Februar 2007
Zeitschriftenlese – Februar 2007
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk
Das Menschenleben, so hat einst der Kulturphilosoph Jean Améry erkannt, ist ein grundsätzlich vergebliches Projekt, gleich dem Bau eines Hauses, das pünktlich zum Richtfest abgerissen wird. Aber es gibt noch schlimmere Verhängnisse für ein Menschenleben, dann nämlich, wenn es schon vor dem Ausschreiten der Existenz-Strecke auf grausame Weise verkürzt oder zerstört wird. Was dieser Abriss der Existenz für die menschliche Spezies bedeutet, hat nun die Kulturzeitschrift „Merkur“ in ihrem aktuellen Februar-Heft ausgelotet, einer bitterbösen, absolut finsteren Lektion über den Nihilismus und den horror vacui, den Schrecken vor der Leere. Es beginnt mit einem fulminanten Plädoyer des Essayisten Burkhard Müller für den Atheismus, den er als Ernüchterungsinstrument geltend machen will gegen das allerorten grassierende Heimweh nach der Religion. Das „Konzept Gott“, so Müller, ist untauglich, da es die elementaren Bedürfnisse nach Erlösung, Heil und dem Ende der Ausgesetztheit nicht befriedigen kann. Statt dessen agiere der Gottgläubige wie ein Verdurstender, dessen Durst gleichsam die Oase herbeizwingt. Will heißen: Der Gottsucher schafft sich jene Fata Morgana, die sein metaphysisches Bedürfnis braucht.
Solche Einsichten liegen in der Nähe jener „nihilistischen Ethik“, die der „Merkur“ am Beispiel des vergessenen Philosophen Max Stirner analysiert. Stirner, ein Zeitgenosse von Hegel und Marx, hatte mit einer einzigen Schrift im Jahr 1844 seine philosophischen Kollegen zur Weißglut getrieben. Seine Studie „Der Einzige und sein Eigentum“ provozierte den harschen Protest aller maßgeblichen Denker dieser Epoche, da Stirner buchstäblich dem philosophischen Egoismus die Krone aufsetzt. Denn das „Ich“ ist für Stirner die einzige, die absolute Instanz, aber eine Instanz, die keine Verankerung außer sich mehr hat. „Ich hab' Mein Sach' auf Nichts gestellt“: So lautet, in ironischer Anspielung auf Goethe, der Schluss-Satz in Stirners Schrift – und er resümiert die schroffe Absage an jede soziale oder religiöse Verpflichtung des Subjekts. Rudolf Burger referiert im „Merkur“ mit gehörigem Respekt die Thesen Stirners und zieht die nihilistische Linie weiter zu Nietzsche, der als einziger Philosoph die unerhörte Provokation Stirners ernst nahm.
Die nihilistische Lektion im „Merkur“ geht aber noch weiter. Wie sie einen Menschen in seinen Fundamenten erschüttern kann, demonstriert in einer autobiografischen Erzählung der Publizist Gunter Schäble, der nur leicht verschlüsselt seinen ganz privaten Weg in den Abgrund schildert. Bevor Schäble das über ihn hereingebrochene Unglück zu erzählen beginnt, erinnert er an ein gewaltiges Buch, das vor dreißig Jahren, im Jahr 1976, das Elend eines Menschenlebens in beispielloser Entsetzensgenauigkeit darstellte: Damals erschien Günter Steffens´ Roman „Die Annäherung an das Glück“, ein schonungsloser Bericht über den Krebstod der Frau des Autors, ein Sterben, das für Steffens buchstäblich den Zusammenbruch seiner Welt bedeutete. „Ihr Tod hat mir das Leben genommen“, schrieb Steffens damals – und Gunter Schäble war es, der damals als Radioredakteur dem Schriftsteller Steffens eine Rest-Existenz ermöglichte. Zwei Jahrzehnte nach Steffens´ Existenzbericht hatte sich das Verhängnis in Schäbles Leben wiederholt: Auch sein Leben unterlag plötzlich einem permanenten Zustand des Entsetzens, als seine über alles geliebte Frau an Multipler Sklerose zugrunde ging. So heißt es am Ende auch von Schäbles Erzähler, dass er „sich unumkehrbar und mit der Zeit auch immer ungestörter dem Entsetzen überließ“.
