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Volker Sielaff
Traumdenken, große Gedichte und linke Eliten
Ein Gespräch mit Les Murray und seiner Übersetzerin Margitt Lehbert
Les Murray / Margitt Lehbert: Gedichte, groß wie Photos

 

Der australischen Dichter Les Murray las, zusammen mit seiner Überetzerin Margitt Lehbert, als Gast des Festivals „Bardinale“ im Dresdener Societätstheater. „Fredy Neptune“ heißt der Versroman Les Murrays, der vielleicht das kühnste Gedicht des 20. Jahrhunderts genannt werden darf. Aus „Fredy Neptune“ las der Dichter an diesem Abend jedoch nicht, sondern Gedichte aus seinen anderen beiden Büchern, die auf Deutsch erschienen sind: „Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen“ (Hanser Verlag, 2003) und „Traumbabwe“ (Ammann Verlag, 2005). Am nächsten Morgen ergab sich die Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch mit Les Murray und Margitt Lehbert im Hotel „Backstage“ in der Prießnitzstraße. Nach dem Frühstück fuhr ich mit beiden in die Altstadt, an ein paar Orte Fredy Neptunes. Dazwischen stellte ich einige Fragen. Das ist alles. Dieses Gespräch, das hier wiedergegeben wird, will also weder das Werk des großen Dichters, das jeder für sich selbst entdecken möge, erklären, noch erhebt es Anspruch auf irgendeine Art von Vollständigkeit. Eher soll es Notiz, Mitschrift einer Begegnung sein, die ebenda stattgefunden hat.


