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Dezember 2006
Lose Blaetter | Heft 38Sinn und Form | 6/2006Drehpunkt | 125
 
Zeitschriftenlese  –  Dezember 2006
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk
Die größte Freiheit, die ein Schriftsteller in seiner Arbeit erleben kann, gewähren ihm jene Formen, in denen er vom Zwang zur Vollkommenheit entlastet ist: also das Arbeitsjournal, die Aufzeichnung, die Skizze oder die intime Tagebuchnotiz. Die Aufzeichnung beispielsweise hält die Unsicherheit des Vorläufigen aus, der Autor darf sich im Feld des Provisorischen bewegen, er hält einen Moment des Schreibprozesses fest, ohne verkrampft auf die endgültige, unverrückbare Gestalt einer Formulierung zu starren. Diese Art des Schreibens verhilft auch zu mehr Beweglichkeit, zu mehr kühnen Experimenten und Abschweifungen, die sich nicht vor einem Gesamtplan rechtfertigen müssen. Das Werk muss nicht endgültig fixiert werden, so bleiben die fatalen Starrkrämpfe aus, die bei Abschluss eines Schreibprozesses auftreten können und für die einst Walter Benjamin folgende Sentenz gefunden hat: „Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption.“
Wie man sich freischreiben kann von solchen Totenmasken, hat nun die Lyrikerin und Erzählerin Ursula Krechel in einem schönen poetologischen Entwurf für Heft 38 der stets lesenswerten Zeitschrift „LOSE BLÄTTER“ festgehalten. „Die Aufzeichnung“, resümiert Krechel, „ist ein Museum des Gegenwärtigen ... sie richtet sich in der gebrechlichen Zustandsverfassung der Welt ein.“ Und aus solcher Mitschrift des Gegenwärtigen, aus solchen „losen Blättern“, wie sie eben die genannte Zeitschrift sammelt, können die geistvollsten Dokumente der Welterkundung entstehen. Um zwei Beispiele zu geben: Die Aufzeichnungsbücher Elias Canettis und die „cahiers“ des Verzweiflungsphilosophen Emile Cioran sind wohl die lehrreichsten und erkenntnisbittersten Schriften zum Verhängnis des Menschseins, die im 20. Jahrhundert publiziert worden sind.
An die intellektuell überwältigende Geisteskraft des letzteren, an Emile Cioran als den Denker eines radikalen Skeptizismus erinnert der polnische Autor Adam Zagajewski im aktuellen Winterheft, der Nummer 6/2006 der Zeitschrift „SINN UND FORM“. Über der intellektuellen Biografie Ciorans liegt ja noch immer der Schatten eines Kollaborationsverdachts. Im Rumänien der dreißiger Jahre sympathisierte er offen mit der sogenannten „Eisernen Garde“, dem politisch-militärischen Vorposten des rumänischen Faschismus. Nach seiner Übersiedlung nach Paris distanzierte er sich aber von seinen deutschen Lehrmeistern, namentlich von der Philosophie Nietzsches, und wandte sich auch von den politischen Größenphantasien faschistischer Couleur ab. Die Einsicht in seine politische Verblendung hat dann seinen allumfassenden Skeptizismus befördert, der jede positive Lebensregung, ja jede Daseins-Aktivität in Frage stellte.
Einen weiteren Meister der Aufzeichnungsprosa stellt „Sinn und Form“ in einem überraschenden Fundstück vor. Gerald Sommer und Martin Brinkmann haben eine Auswahl aus den bislang unveröffentlichten Skizzenbüchern des großen österreichischen Erzählers Heimito von Doderer zusammengestellt, des literarischen Chronisten der dämonischen Menschenwelt an der Schwelle zur Moderne. Es sind Prosaskizzen von Großstadtlandschaften und Naturszenerien, kleine Selbstporträts und vor allem funkelnde existenzialistische Notate, extrem verdichtete Texturen. In einem ironischen Selbstporträt von 1927 karikiert sich Doderer als ein fahrender Ritter, der fest entschlossen ist zur Drachentötung, der aber seine heldenhafte Großtat nicht vollbringen kann. Ein bisschen lächerlich nimmt er sich schon aus, dieser fahrende Ritter, dessen blitzendes Auge „wie ein kitzelnder Degen an die Dinge“ greift. In anderen Splittern gelingen Doderer unglaublich geschliffene Miniaturen, Erinnerungsblitze, in denen das schreibende Ich das Verschlungenwerden von der Zeit imaginiert: „Da steht mein alter Vater, wie ein schwerer, liegen gebliebener Klotz, um den noch die Zeit quirlt. – Vor mir aber reisst sich das Leben wie ein Rachen auf, dem ein Strom bunter Dinge entquillt, mir entgegen, mich überschüttend.“

