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Wilhelm Genazino
Mittelmäßiges Heimweh

Die Bescheidenheitsangeber

Wilhelm Genazino | Mittelmäßiges Heimweh
Wilhelm Genazino
Mittelmäßiges Heimweh
Roman
Carl Hanser 2007
Viel Lob und eine preisheischende Nominierung hat dem neuen Genazino-Roman Mittelmäßiges Heimweh schon kurz nach Erscheinen eine Krone aufgesetzt. Ob diese aus echtem Gold ist? Oder nur eine Faschingsmedaille? Wäre doch denkbar, dass Kritik mit dem gleichen Humor kontert, den sie so trefflich und vor allem so Genazino-typisch findet.

Vielleicht ist der Stempel vom neuen „waschechten Genazino“ mehr verkappte Kritik als Gütesiegel. Eine geheime Zeichensprache sozusagen, ähnlich jener in Arbeitszeugnissen, wo einer, der sich immer bemühte, eben einer ist, der zwar will, aber nicht kann.

Genazino jedenfalls scheint sich nicht sonderlich bemüht zu haben. Durchgehend lässt er den Leser in lieblos formulierte Sätze stapfen wie in Pfützen, die man leicht hätte umgehen können. Bis zum Überdruss dürfen wir „ein bißchen“ vom dürftig gewürzten Lebensgefühl Dieter Rotmunds kosten. Der ekelt sich, dann wird ihm schlecht; er kann lachen oder zittern, verdutzt sein und sich beruhigen, aber immer nur „ein bißchen“. Dass diese Wendung jeden noch so ernst geschriebenen Gedanken verniedlicht bis verkitscht, ist Genazino bestimmt bekannt. Es könnte also durchaus sein, dass es bewusst Teil seines eigenartigen Humors ist, wenn das „bißchen“ schon die ersten Seiten schwärzt, wie Schmeißfliegen einen frischen Kuhfladen. Darüber lachen kann nicht jeder.

Auf Seite zehn platzt vermeintlich, wie im Karneval, der Knallfrosch. „Plötzlich sehe ich unter einem der vorderen Tische ein Ohr von mir liegen. Es muß mir im Gebrüll unbemerkt abgefallen sein.“ Verwunderung zuerst, ungläubiges Staunen folgt bald. Denn wenn wir dieser Szene eine andere überstülpen, etwa die eines auf der Straße liegenden Handschuhs, dann wird klar, dass Genazino die Wirkung der Ursache vorweggenommen hat. Kein Mensch wird sein Ohr im Staub liegen sehen, sondern zunächst ein Ohr. Er wird sich wundern und sich instinktiv an die Ohren fassen. Und erst dann könnte er im Ernstfalle eine identifizierende Zuordnung zum eigenen Körperteilinventar vornehmen.

Nun gut, angesichts der ansteckenden „fünften Jahreszeit“ kann man vieles einem gewollt skurrilen Humor des Autors zuschreiben und darüber hinweglesen. Die Augenbrauen wird man trotzdem hochziehen bei der Überlegung Dieter Rotmunds, er habe noch nie einohrige Menschen gesehen. Zugegeben, gesehen wohl nicht, aber als durchschnittlich gebildeter Mensch, wie er sich selbst sieht, doch sicher von Van Gogh gehört oder von J. Paul Getty III? Nein? Schade. Dennoch ist zunächst des Lesers Interesse am weiteren Schicksal des einohrigen Finanzsachbearbeiters und späteren Finanzdirektors Dieter Rotmund geweckt. Und ähnlich wie bei Ionesco die Nashörner, sieht er bereits den nächsten Einohrigen auftauchen, bis schließlich alle nach einem mysteriösen Plan abgestraft sind und am Rande der Stadt der erste Ohrenfriedhof eröffnet werden muss.

Nichts dergleichen geschieht. Noch nicht einmal das Opfer selbst ist erschüttert wegen des Verlusts. Schlimmer noch, Dieter Rotmund lässt sein Ohr einfach im Stich und im Staub der Kneipe liegen. Er trennt sich von seinem Körperteil, als wäre es eine lästige Fliege. Sein Leben geht weiter, mit der Ungenauigkeit und Indifferenz, die auch seine Mitmenschen lähmt. Keiner bemerkt die Veränderung und auch nach der Ohrenklappe, die er fortan trägt, fragt niemand.

