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Daniela Dröscher
Schiller lacht
oder vom Wunsch, Indianer zu werden
Schuld an diesem leidigen Versuch ist eine photographische Arbeit der Künstlerin Stefka Ammon. Am linken Rand des Bildes ist Winnetou abgebildet, am rechten Old Shatterhand. Zwischen ihnen, ganz klein, die Künstlerin, die belustigt und beschämt aussieht. Neben dem Bild steht die echte Stefka; der Silberblick von Pierre Brice scheint ihr unangenehm. Sie sagt: Indianer sein, Prärie, Pferde­rücken, warum hat sie das so geliebt als Kind. Sie sagt, sie habe einfach gewusst: irgendwas ist dran an dieser Sehnsucht. Also fährt sie los.

Der Apache, den sie in Mescalero, einem Reservat in New Mexico trifft, heißt Oliver. In Olivers Mobile Home steht eine Ledercouch Made in China, über die von Navajos hand­gefertigte Decken gebreitet sind. Stefka und Oliver sitzen auf dieser Couch und sehen sich die DVD „Geronimo“ an, eine Hollywood-Produktion über den gleichnamigen Häuptling, Olivers Urur­groß­vater, der vor der US-ameri­kani­schen Army floh, sich weigerte, in einem Reservat zu leben. Auf Olivers ungehaltene Frage, was genau sie hier eigentlich wolle, weiß Stefka keine Antwort. Sie kommt sich plötzlich entsetzlich lächerlich vor. Sie gesteht, dass sie das überfordert, das Kunst-Machen, dass sie eigentlich nur noch nach Hause will. Als Pfand raubt sie Oliver ein Buch. Denn sie fährt nicht ohne die Erlaubnis, wieder­kommen zu dürfen. Falls ihr doch noch eine Frage einfallen sollte.

Was hat Stefka Ammons Winnetou-Projekt mit Friedrich Schiller zu tun? Was daran reizt mich hin zu dem Versuch, Freiheit als eine „schöne Kunst“ zu betrachten? Schiller, wann immer er sich beim Schreiben „undichterisch“ fühlt oder sich „ausgeschrieben“ hat, malt kleine Pferde, „Rössle“, in seine Manuskriptseiten. Ich frage mich, was ihm dabei wohl durch den Kopf geht. Winnetou wohl kaum, die Weite der amerikanischen Prärie vielleicht schon eher. Als Schiller von Stuttgart nach Mannheim flieht, schreibt er in einem seiner Vexierbriefe, dass er in Bälde nach Amerika emigrieren werde. Hätte er sein fingiertes Wünschen in die Tat umgesetzt, vielleicht hätte es ihn ebenfalls überfordert, die Richtung der Sehnsucht verkehrt: vielleicht hätte Schiller sich schon bald nach jener „Schneckenhauswelt“ zurückgesehnt, die ihn später, in Weimar, mitunter so zu bedrücken schien.

Ein räumliches oder zeitliches ‚nicht‘ scheint jedenfalls konstitutiv für das, was man Sehnsucht nennt. Dieser Gedanke ist banal, unglamourös, mitnichten indianisch. Das liegt vielleicht zum einen an dem, was ich tue: ich denke über Kunst nach, schlimmer noch: über Literatur. Diese Tätigkeit, je professioneller und mit mehr theoretischem Sattelzeug man sie betreibt, büßt an Naivität, an Abenteuer ein. Vielleicht aber auch habe ich das Leben in der kapitalistischen „Wunschmaschine“, die allzu oft bloß kalkulierte Abenteuer produziert, vergleichsweise unpathetisch akzeptieren gelernt.

Es gibt Helden der Politik und der Kunst, deren Fluchtpunkt das Außerhalb dieser Maschine ist, und die dabei zwischen Größenwahn, Depression und Grandiosität zu schillern scheinen. Mich fasziniert diese Radikalität, doch ist sie meinem Temperament fremd. Unwillkürlich praktiziere ich in allem, was ich tue, lese und schreibe, die Kunst des japanischen amae, was soviel wie Anlehnung, Wohlwollen bedeutet (böse übersetzt heißt das Wort ‚niedlich‘ ‚affirmativ‘). Doch ich muss gestehen: Schillers heroische Prachtrhetorik ist mir fremd. Vertraut sind mir hingegen Anti-Helden, die sich, wie Melvilles Bartleby, verweigern, lakonisch in der Potenz verharren. Am vertrautesten allerdings ist mir die gänzlich unheroische Scham von Stefka Ammons Winnetou: die Scham, noch nicht einmal eine Frage, allenfalls eine diffuse, lächerliche Sehnsucht zu haben.