Wie viel Leid einem Menschenleben zugefügt werden kann, hat vor vierzig Jahren auch der britische Schriftsteller John Fowles in seinem Roman „Der Sammler“ erzählt. Dieser Roman handelt von einem verklemmten und gefühlskalten Mann Mitte Zwanzig, der sich in eine junge Frau verliebt, die er von seinem Fenstern aus in einer Nachbarwohnung erblickt hat. Lange Zeit spioniert er ihr hinterher, träumt sich in die Obsession hinein, dass ihm die junge Frau ganz gehöre. Um vollständig von ihr Besitz ergreifen zu können, verschleppt er die junge Frau schließlich in sein Haus und hält sie dort im Keller gefangen. Nach acht Wochen stirbt die Gefangene an einer Lungenentzündung und der Allmachtstraum des Entführers fixiert sich auf ein noch schwächeres Wesen, ein junges Mädchen. Man hat in Fowles´ Roman ein grausiges Urbild jener Entführungsgeschichte gesehen, die im August 2006 die Medien-Öffentlichkeit in Atem gehalten hat. Tatsächlich hat die Entführung der Natascha Kampusch in Strasshof bei Wien die literarische Fiktion weit an Furchtbarkeit übertroffen. Denn die Entführte war zehn Jahre alt, als sie verschwand und konnte sich erst achteinhalb Jahre später aus ihrem Kellerloch befreien, in dem sie der Entführer gefangen gehalten hatte. Das Grausige dieses Geschehens hat viele Voyeure auf den Plan gerufen. Und so ist es ein nicht geringes Risiko, wenn nun der Literaturtheoretiker Rainer Just in der aktuellen Ausgabe, der Nummer 145 der Zeitschrift „Wespennest“ die Geschichte dieser Entführung aus psychoanalytischer Perspektive betrachtet und sie als missratenen „Liebesroman“ deutet. Der Wahrheitskern der romantischen Liebe, so Just, sei die gewaltsame Besitzergreifung des Anderen, die Liebe sei Gier, Gewalt und Herrschaft. Wo liegt der Unterschied zum Strasshofer Fall, fragt Just, „wenn sich Jean-Jacques Rousseau im Venedig des 18. Jahrhunderts ein elfjähriges Mädchen kauft, um es für sexuelle Zwecke großzuziehen“? Die beutegierige Vereinnahmung eines Menschenlebens durch Rousseau ist natürlich nicht besser als die Entführungs-Tat in Strasshof. Man sollte das aber nicht als gescheiterten „Liebesroman“ qualifizieren, sondern als das kennzeichnen, was es ist: als ein Verbrechen, das nach juristischen Sanktionen verlangt und nicht nach psychoanalytischer Spekulation.
Von der Vergeblichkeit menschlicher Existenz erzählen nicht nur die Philosophen und Psychoanalytiker, sondern auch die Dichter. In dem schon erwähnten „Merkur“-Essay über „nihilistische Ethik“ wird ein Grabspruch der römischen Stoiker zitiert, der angesichts der Endlichkeit der menschlichen Existenz für Gelassenheit plädiert. Dieser Grabspruch taucht auf in dem Gedicht eines eigentümlich verzauberungsbereiten Dichters, der sich selbst als Nachfahre der französischen Surrealisten sah und am Himmelfahrtstag des Jahres 2006 gestorben ist. Ich meine Christian Saalberg, den phantastischen Dichter der Vergänglichkeit, der mit traumverlorenen, eindringlichen Melodien das Wunder des Daseins und auch die Begrenzungen der Existenz besungen hat. Viele Jahrzehnte lang hat der 1926 im Riesengebirge geborene Saalberg unter seinem bürgerlichen Namen Christian Rusche das Dasein eines pflichtbewussten Juristen und Notars geführt, bis er Anfang der sechziger Jahre mit dem Gedichteschreiben begann. Sein Pseudonym Saalberg, ein Ortsname, ruft die Kindheitslandschaft des Dichters auf, jenen Ort, an dem das Sommerhaus seiner Großeltern stand. Als Saalberg im Mai 2006 starb, hatte er 23 Gedichtbände in diversen Kleinverlagen veröffentlicht, ohne dass der Literaturbetrieb davon Notiz genommen hätte. Nun hat die kleine Schweizer Literaturzeitschrift „Orte“ dem Dichter ein zauberhaftes Heft gewidmet, das nicht nur ausgewählte Gedichte und unbekannte Fotos des Autors dokumentiert, sondern auch einen kurzen Lebenslauf nebst einem wunderschönen Glossar zu den Lieblingsorten Saalbergs, verfasst von seiner Tochter Viola Rusche. In der großartigen Gedichtauswahl, die Herausgeber Werner Bucher für das Heft 145 der „Orte“ zusammengestellt hat, findet sich auch jenes Gedicht über die Vergänglichkeit, das den Grabspruch der römischen Stoiker in sich aufnimmt:
MAN SAGT, dass das wahre Leben abwesend sei.
Sucht es, wo es nicht ist. Ich kenne keinen anderen Ort.
Man sagt, dass Vergessen nur den Göttern gelingt.
Seid still.
Bin nicht gewesen, bin gewesen, bin nicht mehr.
Keine Sorge.
Man sagt, dass nur gelingt, was unvollendet
bleibt, verpasst und fallengelassen.
Ich verstehe schon.