Ein Schriftsteller mit einer lebenslangen Passion für die monomanisch-nervöse Selbstbeobachtung und akribische Selbstreflexion war auch der vor einem Vierteljahrhundert gestorbene Peter Weiss. Die Entstehung seiner Hauptwerke, etwa seines Opus Magnum „Die Ästhetik des Widerstands“, hat er mit umfangreichen Notizbüchern und Arbeitsjournalen begleitet. Das erst kürzlich publizierte „Kopenhagener Journal“, das einige Monate des Jahres 1960 festhält, in denen Weiss gerade der Durchbruch zum erfolgreichen Suhrkamp-Autor gelungen war, dokumentiert eine fast graphomanische Selbsterkundung und quälende Introspektion bis in die letzten intimen Winkel eines Schriftstellerlebens. Mit Spannung wird nun der Briefwechsel von Weiss mit seinem Verleger Siegfried Unseld erwartet, der den nahezu unbekannten Filmemacher, Maler und Surrealisten aus Stockholm zum avantgardistischen Prosaschriftsteller aufgebaut hatte. Einen ersten Vorausblick auf die von extremen Spannungen und Krisen geprägte Korrespondenz zwischen Weiss und Unseld liefert nun Rainer Gerlach im Dezemberheft der Kulturzeitschrift „MERKUR“. Gerlach kann zeigen, wie die Rezeptionserwartungen an den Autor Weiss und dessen Selbstverständnis fast immer weit auseinanderklaffen. Kaum hatte man Weiss nach dessen Roman „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ zum großen Surrealisten stilisiert, legte er zwei eher konventionell erzählte autobiografische Romane vor. Und als er sich schließlich in den linksradikalen Dramatiker verwandelte, der den Auschwitz-Prozess auf die Bühne brachte, kühlte sich das Verhältnis zu seinem erfolgsorientierten Verleger merklich ab. Gerlach selbst spricht vom „künstlerischen Niedergang des Dramatikers Weiss“, da er nach dem dokumentarischen Stück „Die Ermittlung“ nur noch theatralische „Nachhilfestunden für Marxisten“ erteilt habe. Nur kurz streift der „Merkur“-Beitrag den Versuch von Weiss, in seinem Monumentalepos „Die Ästhetik des Widerstands“ ästhetisch-künstlerische Impulse mit politischen Imperativen in einer „Wunschbiographie“ zu synthetisieren. In diesem Buch fließen jedenfalls alle künstlerischen und politischen Interessen von Peter Weiss noch einmal zusammen: Surrealismus, analytische Betrachtung großer Kunstwerke, zeithistorische Erzählung von den Schrecken des Nationalsozialismus und radikale kommunistische Politik.