Wie die Sehnsucht nach Indianern bedeutet die Lust am Lesen sowohl die Gefahr des Eskapismus als auch die der narziss­tischen Aneignung: Jede Frage, die sich von einem Anderen faszinieren lässt, droht dieses Andere zugunsten des Eigenen zu verlieren, ermüdet zwischen Klischee, Komplex und Komplexität (Indianer etwa sind Opfer solcher Faszinationen). Auch zu Schiller fällt mir keine Frage ein. Vor Schiller bin ich blind, geblendet von Klischees. Nichts an Schiller geht mich an. Die Verbindung zu ihm scheint abgerissen. Abgerissen auch deshalb, weil jene Transzendenz, die Schillers Pferden ihren unsichtbaren Boden gibt, aus meiner Moderne ausgestrichen ist. Und trotzdem: ich weiß, irgendwas ist da (und sei es das leidige amae), das mich reizt, über Schiller nachzudenken. Schiller, lese ich, war stets und immer beides: Ästhet und Revolutionär. Politik und Kunst gehören für ihn strikt zusammen. Für mich selbst steht die genannte Paarung in einem wider­streitenden Verhältnis: Das Ästhetische liegt mir nah, die Revolution fern. Ich, das ist ein liberal-bürger­lich erzogenes Mädchen, das still und harmlos in seiner „Hasel­nussschale“ lebt/e. Wenn überhaupt irgendetwas je „die Milch der frommen Denkart mir verwandelt“, mich politisch werden lässt, so ist es – anders als etwa bei Wilhelm Tell – nicht so sehr die Erfahrung von Unrecht, sondern ein Wort, ein Bild, das mich in der ästhetischen Erfahrung berührt (doch vielleicht ja lässt Schiller den unpolitischen Tell nicht zufällig durch eine grausame theatrale Szene politisch werden).

Was mich den gerissenen Faden zu Schiller neu aufnehmen lässt, ist das Theater René Polleschs. Schiller ist so etwas wie der Begründer, der Ururgroßvater jener theatralen Radikalität, die auch Pollesch starrsinnig nach Freiheit suchen lässt. Ähnlich existentiell wie Schillers Schauspiel Die Räuber für das damalige Publikum gewesen sein muss, war es meine Begegnung mit Polleschs Sex nach Mae West. Die Themen dieses Stücks – Ökonomi­sierung, Post­kolonialismus, Hetero­normati­vität – prägen seit jeher mein akademisches Denken. Doch erst Polleschs theatrale Entstellung macht/e mir diese Diskurse zur „Herzens­angelegenheit.“ Dem Appell zur ökonomischen und juridischen Alphabetisierung, den die Schauspieler hier einander mit heiserer Stimme ins Gesicht brüllen, Folge leisten zu wollen, ist aber nicht nur beschwerlich, sondern auch verdächtig, denn vielleicht dient diese überfällige Politisierung lediglich als modisches Accessoire: Kapita­lis­mus­kritik ist en vogue.

Die Grenze zwischen Mode und Herzensangelegenheit ist schwer zu ziehen. Im Verschwimmen von Grenzen nisten Abgründe, die ebenso faszinierend wie bedrohlich sind. Schiller zu lesen konfrontiert mit einem solchen Abgrund. Woran ich leide, und woran auch die Schauspieler in Polleschs Stücken leiden, ist eine Leere, die in dem Verdacht gründet, dass sowohl ‚Kunst‘, ‚Freiheit‘ als auch ‚Schönheit‘ viel zu altmodische, pathetische, verbrauchte Worte sind. Laut ausgesprochen, zerfallen sie wie modrige Pilze. Und trotzdem evozieren sie noch immer Kraft. Man kann sich an ihnen, in einer Art historischem Exotismus, berauschen. So wie Schiller dies an den faulen Äpfeln tat, deren Duft ihn beim Schreiben inspirierte, seine kranken Lungen besänftigte. Den Duft dieser zu Pilzen verwandelten Äpfel also raube ich mir; anstelle einer Frage stürze ich in ein Klischee. Wahrscheinlich ist die Sehnsucht nach einer ‚eigenen‘ Frage ohnehin unsinnig. Das Fragen hat immer schon begonnen; „wer schreibt, antwortet“, heißt es bei Jean-Luc Nancy. Also: Vielleicht ja lässt sich mit Schiller über Freiheit, Kunst und Schönheit nachdenken: jenseits von bürgerlich-etablierter Kunst, deren anästhesierende Schönheit lediglich der Erzeugung von feinen Unterschieden dient, und jenseits einer subversiven Reclaim-Art, der Schönheit per se als affirmativ, verdächtig gilt.

