetik des Hässlichen zurückgreift und eine ganz eigene „Humanität“ entwirft. Die Verknüpfung von Unvereinbarem, die Verfratzung herkömmlicher Bilder und der distanzierende Humor münden nicht selten in ein hochironisches Verwirrspiel. Herburger bringt die Denkstrukturen durcheinander, indem er Bruchstücke anders aneinanderreiht.

Letztendlich gibt es nichts Höheres mehr und „Das Dasein überholt die Metaphysik“. Herburger lässt Zuversichten einstürzen, ersetzt sie aber nicht durch Neue, wodurch die letzten Verse des Gedichtbandes ein bezeichnendes Ende bilden:

Irgendwann wird es nur noch
Klumpen aus Kohle um den Erdball geben,
auch die Zaubersprüche für Heil
oder Verfluchung in den Anden,
sie werden vergessen sein,
allein das Knie Gottes wird noch tropfen,
bis auch es schmilzt und zerrinnt.

Wer sich auf Günter Herburger einlässt, bekommt verschiedenste Literatur auf einmal. Seine Gedichte sind zumeist kleine Erzählungen. Zudem lebt er seine Vorliebe für das Rollengedicht aus, wobei sich in Beherrschung und Handschuhe ein einziger Dialog ergibt. Oper und Lilofee hingegen sind Szenenanweisungen, kurze Einakter, die klar auf die Performanz hin ausgerichtet sind. Seine Gedichte scheinen Versuchsanordnungen für Herburgers andere Arbeitsgebiete, das Hörspiel und die Epik, zu sein.

Herburger ist immer wieder vorgeworfen worden, er würde durch seine Aneinanderreihung der Divergenzen und durch seinen assoziativen Denkstil zu sehr im Unvermittelten, Unverbindlichen stecken bleiben. Das trifft auch auf seinen Gedichtband Der Kuss zu. Aber entweder man begnügt sich mit dieser Kritik oder man lässt sich ein auf das Spiel der Divergenzen und hat einen Heidenspaß dabei, weil man immer wieder überrascht wird von der Unvorhersehbarkeit der Bildverschränkungen und den Formen. Was jedoch stört, ist die lieblos ausgefallene Dramaturgie des Bandes. Es ist eine schlichte Aneinanderreihung, wobei offenbar die Gedichte, bei denen die Verdichtung nachlässt, nach hinten geschoben wurden. Gegen Ende wirkt der Band daher etwas ermüdend.
Günter Herburger, geboren 1932 in Isny im Allgäu, verfasst seit 1964 Erzählungen, Romane, Gedichte, Hörspiele und Kinderbücher. Er ist Mitglied des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland und Preisträger zahlreicher Preise, u.a. Bremer Literaturpreis (1973), Peter-Huchel-Preis (1991), Hans-Erich-Nossack-Preis (1992).

Walter Fabian Schmid   13.08.2008

Walter Fabian
Schmid
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