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Marie T. Martin

Gunther Geltinger

Mensch Engel

Auf der Suche nach dem Leben
Mensch Engel – der vielschichtige Debütroman von Gunther Geltinger

Gunther Geltinger | Mensch Engel
Gunther Geltinger
Mensch Engel
Roman
Schöffling & Co. 2008
Leonard Engel ist der, „der da im dunkelsten Winkel seiner eigenen Biografie um Einlass ins Leben bittet“, immer auf der Suche nach etwas, das ihn wirklich berührt und auf der Suche nach dem „mehr“, dass es im Leben doch geben muss. Aufgewachsen im mainfränkischen Idyll, hat er gerade das Abitur hinter sich gebracht und zudem einen Schulfreund, der ihm seine Liebe gesteht: eigentlich könnte das Leben losgehen. Aber an einem schicksals­schweren Tag geht Leonard Engel über den Fluss, der seine Kindheit ist und gleich&zeitig auch eine Trennung zwischen den Normalen und den „Psychos“, solchen, denen man früher keine Anti­depressiva gegeben hätte, „sondern die Giftspritze“. Fortan ist Engel auf der Suche nach Heilung des quälenden Brust­schmerzes und gleichzeitig unterwegs im Kampf gegen sich und alles, das wie Liebe daherkommt. Er geht nach Wien und versucht ein Studium, verzehrt sich nach einem Stricher, lebt mit einer überge­wichtigen Künstlerin zusammen, hat mehrere Psychiatrie­aufenthalte, flieht von Wien aus nach Südfrank­reich zu seiner Schwester und ihrer Familie, wo er auch nicht bleiben kann. Von dort verschlägt es ihn schließlich nach Köln, wo der heutige Erzähler lebt, der Engels Geschichte aufschreibt. Denn das Spannende an Gunther Geltingers Debütroman Mensch Engel ist die Erzähl­konstruktion, die in sich verschachtelt ist, der nicht-lineare Erzählfluss und das komplexe Verhältnis zwischen Erzähler und Figur. „Wie ich, Engel, der schreibt, diesen Typen, Engel, der geschrieben wird, hasse.“

Nur im Schreiben wird das Unmöglich möglich: Der heutige schreibende Engel trifft sein geschriebenes Alter Ego, das ihm eine Wunde zufügt. Paradoxerweise ist die Erschaffung des geschriebenen Engels aber für den Ich-Erzähler die einzige Möglichkeit, sein Leben zu bewältigen und es in verschiedenen Variationen zu erzählen. „Alle Geschichten stimmen, aber keine davon ist wahr.“

Inbrünstig und theatralisch, sprachmächtig und ohne Scheu vor Pathos wird eine Szene erzählt und kann kurz darauf gleich wieder hinterfragt werden. Ist das nicht alles völlig übertrieben und metaphernüberladen, fragt sich dann der Schreibende. So ist Mensch Engel nicht nur die Geschichte eines Leidenden, der sich von einem Suizidversuch zum nächsten hangelt, Selbst­verletzung praktiziert und sich größtenteils von Tabletten ernährt, sondern eigentlich ein Buch über das Erzählen selbst und die magische Kraft, die es entfaltet, wenn man es bis aufs Blut betreibt. Gunther Geltinger schreibt dabei in seiner völlig eigenen Sprache, losgelöst von aktuellen Moden mäandern seine Sätze durch die Kapitel. Sie tragen Personennamen und stellen die menschlichen Stationen von Leo Engels Geschichte dar. Ein Punkt, um den alle Figuren kreisen, ist Engels leidende Mutter, und so ist der Schmerz auch immer ein Schmerz darüber, die Mutter nicht getröstet zu haben.

Ein Motiv neben dem des Flusses ist die Wunde, die sich Engel an verschiedenen Stellen am Körper zufügt, die sozusagen wandert, bis nur noch ein Brustschmerz übrig ist, der „ja vielleicht doch so etwas wie Liebe ist“. Am Ende ist Engel angekommen bei Boris, einem bodenständigen Lehrer und schreibt seine Geschichte auf: Das Ende ist also der Anfang.

Mensch Engel ist ein sprachlich außergewöhnliches Debüt mit einer komplexen Erzählstruktur und einer Figur, die ihren Erzähler herausfordert, zu sprechen. „Vielleicht weißt du ja, woher sie stammen“, fragt Engel den Erzähler an einer Stelle und meint die Narben auf dem Arm. Aus dem Verhältnis zwischen der Figur Leonard Engel, die personal erzählt wird, und dem Ich-Erzähler erwächst eine Spannung, die über das gesamte Buch hindurch trägt und als Geschichte einer verzweifelten Suche nicht von ungefähr so endet: mit einem Blick in den „hohen blauen unberührbaren Himmel.“
Gunther Geltinger wurde 1974 in Erlenbach (Main) geboren und studierte Drehbuch und Filmdramaturgie an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien, anschließend Audiovisuelle Medien an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Bisher veröffentlichte er Drehbücher, Hörstücke und Prosatexte und lebt als freier Autor in Köln. 2007 wurde er mit dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln ausgezeichnet.

Marie T. Martin    19.08.2008

 

 
Marie T. Martin
Lyrik
Prosa
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