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Kafka und die Parlographin

Gabriele Weingartner  –  Die Leute aus Brody. Erzählungen

Gabriele Weingartner | Die Leute aus Brody | Verlag 'Das Wunderhorn' 2005Brody, heute eine ukrainische Kleinstadt, war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Grenzstation am nordöstlichen Rande des habsburgischen Reichs. Für Joseph Roth, der hier geboren wurde, bleibt Brody zeitlebens die unvergessene galizische Heimat. Die tragischen Helden seiner Prosa verschlägt es in kleine Dörfer. Für alle stand Brody Pate, so auch für den Titel des Bändchens Die Leute aus Brody. Fünf Erzählungen über Schriftsteller überwiegend jüdischer Herkunft, biographische Episoden, die um Franz Kafka, Carl Einstein, Robert Walser, Joseph Roth und Marcel Proust kreisen, ohne einen von ihnen in den Mittelpunkt zu stellen. Dafür blendet Gabriele Weingartner, als Schriftstellerin durch ihren Roman Bleiweiß bekannt, systematisch deren biographisches Umfeld auf: Ehefrau, Verlobte, Freunde, Bekannte.

Die Parlographin ist Felice, die jahrelang mit Franz verlobt war. Nach Entlobung und letzter Begegnung mit ihm sitzt sie im Zug zurück nach Berlin und lässt die vergangenen Jahre Revue passieren.
     Arensmeyer fährt kurz vor dem Abitur zusammen mit seinem Klassenkameraden Einstein zu einer „Vergnügungstour“ nach Straßburg. Am nächsten Tag ist er verschwunden und Einstein landet im Karzer, der „ihm derzeit der zweitliebste Aufenthaltsort im Leben“ ist.
     Frau Cassirers Brust wird Gegenstand der Betrachtungen des Dieners, der im Hause des Verlegers Cassirer bei einem Abendessen den geladenen Gästen die Speisen serviert. Wer aber ist er? Jeder namentliche Hinweis auf den Schriftsteller Robert Walser, der gemeint ist, fehlt.
     Die Leute aus Brody sind „Besucher aus einer früheren Welt“, die Josephs Frau Friedl bei ihren morgendlichen Traumreisen empfängt, wenn das Zwielicht herrscht und er auf Reisen in den Süden aufbricht. Sie bleibt allein im Hotelzimmer an der Place de l'Odéon zurück, umgeben von Gerüchen und den Geräuschen der vielen Uhren, die Joseph sammelt.
     Blicke und andere Blicke möchte ein nächtlicher Besucher auf eine junge Dame werfen. Rosalie, das Kindermädchen, hat Mühe ihren Schützling Simone aus dem Bett zu kriegen, anzukleiden und in den Salon zu bringen, wo der mysteriöse Herr wartet. Erst am Ende wissen wir, dass es Monsieur Proust ist.

Abgesehen von der ersten Erzählung, die stilistisch herausragt, machen die anderen vier eher den Eindruck, als wären ihre Figuren Stiefkinder. Man versorgt sie, aber man liebt sie nicht. Der wärmende Humor eines Daniel Kehlmann fehlt. Der Vergleich bietet sich an, wo doch hier wie dort historische Persönlichkeiten wiederbelebt und biographische Züge mit literarischer Fiktion vermischt werden. Dass der Autorin die fünf Schriftsteller am Herzen liegen, ist unbestritten. Das Herz des Lesers erreicht sie leider nicht. Allenfalls bleibt ein diffuses Gefühl der Unterlegenheit, weil Hintergrundwissen vorausgesetzt wird, das nicht jeder hat. Sollte er das?

Wenn dem so ist, hat die Erzählweise der Autorin Methode. Sie will nicht präziser werden. Der Verdacht kommt auf, sie könnte einen initiierten Leserkreis ansprechen, nach dem Muster von fachjournalistischen Betrachtungen. Auf literarischer Ebene aber sollte man Kafkas Prozess oder Das Schloss lesen können, ohne vom Briefwechsel mit Felice Bauer zu wissen. Man kann von Robert Walser als einem der großen Prosaisten des 20. Jahrhunderts gehört haben, ohne beim Namen des Verlegers Cassirer gleich an ihn zu denken. Mit dem Namen Einstein darf man Albert verbinden, ohne das Gefühl der Ignoranz zu haben, was Carl Einstein angeht, der eigentlich gemeint ist.

Nun gut, möchte man meinen, kein Problem, die Erzählungen schließen diese Lücken. Tun sie nicht. Sie bleiben in Andeutungen stecken, legen zwar eine Spur, lassen den unbedarften Leser aber anschließend raten. Im besten Falle beginnt dieser nach den Hintergründen der Geschichten zu suchen. Was ist ein Parlograph? Wer diente bei Cassirer? Wo liegt Brody? Warum gelingt es ohne diese Informationen nicht, sich für die Figuren zu erwärmen? Es bleibt der Nachgeschmack, dass es an den zu knappen Hinweisen auf die historische Wirklichkeit der Gestalten liegt. Spröde und abweisend verweigern sie sich der Annäherung, ob Zustimmung oder Ablehnung. Ob dies in der Absicht der Autorin lag, bleibt ungewiss. Zu bedauern ist es auf jeden Fall.

Gabriele Weingartner, geboren 1948 in Edenkoben, studierte Germanistik und Geschichte in Berlin und Cambridge/Mass. Sie lebt als freie Kulturjournalistin im pfälzischen St. Martin. Zuletzt erschien ihr Ost-West-Familienroman Bleiweiß (München, 2000).

Gabriele Weingartner
Die Leute aus Brody
Erzählungen
Heidelberg: Das Wunderhorn 2005

© 7.01.2006  Dorothea Gilde            Print

Dorothea Gilde
Interview