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August 2009
BELLA tristeSinn und Formspritz
 
Zeitschriftenlese  –  August 2009
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk
Vor sieben Jahren, im Frühjahr des Jahres 2002, erhielt ich einen Brief eines damals unbekannten Lyrikers, der mir den Plan zu einem mytho-poetischen Weltgedicht vorlegte, in dem ein Seefahrer zu einer unendlichen Reise durch Schauplätze deutscher Mythologie und Geschichte aufbricht. Was der junge Autor, Uwe Tellkamp mit Namen, als Konzeption ausbreitete, war gewaltig und kühn in der Zielsetzung. Im Zentrum dieses Projekts stand das große „Argonauta argo Linné“ – ein Argonauten- und Raumschiff, das seine Passagiere an den Klippen und Strudeln der deutschen Geschichte vorbeisteuert. Der Seefahrer und sein Schiff, „Der Nautilus“ – sie sollten aufbrechen zu einer unendlichen Fahrt durch die „versunkenen Städte und die versunkene Zeit“ der deutschen Geschichte, inspiriert und unterstützt von den Stimmen aus den Weltgedichten der Literatur­geschichte, aus Dantes „Divina Commedia“ und Ezra Pounds „Cantos“.
Was ich damals zu lesen bekam, war von einer solchen sprachlichen Wucht und Suggestivität, dass man keine große Orakel-Begabung aufbringen musste, um zu ermessen, dass hier ein ungeheuer sprach­mächtiger Autor die Verse setzte.
Die Zeiten haben sich geändert, aus dem unbekannten Lyriker von 2002 ist der Verfasser des erfolg­reichsten Romans des Jahres 2008 geworden, des monumen­talen Gesellschafts- und Ent­wicklungs­romans „Der Turm“, der auf 970 Seiten die figuren­reichste und um­fassendste Darstellung der unter­gehenden DDR enthält, die je geschrieben wurde. Über 300.000 Exemplare des Romans sind bisher verkauft worden. Der Autor hetzt seither von Lesung zu Lesung; Interview­wünsche lehnt er in der Regel ab.
Nun ist es der Literatur­zeitschrift „Sinn und Form“ in ihrer aktuellen Ausgabe, der Nummer 4/2009, gelungen, den viel­beschäftigten Autor zu einem Gespräch zu bewegen. Das Gespräch hat kurioser­weise ein Na­mens­vet­ter des Ver­fassers dieser Zeit­schriften­lese geführt – für Miss­ver­ständnisse in Fragen der Urheberschaft ist also gesorgt, zumal „Sinn und Form“ in der biblio­grafischen Notiz alles durch­einander­bringt.
Das Gespräch selbst präsentiert für Tellkamp-Fans wenig Neuigkeiten zum Entstehungs­hintergrund des Romans, aber doch einige interessante Nuancen. Der Autor trägt etwa einige Differenzierungen zur DDR als Staat vor, die von den meisten Rezensenten gar nicht erkannt wurden. Was einen zum Beispiel sehr für Tellkamps Roman einnimmt, ist der Respekt, der einem beken­nenden Stalinisten wie dem Dichter Peter Hacks ent­gegen­gebracht wird, der im Buch den unaus­sprech­lichen Namen „Eschschlo­raque“ trägt, dort aber keines­wegs als arrogantes Scheusal gezeichnet wird, sondern als ironischer Feingeist.
Über den Protagonisten, den jungen Bücherfresser Christian, heißt es an einer Stelle: „Sein Vater hatte ihn zur genauen Beobachtung ange­halten….Genaue Beobachtung, stille, hingegebene Treue an die großen und kleinen Erschei­nungen der Natur; täglicher Trott und dennoch uner­müd­liches Forschen, Graben . Erstaunenkönnen.“ Damit sind auch die Tugen­den des Lyrikers und Erzählers Uwe Tellkamp benannt.
Und diese Tugenden gelten auch für das Poem „Reise zur blauen Stadt“, das von „Sinn und Form“ auszugsweise dokumentiert wird und das demnächst im Suhrkamp Verlag erscheint. Hierbei handelt es sich um ein ausge­gliedertes und wohl erheblich um­gearbeitetes Teilstück aus dem Weltpoem „Der Nautilus“. Die hier porträ­tierten Figuren sind wohl sämtlich Passagiere jenes ominösen Argonauten­schiffs, das durch die Strudel und Tiefen der mythen­getränkten Weltmeere treibt.
