POETENLADEN - neue Literatur im Netz - Home
 
 
 
 
 
 
 
Eine schöne Reise am Fleck
Oder: Es geht uns gut.  Roman von Arno Geiger

Arno Geiger: Es geht uns gut (Roman 2005) „Er hat nie darüber nachgedacht, was es heißt, daß die Toten uns überdauern.“
    Romanbeginn und erstes Grübeln. Heißt es wirklich so? Es klingt nach einem Sprichwort oder geflügeltem Wort, doch logisch scheint es nicht zu sein. Uns überdauern bedeutet schließlich, dass auch wir nicht mehr leben. Der diesen Satz denkt, lebt aber. Philipp sitzt auf der Vortreppe zur Villa seiner Großeltern in Hietzing. Nach dem Tod der Großmutter ist er es, der das Erbe sichtet und unwillkürlich „eine Reise am Fleck“ antritt. Reise in die Vergangenheit der Familie, heraufbeschworen durch das, was die Toten mit Sicherheit eine Weile überdauert: die Dinge, die sie umgeben haben.

Philipp wird noch viele Male auf der Vortreppe sitzen, an warmen Morgen oder langen Abenden, im Regen oder bei Sonnenschein. Und immer wird er bemüht sein, die Dinge nicht an sich herankommen zu lassen. Er will sie loswerden die Gespenster, die sich aufdrängen. Ob in Form von Erinnerungen oder in Gestalt der Tauben auf dem Dachboden, „die sich hier eingenistet und alles knöchel- und knietief mit Dreck überzogen hatten, Schicht auf Schicht wie Zins und Zinseszinsen, Kot, Knochen, Maden, Mäuse, Parasiten, Krankheitserreger.“
    Die beiden Arbeiter, die er zur Sanierung des Dachbodens einstellt, sind neben seiner Freundin Johanna, die einzigen Bezugspersonen. Weil Philipp an „familiärer Unambitioniertheit“ kränkelt, wie Johanna feststellt.
     Damit ist ein Rahmen gesteckt, in dem fortschreitend die Portraits der zwei vorangegangenen Generationen gezeichnet werden: die Großeltern Alma und Richard und die Eltern Ingrid und Peter.

Mit gekonntem Hang zum psychologischen Detail gelingt es Arno Geiger, den Leser in die Erzählung mit einzubeziehen. Wenn zum Beispiel Philipps Großmutter Alma morgens aufsteht, ist das zunächst ein Akt der Alltäglichkeit: „Im Halbschlaf registriert sie das Aussickern der Finsternis und gleichzeitige Zunehmen des Lichts, das in das große Zimmer voller dunkler Möbel schlüpft. … Alma, die nie eine Langschläferin war, zieht es bei weitem vor, den Tag sehr zeitig zu beginnen. Sie mag es, wenn sie das Haus und den Garten vier Stunden für sich hat. Mit all den Geräuschen, Gerüchen, Erinnerungen.“

Durch die Gedanken, denen sie während dieses Rituals nachhängt, erzielt Geiger jedoch einen Wiedererkennungseffekt beim Leser. Es liegt nun mal in der Natur des Menschen, Sympathie zu entwickeln für jene, die seine Gedanken und Gesten teilen, und sie auf diese Weise zum scheinbar allgemeingültigen Muster werden zu lassen.
    Zwischen den Kapiteln, die von 2001 bis in die dreißiger Jahre, der Jugendzeit der Großeltern, zurückschwenken, erleben wir in kurzen Fragmenten immer wieder Philipp - auf der Vortreppe sitzend, auf Johanna wartend, mit den Arbeitern verhandelnd, wenige Male über den Zaun zu den Nachbarn lugend.

Anschließend die Geschichte seiner Mutter Ingrid, die gegen den Willen ihres Vaters Peter heiratet und mit ihm seine verkrachte Existenz an ihr eigenes Leben bindet. Auch wenn sie eine Frau der fünfziger Jahre ist, hat sich nicht viel geändert im Vergleich zum Los ihrer Mutter Alma. Diese nahm es stillschweigend hin, dass ihr Mann zum Kindermädchen in die Kammer schlich. Solcher Kummer bleibt Ingrid erspart. Dafür liegt sie in vielen Nächten einsam neben dem befriedigt schlafenden Gatten.

Die horizontale Himmelfahrt? Für Ingrid? ... Sie preßt die Schenkel auseinander, vielleicht, daß sie so, na ja, oder wenn sie sich an Peters Schenkel reibt. Doch das funktioniert nicht. Also kuschelt sie sich an Peters Schulter und schließt die Augen, hört, wie sein Herz pocht, ganz heftig, wie von einem, der schnell gerannt ist, ein Bub, der mit nachlassendem Puls über die Wiesen nach Hause geht.

Mit viel Einfühlungsvermögen begibt sich Arno Geiger immer wieder in die Gedanken- und Gefühlswelt der Frauen, ganz gleich, ob es die junge und aufmüpfige Ingrid oder, wie nachfolgend, die ältere und leidgeprüfte Alma ist: „Gedanken in der Früh tragen ziemlich weit, findet sie. Weiter als am Abend. Sie muß zugeben, daß dies eine der Ursachen ist, die sie davon abhält, Richard morgens aus dem Bett zu helfen, so schäbig ihr das manchmal vorkommt.“

Almas Eingeständnis ihrer Schäbigkeit, ihres kleinen Egoismus ist ein Beweis für Geigers genauen Blick, dem auch Ingrids wahre Beweggründe nicht entgehen, wenn dieser klar wird: „…sie hat allen Grund, ihren Eltern die kalte Schulter zu zeigen. ... Manchmal kommt es ihr vor, als ob sie vor allem aus Routine barsch und unleidig ist, damit man sie in Ruhe läßt.“ Sein Blick wird umso schärfer, je intimer die Situation, in der er die Frauen beobachtet: „Dieses embryonale Würmchen in der Klomuschel liegen zu sehen und es hinunterspülen zu müssen, weil ihr Vater gegen die Tür klopfte, wie lange sie noch gedenke, das Bad zu blockieren.“

Und wo ist Philipp geblieben? Er sitzt wohl immer noch auf seiner Vortreppe und wartet, dass Johanna ihren Mann verlässt und zu ihm zieht. Im Gegensatz zu den Frauen seiner Familie, die immer mitten drin standen, sieht er dem Leben lieber zu als selbst zu leben. „Ich beschäftige mich mit meiner Familie in genau dem Maß, wie ich finde, daß es für mich bekömmlich ist“, sagt Philipp zu Johanna am Anfang des Buches. „Schaut aus wie Nulldiät“, entgegnet Johanna boshaft, aber treffend.

Es gibt gerade in unserer Zeit genügend Romane, die sich des Familienthemas bedienen, aber nicht allen gelingt es, aus dem eigenen auch das der anderen zu machen. Wie gut, dass Arno Geiger auf Nulldiät verzichtet und uns durch seine Familiengeschichte in manchen Teilen unsere eigene vorgeführt hat.

Arno Geiger
Es geht uns gut
Roman
München: Hanser 2005

© 16.10.2005  Dorothea Gilde            

Dorothea Gilde
Interview