Schiller denkt Freiheit als „Vitalkraft“. Er schreibt: Die Freiheit des Menschen lebt von der Spannung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Auch der künstlerische Schaffensprozess ist eingelassen in einen Horizont von Möglichkeiten, zugleich wird etwas wirklich. Wie aber verhält sich dieses Wirklichgewordene zur außer­ästhe­tischen Wirklichkeit? Ist es autonom? Souverän gar? Ja und nein. Schiller, der ehemalige Leibmedikus, schätzt das tätige Leben. So sehr, dass er kleinmütig wird, wie der Maler Romano, der sich von den Worten Fieskos: „Ich habe getan, was du – nur malst“ verunsichern lässt. Schiller, dem die Kunst über alles geht, lokalisiert sie konsequent im gesellschaftlichen Kontext; er selbst stellt seinem Schreiben unnachgiebig die unbequeme Frage der Legitimation. Kunst braucht solche unbequemen, garstigen Fragen, glaube ich. Und das gute Leben (auch das eine altmodische Wendung), verstanden als ein weltoffenes, selbst­bestimmtes Leben, braucht die garstigen Fragen der Kunst.

Schiller bestimmt den freien Menschen als authentischen Menschen, auch wenn ihm der Begriff des Authentischen schon verdächtig ist. Heutet mutet er gar anachronistisch an: habe ich das ‚ich‘ doch in dreifache Anführungs­zeichen zu setzen gelernt. Zeichen, mit denen ich Gesten der Authen­tifizierung vollziehen, die ich an- und ablegen kann wie ein Karnevalskostüm (ich wollte Prinzessin sein, meine Mutter aber mochte die Indianerin in mir). Ein solches Ich lässt sich sowohl unter Vorzeichen von Freiheit als auch von Repression apostrophieren: „Können wir nicht aufhören, uns permanent zu verwandeln?“ fragt eine von Ich-Metamor­phosen erschöpfte Schauspielerin in Polleschs Prater-Saga. Die Metapher des Subjekts als eine von un/sichtbaren Händen regierte Marionette ist Schiller wohlbekannt. Maßgeblich für ihn aber bleibt der Freiraum, der in dem Spiel der Fäden nistet: also die Frage der Handlungsfähigkeit oder mit Michel Foucault die Frage der „Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden.“

Schiller fasst den authentischen Menschen als einen, der „übereinstimmend mit sich selbst“ bleibt, und zugleich die Kraft besitzt, mit sich selbst einen Unterschied zu machen. Der Räuber Karl Moor ist so ein Jemand. Räuber sein heißt: das Überwachen und Strafen der äußeren und inneren Gendarme zu überlisten; auf der Grenze, zwischen Ordnung und Un­ordnung, immer wieder eine Übertretung zu wagen und dabei die „funkelnde Linie“ abzuschreiten, die Foucault als jene in sich bewegliche Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen bestimmt. Ich bin, sagt Schiller, nur dann frei, wenn ich scheitern kann. Scheitern wiederum setzt einen Willen voraus.

Schiller war ein Athlet des Willens. Nicht nur bezüglich seines Schreibens, auch bezüglich seines gebrechlichen Körpers. Ich habe eine Schwäche für diesen eisernen Willen, diese Unbescheidenheit. Zelda Fitzgerald ist so eine von mir sehr gemochte Athletin. Im Alter von siebenundzwanzig Jahren beginnt sie neuerlich, Ballett zu tanzen, um die Flapper-Lady, die Boheme, zu der sie geworden ist, aus sich zu exorzieren. Sie tanzt jeden Tag, sechzehn Stunden, sie schläft mit aus dem Bett hängenden, verpflasterten Zehen. Sie tut das mit einer konzentrierten Unnachgiebigkeit, die sie, wie Schillers Karl, zuletzt zugrunde richtet.