Neben Tellkamps Mytho-Poem präsentiert „Sinn und Form“ noch ein weiteres Weltgedicht: Es ist Inger Christensens faszinierendes Langgedicht „Gras“, das im dänischen Original bereits 1963 publiziert wurde und jetzt in der Über­setzung von Hanns Grössel vorliegt. Ähnlich wie bei Christensens Opus magnum „alphabet“ handelt es sich um eine poetische Schöpfungs­geschichte, die sich freilich nicht auf die Wört­lichkeit und Lautlichkeit der Naturdinge fokussiert, sondern in einer strömenden, fließenden Bewegung die sinnlichen Kor­respon­denzen zwischen einem resgis­trierenden Ich, seinem Geliebten und verschie­densten Weltstoffen aufzeichnet.
Um geheimnisvolle Wesen zwischen Himmel und Erde kreist ein höchst lesenswerter Essay des Schriftstellers Mirko Bonné, der in Heft 24 der Zeitschrift für junge Literatur „BELLA triste“ erschienen ist. Bonné liest und dechiffriert Gedichte, die sich mit den Flugbewegungen und Gesängen der Vögel beschäftigen. Der Vogelflug ist ja von der Dichtkunst seit altersher in eine markante Textur der poetischen Zeichen und Klänge eingeflochten worden. Von Horaz bis zu jüngeren Dichtern wie Arne Rautenberg und Hendrik Rost zieht Bonné nun seine literaturgeschichtliche Spur – und macht dabei auf bislang unbekannte Verbindungslinien aufmerksam, wie etwa die Tonspuren des amerikanischen Lyrik-Pioniers Walt Whitman in den hypnotischen Gedichten Georg Trakls. Seltsam nur, dass ein sehr be­rühm­tes Vogelflug-Gedicht in Bonnés beein­druckender Sammlung fehlt, Günter Eichs Text „Ende eines Sommers“, worin es heißt: „Dem Vogelzug vertraue ich meine Verzweiflung an. / Er mißt seinen Teil von Ewigkeit gelassen ab, / Seine Strecken / werden sichtbar im Blattwerk als dunkler Zwang, / die Bewegung der Flügel färbt die Früchte. // Es heißt Geduld zu haben. / Bald wird die Vogelschrift entsiegelt, / unter der Zunge ist der Pfennig zu schmecken.“
Zum Schluss noch ein Hinweis auf die Wieder­belebung der ver­gessenen Gattung „Kalender­geschichte“ durch den Schrift­steller Jürgen Theobaldy. Von der zarten Empirie von Johann Peter Hebels Kalender­geschichten sind wir immer noch so angerührt wie einst Walter Benjamin und Ernst Bloch, die das „Schatz­kästlein des rheinischen Haus­freundes“ als „Knigge für Heilige“ und als „Handorakel der Lebens­klugheit für kleine Leute“ anpriesen. Religiöse Erbau­ungs­geschichten findet man hier neben „gräu­lichen“ Anekdoten, in denen sich die Spezies Mensch gegenseitig mit schlimmsten Grausam­keiten zusetzt. In Heft 190 der Zeitschrift „Sprache im technischen Zeit­alter“ hat nun Jürgen Theobaldy neue Kalender­geschichten mitten aus unserer Lebenswelt des 21. Jahr­hunderts ver­öffent­licht. Die Geschichte eines völlig unauf­fälligen Mannes etwa, der mit einer qualmenden Zigarette über einen Parkplatz geht, oder die Alltags­anekdote über die Begegnung zweier sehr gegen­sätzlicher Männer in der klaustro­phobi­schen Enge eines Nah­verkehrs­busses. Es sind Geschichten ohne erlösende Pointe oder sinn­stiftendes Gleichnis – aber alle treffen auf verstörende Weise jenen Augenblick, in dem sich, wie Theobaldy an einer Stelle schreibt „dieses eine Leben gleichsam zum Tunnel verengt auf ein einziges, lang gehegtes Ziel hin, und einmal drin, so enden die Möglich­keiten, nach rechts oder nach links abzu­weichen“.
Sinn und Form, H.4/2009   externer Link
Postfach 210250, 10502 Berlin
140 Seiten, 9 Euro

BELLA triste 24 (2009)   externer Link
Moltkestr. 64, 31135 Hildesheim
120 Seiten, 5.35 Euro

Sprache im technischen Zeitalter, H. 190   externer Link
Am Sandwerder 5, 14109 Berlin
110 Seiten, 12 Euro

Michael Braun23.08.2009

Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese August 2009

Michael Braun
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