Der September verbrennt die alten Tage.
Aus den Trümmern klaube ich mir vom Himmel
das letzte Blau.
Schminke für die Augen, wenn es graut.
Für die Wiederentdeckung vergessener Dichter ist auch die Zeitschrift „Kritische Ausgabe“ zu loben, die vor zehn Jahren als etwas hüftsteife Fachschaftszeitung am Germanistischen Institut der Universität Bonn gegründet wurde, sich mittlerweile aber zu einer inspirierten Literaturzeitschrift entwickelt hat. Im aktuellen Winterheft der „Kritischen Ausgabe“ ist man stolz, den originellen Essayisten Michael Rutschky zur Mitarbeit animiert zu haben. Die Rundreise durch deutsche Feuilletons, die Rutschky in seinem ironisch-distinkten Stil zelebriert, ist aber längst nicht so ergiebig wie seine sonstigen Arbeiten. Intellektuell mehr als entschädigt wird man aber durch die Porträts zweier völlig vergessener Schriftsteller, die im kulturkritischen Diskurs der fünfziger Jahre omnipräsent waren. Es geht um den katholischen Schriftsteller Stefan Andres und um den technik-kritischen Autor Friedrich Georg Jünger, den jüngeren und weit weniger bekannten Bruder Ernst Jüngers. Wie sein Bruder Ernst war Friedrich Georg Jünger ab 1916 Kriegsteilnehmer und beteiligte sich bis 1931 an der aggressiven nationalistischen Polemik gegen die Weimarer Republik. Im Augenblick der Machtergreifung Hitlers bezog er jedoch eine scharfe Gegenposition zu den Nazis und geißelte zum Beispiel 1934 kaum verhüllt den geistlosen „Taumel“ der neuen Machthaber. Das Erscheinen seines Hauptwerks, einer fulminanten Schrift gegen die instrumentelle Vernunft des vermeintlichen „Fortschritts“, wurde durch die Kriegs-Umstände verhindert: Bei Bombenangriffen auf Hamburg und Freiburg verbrannte 1944 das satzfertige Manuskript. Sein Buch „Die Perfektion der Technik“ konnte erst im März 1946 erscheinen und war bald wieder vergessen. Dagegen brachte es sein katholischer Kollege Stefan Andres mit seiner Erfolgs-Novelle „Wir sind Utopia“ in den sechziger Jahren zum Lesebuchautor. Aus seiner Heimat, der Pfalz, war Andres schon früh in Richtung Italien geflohen, fand aber in seinen Erinnerungen später gnädige Worte über seine Herkunftslandschaft, die Gegend bei Trier.
Ein weiterer Pfalz-Flüchtling, der von den Furien des Nihilismus gehetzt wurde und später zum Katholizismus konvertierte, war der große Dadaist und Mystiker Hugo Ball. Von ihm ist der Satz überliefert: „Wenn man das Unglück hat, in der Pfalz geboren zu werden, dann muss man immer in den Wald laufen, das ist die einzige Rettung.“ Das liefert den heutigen Pfälzer Schriftstellern das probate Stichwort, um über diesen Ort der Rettung nachzudenken – über den Wald als mythischen und sakralen Raum, aber auch als Ort des Verhängnisses. So widmet man sich im aktuellen Heft, der Nummer 18 der pfälzischen Kulturzeitschrift „Chaussée“ aus kulturhistorischer Perspektive dem Wald, der seit der Romantik entweder als Hort des Bösen oder aber als magischer Gegenkosmos interpretiert worden ist. In einem kundigen Essay von Günter Barudio und einem anrührenden Roman-Ausschnitt von Wolfgang Diehl werden die unterschiedlichen Facetten und mythischen Konnotationen des Phänomens Walds erörtert. Besonders die Kindheitserinnerungen von Wolfgang Diehl lassen den Wald noch einmal in seiner alten Verheißung auferstehen: als eine verwunschene Heimat, die real verloren ist.
MERKUR 694, Nr. 2/2007
Klett-Cotta Verlag
Mommsenstraße 27, 10629 Berlin
90 Seiten, 11 Euro
WESPENNEST, Heft 145
Rembrandtstraße 31/4, A-1020 Wien
112 Seiten, 12 Euro
ORTE, Heft 148
Rütegg 278, CH-9413 Oberegg Al
60 Seiten, 8 Euro
KRITISCHE AUSGABE, Winter 2006/2007
c/o Institut für Germanistik, Vergl. Lit.- und Kulturwisssenschaft
Am Hof 1 d, 53113 Bonn
166 Seiten, 3,50 Euro
CHAUSSÉE, Heft 18
Institur für pfälzische Geschichte /Bezirksverband Pfalz
Benzinoring 6, 67653 Kaiserslautern
128 Seiten, 4 Euro
Michael Braun 01.03.2007
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Februar 2007
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