Diesem enthusiastischen Willen begegne ich mit Skepsis; zu leicht kann er in einen hygienisch-faschistischen Aktivismus pervertiert werden. Das Gegenteil wäre: den Willen gänzlich ablegen: Bartleby; oder gar: Tier werden? („Ein Mensch kann niemals Tier werden, er stürzt am Tier vorbei in den Abgrund“, heißt es bei Marlen Haushofer). Nicht selten plagt Schiller der Ekel vor den Grenzen seines Willens. Aber er lässt sich nicht von diesem Ekel bestimmen. Ich schätze Schillers suggestiven, enthusiastischen Trotz, „der Freiheit eine Gasse“ zu geben. Schiller fasst Freiheit als einen Kredit: ohne Ursprung, ohne Telos, pervertierbar, gefährdet; als eine Existenzkunst, die jeder Einzelne prakti­zieren können sollte. Was aber tun, wenn sich „tausende unter die Launen eines Magens krümmen, und von seinen Blähungen abhängen?“ Schiller war überzeugt, dass es dann Räuber im Inneren eines Staates braucht. Aber Schiller wusste auch um die despotischen, imperialen Aspekte, wusste, dass man Anderen seine Freiheit nicht aufpfropfen darf. Die Französische Revolution etwa begrüßte er mit gebremstem Enthusiasmus, denn er sah in ihr eine Umwälzung, die überforderte.

Was aber, wenn der Wille selbst sich als schwach erweist? Jenen Denkern zufolge, die das Phänomen der Willensschwäche leugnen, resultiert ein Wille notwendig in Handlung: Bleibt die Handlung aus, habe ich mir nur eingebildet, etwas gewollt zu haben, ich habe es nicht wirklich gewollt, sondern nur gewünscht. Diese Position verkürzt den Willen zu einem monokausalen Phänomen. Der Mensch aber ist ein nebulöses Ding, in dem sich viele Fäden schneiden und zerfransen. Auch Marionetten haben darin ihre Anmut, ihre Grazie, dass sie an Fäden gehalten werden, an Fäden des Sozialen, der Geschichte, der Materie. Diese Fäden können losschießen, sich lockern, man kann wählen, irren, scheitern. Dass der Wille dabei nie eins mit sich ist, dem Handeln weder vorausgeht noch mit ihm identisch ist, dieses Risiko, so Schiller, gilt es auszuhalten

Das Verhältnis von Wollen und Handeln ist ein schwindel­erregend kom­plexes. Nie weiß ich im Moment des Handelns, was ich ‚wirklich‘ will. Wallenstein, der Sternendeuter, ist Schillers Allegorie dieses meditativen Zauderns. Schiller selbst aber hätte den Willen als solchen nicht unter Verdacht gestellt; er denkt Freiheit konsequent vom Willen her. Polleschs Schauspieler hingegen verzweifeln daran, dass sich ihr Wollen, Wünschen, Sprechen und Handeln unauflöslich in die Logik der kapitalistischen Wunschmaschine verstrickt: bis alles unter Verdacht steht, das falsche zu sein. Die hysterische Unaufgeregtheit der Schauspieler gilt der Suche nach Selbsttechniken, die sich nicht länger an Wahrheit, sondern Wahrhaftigkeit orientieren. „Wahrheit“, schreibt Heiner Müller, „ist eine Ameisenidee. Wichtiger als Wahrheit ist Phantasie.“

Eine Ameise, die stirbt, wird umkränzt von tanzenden Eintagsfliegen. Ein Ort, der diesem flüchtigen, phantastischen Tanz aus Leben und Sterben Aufmerksamkeit gibt, ist das Theater. Wahrscheinlich ist es altmodisch, pathetisch, wenn ich sage, dass Polleschs Theater mich wahrhaftig sein lässt. Wie Agamben interessiert sich Pollesch für die Profanierung als einer Technik, Dinge nicht zu verbrauchen, sondern sie zu gebrauchen. Profanieren heißt: die Dinge aus einer sakralen Vitrine, die sie zugleich heiligt und tötet, hervorzulocken, sie antastbar zu machen. Worte wie ‚Freiheit‘, ‚Schönheit‘ und ‚Kunst‘, aber auch Menschen, Sprache, und Bilder sind solche Dinge. Polleschs Schauspieler, die frei sind, weil sie nichts mehr repräsentieren müssen, geraten in Exzesse, in denen Sprache, Bilder, Körper und Dinge einander nachjagen wie Beuys seinem nicht zu domestizierenden Kojoten.