Auf Seite neunzig dann die nächste unheimliche Botschaft: Im Schwimmbad geht der kleine Zeh des rechten Fußes genau so unspektakulär verloren wie das Ohr. Doch der Leser weiß jetzt Bescheid und kümmert sich so wenig um den Verlust, wie der Zehenbesitzer selbst. Durch eine lapidare, fast harmlose Meldung folgt am Ende ein letzter Versuch, die Menschheit aufzurütteln oder zu verschaukeln: „lese ich in der Zeitung eine kleine Meldung über das Kind, dem gestern ein Daumen abgefallen ist.“

Der Autor hat Spuren gelegt, und es scheint nicht abwegig, dabei an die Brotkrumen zu denken, die Hänsel und Gretel ausstreuten. Doch während diese den Weg zurück ins Heil sichern sollten, führen abgefallene Ohren, Zehen und Daumen in ein Unheil, das niemand kennt und somit auch nicht ernst nimmt. Wie im Märchen oder in unglaubwürdigen Geschichten üblich. Im Falle des vorliegenden Romans verpuffen sie ins Leere.

Dies mag man als Leser bedauern, vermeiden hätte es nur der Autor können durch Sorgfalt in der sprachlichen Formulierung. Vielleicht auch müssen, wenn er das Schicksal Dieter Rotmunds ernst genommen hätte. Schon Gustave Flaubert erkannte seinerzeit die drohende Gefahr des Scheiterns, wenn Mittelmaß und trister Alltag ohne Gegengewicht zum einzigen Thema eines Buches erhoben werden. Wenn kein auktorialer Erzähler das Geschehen kommentiert, vorantreibt, wertet und die Stimme des Lesers vertritt, fällt der Sprache besonderes Gewicht zu. Das war Flaubert bewusst und er hat jahrelang an seiner Madame Bovary gefeilt.

Das Mittelmäßige Heimweh hat natürlich auch Qualitäten. Weite Passagen sind gut erzählt und irgendwann fällt auf, dass es jene sind, wo sich der Finanzdirektor Dieter Rotmund nicht mit sich selbst beschäftigt, sondern den Blick auf die anderen lenkt. Ob nun die Beziehung zu seiner Frau Edith, die Unternehmungen mit dem Kind, Betrachtungen vor dem Schaufenster des Wollstüble oder Tierbeobachtungen, sie alle bringen die Wohltat eines Leseflusses ohne sprachliche Stolpersteine oder inhaltlichen Klamauk.

Im Gegenteil, interessant sind die Wortschöpfungen, mit denen Dieter Rotmund jongliert, um sie danach an verschiedenen Stellen des Romans wie Schnipsel abzulegen. Kacksuppenabend, Sehnsuchtsverwandlungskrankheit, Schnürsenkelvorratshaltung und Tränensaugkraft. Übertroffen werden diese nur vom Bescheidenheitsangeber: „Augenblicke später bin ich mit mir unzufrieden und nenne mich einen Bescheidenheitsangeber. Damit meine ich Leute, die sich mit ihrer eigenen Bedürfnislosigkeit imponieren...“

So gesehen und die Schwächen des neuen Romans betrachtend, wäre der Alltags-Antiheld Dieter Rotmund mit seinem Schöpfer selbst wie auch mit der nominierenden Jury in bester Gesellschaft. Denn gut gedacht reicht eben nicht aus für ein gutes Buch. Er hat sich bemüht, würde im Arbeitszeugnis stehen. Wir wünschen ihm viel Erfolg beim nächsten Versuch.
Wilhelm Genazino, geboren 1943 in Mannheim, arbeitete zunächst als freier Journalist, später als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Seit 1971 ist er freier Schriftsteller. 2004 erhielt er den Georg-Büchner-Preis. Zuletzt erschienen: Die Liebesblödigkeit (Roman, 2005) und Die Belebung der toten Winkel (Frankfurter Poetikvorlesungen, 2006). Wilhelm Genazino lebt in Frankfurt.

Genazino bei Hanser (Hör- und Leseproben)

Dorothea Gilde     18.02.2007    

Dorothea Gilde
Interview