Peter Weiss ist mittlerweile schon ein halb vergessener Autor; gänzlich vergessen ist dagegen der 1986 verstorbene Münchner Erzähler Hans-Jürgen Fröhlich, der als Komponist begann und durch die Lektüre von Kafka zur Schriftstellerei bekehrt wurde. „Ich bin für nichts als das Komponieren auf die Welt gekommen“: Diesen Satz des von ihm verehrten Franz Schubert, dem er eine Biographie widmete, hat Fröhlich zur Maxime seines feinsinnig-psychologischen Schreibens gemacht. Mit dem 1967 veröffentlichten Roman „Tandelkeller“ wurde er bekannt, ein Buch, das seine Figuren in ein Kellergewölbe führt, wo verschiedene Familien Schutz suchen vor den Bomben der alliierten Luftflotten. Martin Walser verglich den Erzähler des Romans „Tandelkeller“ mit Kafka; auch die späteren Bücher wurden mit großem Respekt rezensiert. Fröhlich hatte sein Thema gefunden – seine Erzähler versuchen durch vielstimmige Strategien des Erinnerns den Verlust der Vergangenheit zu verhindern. Das Eingedenken an diesen Autor stiftet nun ausgerechnet die Leipziger Literaturzeitschrift „EDIT“, die sich ja eigentlich – so ihr Untertitel – als „Papier für neue Texte“ und Zentralorgan für junge Literatur versteht. Die junge Dramatikerin Katharina Adler hat in der Nummer 41 von „EDIT“ dem Autor des „Tandelkeller“-Romans einen hinreißenden Essay gewidmet; ein sehr persönliches Porträt, das die Intensität der Beschäftigung mit dem Werk von Hans-Jürgen Fröhlich erahnen lässt. So gelingt es „EDIT“, die mitunter lähmende Binnen-Fixierung auf „junge Literatur“ zu durchbrechen und stattdessen vom literarischen Formbewusstsein der älteren Generation zu lernen.
Die schönste literarische Elementarkunde dieser Tage verdanken wir aber der Schweizer Zeitschrift „DREHPUNKT“, die seit ihrer Gründung 1968 immer ein wenig im Schatten ihrer großen Brüder aus Deutschland stand, aber in diesem vorläufigen Bilanz-Band ein großartiges, die Phantasie stimulierendes Experiment vorlegt. 32 Autoren erstellen hier nämlich ein „ABCdarium“, ein Nachdenken und Erzählen in vielen Zungen über „die Elementarteilchen der Schrift“, also über die Buchstaben und die Satzzeichen. Es ist ganz erstaunlich, was hier Rudolf Bussmann und Martin Zingg, die nach 25 Jahren scheidenden Herausgeber, an formal facettenreichen Überraschungen zusammengetragen haben. Vom radikalphonetischen Glossarium, über die ironisch sprühende Episode bis zur sprachkritischen Meditation ist alles vertreten. Hanna Johannsen gelingt zum Beispiel das Unmögliche: nämlich in einer über mehrere Seiten sich entfaltenden Erzählung ausschließlich Wörter zu verwenden, die mit dem Buchstaben „S“ beginnen. Und tatsächlich entsteht eine kohärente Geschichte, die weit über jedes Lautspiel hinausführt. Urs Allemann gelingt etwas Ähnliches auf dem Terrain des Lyrischen: Er komprimiert „gegautschte gedichte“ aus dem Buchstaben „g“, indem er aus dem Wortbestand und dem Formenarsenal großer Dichter Gedichte bildet, deren vokabulären Einzelteile sämtlich mit „g“ beginnen. Der virtuose Erzähler Michel Mettler hat es mit dem Doppelpunkt zu tun und übersetzt das in eine seltsame Doppelungs-Erfahrung seines Helden Pippin. Der stellt sich nämlich als „mutmasslich erster Zweihutträger der Geschichte“ vor, hantiert mit zwei „riesenhaften Bakelittelefonen“ und kommt sich im Traum selbst mit zwei unangenehmen Hunden entgegen. Der stärkste Text im „Drehpunkt“-„ABCdarium“ stammt indes von Birgit Kempker. Sie hatte sich – was dieser sprachverrückten, sprachzweiflerischen Autorin sehr angemessen ist – mit dem Fragezeichen zu beschäftigen. Herausgekommen ist dabei ein sprachaggressiv wuchernder Text, der zwischen häretischem Gebet, Liebesklage, Körperphantasma und Wutschrei changiert. Der Vater, der in diesem Text angerufen wird, kann der biografische Vater des schreibenden Ich oder auch der göttliche Vater sein. Jedenfalls ist es ein Vater, der das Ich zurückgewiesen, ignoriert und missbraucht hat. Blasphemische Wut, Vater-Hass und der Schrei einer Verlorenen überlagern sich. Ein Text, der sich an keiner Stelle beruhigt und den Leser verstört: „Vater Vater warum hast du mich verlassen. Ich? Ich bin in einem Zusammenhang eingeliefert. Vater Vater wie hoch darf ich fliegen. Ich stieg etwas, dann riss ich mich zusammen und schaute in den Spiegel und wusste was mir noch fehlt die jungfräuliche Geburt ich war nun gross die unbefleckte ich war noch nicht komplett ich lachte ungläubig schon lief das Programm. Jetzt schaukel ich meinen Arm....Papa ich danke dir, dass du mich in deinem linken Schenkel aufbewahrt hast...Aus fernstem Hals heraus ergreift mich eine Kehle an der Stelle wo ich fehle. Ich singe.“

LOSE BLÄTTER, Heft 38   externer Link
Ebelingstr. 18, 10249 Berlin
36 Seiten, 1,50 Euro

SINN UND FORM, Nr. 6/2006  externer Link
Hanseatenweg 10, 10557 Berlin
132 Seiten, 9 Euro

MERKUR 692, Nr. 12/2006   externer Link
Mommsenstraße 27, 10629 Berlin
96 Seiten, 11 Euro

EDIT 41  externer Link
Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig
74 Seiten, 5 Euro

DREHPUNKT, Nr. 125   externer Link
Postfach 164, CH-4016 Basel
8 Euro

Michael Braun         13.12.2006        

Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Dezember 2006

Michael Braun
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