Das Theater ist eine ungeschützt-geschützte Stätte solcher Profanierung. Schiller schreibt: „Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt.“ Ihm gilt das Theater als ein ‚anderer Raum‘, in dem die „Herzen so vieler Hunderte einem Balle gleich der Himmel und Hölle“ zugeworfen werden. Das ist genieästhetisch, vermessen. Doch teile ich mit Schiller den Glauben an den Eigensinn dieses Raumes, der es mit einer seltsamen Negativität zu tun hat. Das, was dort erscheint, entsteht aus dem Nichts und wird zu Nichts, es ist flüchtig, unwiederholbar. Aber es bildet ein Hier-und-Jetzt, das warme, lebendige Körper durchmessen. Polleschs Theater ist deshalb Herzensangelegenheit, weil es mich verstrickt, berührt, doch keinen Aufenthalt gewährt. Der Fluchtpunkt seiner Stücke liegt außerhalb des Theaterraumes. Beim Tritt auf die Straße spüre ich nicht nur die Dringlichkeit der Alphabetisierung, sondern auch die Sehnsucht nach dem, was Agamben als das „verlorene Fest“ von Sozialität reklamiert.

Was Schiller und Pollesch miteinander verbindet, ist ihre unnachgiebige Suche nach einem Kulturbegriff, der sich nicht an Verzehr, Konsum und Eigentum orientiert. Schiller sah dies kommen: dass eine auf Arbeitsteilung und Effizienz gegründete Moderne den Einzelnen verkümmern lässt. Als Gegengewicht zur Arbeit setzt Schiller die Schönheit, „durch welche man zu der Freiheit wandert.“ Schönheit, schreibt Schiller, ist „Freiheit in der Erscheinung.“ Gemeint ist damit eine Praktik, die Phänomenen, Worten und Menschen keine Ideen überstülpt, sondern ihrem Eigensinn Ideen entlockt. Genau das tut Pollesch. In seinen Inszenierungen, die Diskurse über Diskurse über Diskurse falten, klafft immer wieder etwas, das auf den Eigensinn der Dinge zeigt. Dieses etwas ist meine Freiheit, mein Winnetou, der schön ist, weil er die Dinge profaniert.

Theater braucht Raum, viel Raum, andere Räume. Ein von mir sehr gemochter Mensch baut solche Räume. Zwei Gegenstände liegen auf dem Nachttisch dieses Menschen: Ein Notizzettel, „Reclaim the Pictures“, und eine winzige Mogli-Figur aus Plastik. Manchmal glaube ich, diese dürre, zarte Figur mit der viel zu großen roten Hose ist schuld daran, dass mitunter aus dem gemochten Menschen ein mehr als gemochter Mensch zu werden droht. Und sobald ich dieses ‚mitunter‘ spüre, verwandle ich mich schnell in eine unpathe­tische Indianerin. Denn ich weiß, dass Liebe als system­stabilisierender Götze fungieren kann. Auch Schiller wusste, wie prekär es ist, den Anderen zum Bild seiner Obsession zu machen. In Kabale und Liebe wird die Beziehung zwischen Luise und Ferdinand zum Gegenstand eines „satanisch feinen“ Experiments, das sich die Logik eines narzisstisch-passionierten Liebens zu nutze macht; also die Logik von Besitz und Transparenz. Dagegen setzt Schiller eine Liebesphilosophie, die den Anderen Rätsel sein lässt, und gerade dadurch Halt verspricht in diesem viel zu großen, bodenlosen Raum, dem „trüglich wankenden Planeten.“

Ich gebe zu, ich bin gerührt, wenn die unpathetischen Schauspieler in Polleschs Stücken so zärtlich-intime Sätze durchs Mikrofon flüstern wie: „Ich habe versucht, dich zu lieben, du andere Subjektivität.“ Aber noch im selben Moment muss ich lachen. Und dann weiß ich, warum Schiller mir fremd bleibt: Schiller lacht nicht. Wie das wohl wäre, wenn Schiller lachte? Ich kann es nicht wollen, aber ich kann es mir wünschen: Dass er, einen Abend lang nur, auf diesen komischen Drehstühlen vor Polleschs Bühne Karussell mit mir fährt und Martin Wuttke mit einem lächerlichen Voodoo-Wedel in der Hand darüber lamentieren hört, dass er nie als Person, sondern stets nur als Besitzer irgendeiner Couch in irgendeiner Luxusvilla geliebt wird. Und dass er in jenes beschämte Lachen ausbricht, das an Wahrhaftiges rührt.

Und obwohl er nicht lacht, mir fremd bleibt, habe ich mich in Schiller verliebt. Ich verliebe mich leicht. Jemand sagte einmal, ich sei eine verkappte Humanistin, mein Herz eine Titanic, und also inflationär; allzu viele Moglis, Indianer, Räuber hätten dort Platz. Wenn diese Titanic überbordet, will ich schreiben, lesen. Dazu brauche ich die „Haselnussschale“, jenen Zustand, den Maurice Blanchot „die wesentliche Einsamkeit“ nennt. Das aber setzt eine relative Sicherheit voraus. Dass ich in dieser relativen Sicherheit lebe, ist auch ein Resultat der europäischen Idee. Ich schätze Europa als einen Ort, der relative Gedankenfreiheit gibt. Nicht alle dieser Gedanken aber werden Stimme, und nicht alle Stimmen werden gehört, und es braucht radikalere Stimmen als meine, um den Fetisch der Ökonomie aus Europa zu exorzieren. Ich selbst, das ist kein Räuber, das ist, wenn überhaupt, bestenfalls eine Indianerin. Als Indianer ist man stets schon außerhalb, an einem anderen Ort; oder vielmehr: an einem Nicht-Ort, den die Kunst behüten muss.

Ich bin nicht sicher, welche Frage ich Schiller überhaupt stellen würde, so ich denn eine hätte. Schillers Feinde waren vergleichsweise sichtbare, antastbare Feinde. Heute gibt es subtilere Formen des Überwachens und Strafens, neue Kriege, Terror, all das war Schiller unbekannt. Was er jedoch kannte, war die „fühllose Notwendigkeit“ des historischen Ganzen, das er in das Bild einer „verhängten Decke“ bringt; diese Decke, die ebenso undurchsichtig ist wie die Wirklichkeit, in der ich lebe. Und in der ich, eine unverwüstliche Indianerin in der naiven Kinderstirn, so handeln will, als ob Freiheit möglich sei. Vielleicht ist das Schillers Antwort auf meine nicht gestellte Frage, die wohl die gewesen sein mag, wie man heute, in und außerhalb von Kunst, noch Indianer, Räuber sein kann: indem man, lachend, einen nie bloß negativen Grenzübertritt riskiert, immer wieder, auf die Gefahr hin, früher oder später zum Klischee gebannt, verharmlost zu werden.

Oft aber liegt das Wort ‚Freiheit‘ wie ein fremdes, sakrales Ding in meinen globalisierten Händen. Zwar wehre ich mich gegen eine bequeme Empathie, „die bloße Ausleerung des Tränensacks“, die auch Schiller so verachtete. Doch schäme ich mich, eine gewisse Freiheit auf Kosten anderer zu besitzen. Anderer, die mir zumeist nur in Form von leblosen Klischees begegnen. Ich liebe Polleschs Theater, weil es Klischees zurückverwandelt, in Bilder, Worte, die meine Wahrnehmung und mein Denken berühren, den Wunsch wecken, eine Utopie von Sozialität zu entwickeln. Eine Utopie, für die nicht entscheidend ist, ob es sich bei ihr um ein Konstrukt handelt. Auf die Frage, wie ein guter Konstruktivist reagiere, wenn er erfährt, dass etwas, das ihm sehr am Herzen liegt, ein Konstrukt sei, antwortet Bruno Latour: er beginne ein Gerüst zu bauen. Angenommen, all diese Worte, die ich Schiller hier raubte, seien mehr als modrige Pilze, nämlich brauchbare Gerüste, so müsste man sie nicht nur behüten, sondern auch an ihnen rütteln können: etwa an der Gleichung von Freiheit = Demokratie. Ich sagte es bereits: Wann immer ich mir anmaße, so groß zu denken wie Schiller, irre ich umher zwischen Klischee, Komplex und Komplexität. Heraus kommt so was, das hier; und wenn ich Glück habe, nennen andere es Kunst. Und wann immer ich nicht weiter weiß, nehme ich mir die Freiheit und halte inne. Ich zeichne „Rössle“ oder beginne zu lesen, in der Hoffnung, dass mir in der Berührung mit einem Anderen eine neue, indianischere Frage begegnet.

Die Autorin erhielt für ihren Beitrag den Schiller-Essay-Preis der Stadt Weimar.

Daniela Dröscher  5.11.2008 (2005)  

 

 
Daniela Dröscher
Prosa