Les Murray
Heilige Kühe
Holy Cows
Edition Rugerup 2006
Volker Sielaff: Les Murray, Sie sind 1938 in Bunyah, New South Wales geboren. Dieser Ort spielt eine wichtige Rolle in Ihrer Poesie. Wie sieht es dort aus?
Les Murray: Bunyah ist ein weites Tal, mit Vieh und Pferden, 250 Kilometer nördlich von Sydney. Wir waren alle Milchfarmer, aber die meisten dieser Farmen sind später zugrunde gegangen. Heute sind viele Leute Angestellte in den Läden der umliegenden Städte. Oder sie treiben Vieh. Züchten Pferde. Es gibt auch viele Neuankömmlinge aus den Städten, aber die kommen, gehen in fünf Jahren pleite, und verschwinden wieder. Sie wissen alles, und kennen niemanden. Die Luft in Bunyah ist klar und trocken. Der Himmel kann staubig werden, dann ist ein Regenguß gut, um die Luft zu klären.
V. Sielaff: In der australischen Dichtung sind die elementaren Kräfte allgegenwärtig. Man lebt mit der Natur, nicht gegen sie, jedenfalls scheint mir das so. Welche Bedeutung hat diese Allgegenwart der Natur für einen australischen Dichter? Führt das direkt zu einer Ethik?
L. Murray: Lange Zeit war das so, ja. Aber in meiner Generation hat man gedacht, man müsse ein Metropolenleben entwickeln und raffiniert werden. Was da geschah, war eine soziale Klitterung, im geistigen Sinne. Sehen Sie, ich habe zwanzig Jahre in Sydney verbracht, und keine Nacht habe ich mir gesagt: hier bin ich zuhause. Aber in Bunyah, da fühle ich mich zuhause.
V. Sielaff: Ihre Vorfahren sind schottische Einwanderer?
L. Murray: Ja, schottische, englische, irische. Die Familie meines Vaters kam aus dem extremen Süden Schottlands, im Jahre 1848. Sie siedelten am Manning, einem Fluß in New South Wales und begannen eine Karriere von Farmern und Säufern. Diese Leute heirateten dann entweder ihre Cousinen oder irische Mädchen von rinsherum. Mein Vater heiratete eine Frau aus Newcastle, was damals sehr fortschrittlich war, denn Newcastle liegt 100 Kilometer entfernt und war gewissermaßen Fremde. Diese Frau starb im Alter von nur fünfunddreißig Jahren nach einer Fehlgeburt.
V. Sielaff: Sie haben Ihrer Mutter zwei Gedichte gewidmet, eines davon, „Gewichte“ (Weights), kann man, in der Übersetzung von Margitt Lehbert, in dem Band „Hochzeit der Elemente“ finden. Es endet mit den Zeilen: „Damals wußte ich nicht, / nicht für viele Jahre, was es war, / nach mir, was sie nicht tragen konnte.“
L. Murray: Ja. Meine Eltern erlebten eine doppelte Tragödie. Mein Vater kam mit meinem Großvater nicht gut aus, weil dieser ihn absichtlich arm gehalten hat. Ich bin das älteste und einzige Kind. Alle anderen Schwangerschaften meiner Mutter waren Fehlgeburten.
V. Sielaff: Ihr Gedicht „Dichtung und Religion“ beginnt mit den Zeilen: „Religionen sind Gedichte. Sie bringen / unseren Tages- und Traumgeist in Einklang“. In einem anderen Gedicht sprechen Sie von „Tageslichtlogik“ und „Tageslichtdenken“...
L. Murray: ...und Traumlogik und Traumdenken. Beide Dimensionen müssen in einem Gedicht gegenwärtig sein. Sie gehören zusammen.
V. Sielaff: Aber was meinen Sie genau mit Tages- und Traumgeist? Können Sie das etwas näher erläutern?
L. Murray: Wir sind wach. Und wir denken im Tageslichtmodus. Aber wir haben in der Nacht geträumt. Mehrmals wahrscheinlich. So haben wir im Träumen ein Traumbewußtsein erlangt, das über den Tag hinweg weiterbesteht. Es ist da, aber unbewußt. Es ist unbewußt, unter dem Tageslichtdenken, doch vorhanden. Jedes menschliche Schaffen ist zugleich halbgeträumt und halbgedacht. Ich frage mich fast immer: welches Gedicht bewohnst du? Es gibt Gedichte, die aufgeschrieben werden. Diese haben immer einen Schluß. Sie sind sozusagen komplett. Und es gibt die anderen, großen Gedichte des Lebens, die man meist nicht als Gedichte ansieht. Meistens sind sie harmlos. Aber nicht immer. Das Hitler-Gedicht ist nicht harmlos. Ich frage mich immer, wieviele Menschenopfer ein bestimmtes Gedicht verlangt. Und wir sollten uns versichern, daß die Poesie keine Menschenopfer verlangt.
V. Sielaff: Und auch keine Tieropfer. Viele Ihrer Tiergedichte sind Rollengedichte, in denen das lyrische Ich ein Tier ist...
L. Murray: ...Ich ist ein Charakter...
V. Sielaff: ...und in Ihrem Gedicht „Das gegenwärtige Abschlachten verwilderter Tiere“ heißt es: „Es scheint, daß die gnadenlose menschliche Umordnung / der gesamten Welt kein grünes Ende nehmen wird.“ Was war der Anlaß für Sie, dieses Gedicht zu schreiben.
L. Murray: Ja, man hat unbarmherzig wilde Esel, Pferde und Büffel abgeschlachtet, weil sie keine eingeborenen, keine heimischen Tiere waren. Das habe ich als so falsch und grausam empfunden. Im übrigen führte das Abschlachten der Tiere auch nicht zu dem erwarteten Ergebnis. Man findet nie alle Tiere, und sie kommen zurück.
V. Sielaff: Zu einem anderen Thema: lesen Sie europäische Gedichte? Welche Autoren sind Ihnen da wichtig?
L. Murray: Mein Lieblingsautor in der europäischen Dichtung ist Hesiod. Er war ein Farmer, das ist mir also sympathisch. In Deutschland ist die Dichtung seit dem zweiten Weltkrieg etwas uniform geworden. Ich habe ein paar von Friedrich Georg Jüngers Gedichten übersetzt. Nicht viele. Aber seine Generation erscheint mir interessanter als die, die danach kam.
V. Sielaff: Ernst Jüngers Bruder...
L. Murray: Ja, aber Friedrich Georg ist mir lieber. Ernst Jüngers Geist trägt oftmals Uniform. Mein Geist trägt die Klamotten, die Du siehst.
V. Sielaff: Sie sind auch kein Freund akademischer Gedichte. In einem Aufsatz, der soeben in dem Band „Wohin geht das Gedicht“ im Wallstein Verlag erschienen ist, sprechen Sie von einer „Umklammerung durch diesen Intellektuellenzirkel“, welcher nur darauf aus sei, die „Eitelkeiten einer neuen Elite“ zu befriedigen.
L. Murray: Ich bin kein Freund der Akademien, wenn sie nur als politische Institution auftreten, wie sie das seit den 60er Jahren häufig tun. Mein Feind ist das Jahr Achtundsechzig, als die Politik begann, herrschsüchtig zu werden. Man versuchte, meine Gedichte dem großen Gedicht des Marxismus zuzuordnen, was mir nicht gefiel. So wurde ich hartnäckig und störrisch. Das ist ein Teil meiner Unruhe mit der akademischen Kritik.
V. Sielaff: Die Achtundsechziger in der Politik waren große Selbstdarsteller. Viel Verpackung, wenig Inhalt.
L. Murray: Wir hatten nach Achtundsechzig ein Klassenphänomen. Eine neue Aristokratie beherrschte die Kultur und die australische Masse, und das war eine linke Aristokratie.
Margitt Lehbert: Ich habe gerade „Am Beispiel meines Bruders“ von Uwe Timm gelesen. Er gibt in diesem Buch einige Erklärungen für dieses Phänomen, erhellt Hintergründe und sagt, woher die Achtundsechziger sozusagen kommen. Er tut das mit viel Gespür, sehr feinsinnig. Aber ich wollte mich nicht in das Gespräch drängen...
V. Sielaff: Nein, nein, das gefällt mir jetzt ganz gut. Lassen Sie uns doch noch einmal über die Geschichte Ihres Zusammentreffens mit dem Werk Les Murrays sprechen. 1996 erschien im Hanser-Verlag eine erste deutschsprachige Ausgabe der Gedichte Les Murrays. In ihrer Übersetzung. Wie kam es dazu?
M. Lehbert: Vor zwölf Jahren schickte mich der Berliner Senat nach Australien, um mit Les Murray an Übersetzungen zu arbeiten. Ich schrieb an Les einen Brief, um ihn zu bitten, für mich in der Nähe ein Hotelzimmer für drei oder vier Wochen zu buchen. Nachdem seine Familie genügend über meinen Witz gelacht hatte, schrieben sie mir, daß ich gern bei ihnen wohnen könne, denn in Bunyah gibt es weit und breit keine Hotels. Wir haben uns dann schnell angefreundet und für mich war es sehr nützlich, Bunyah kennenzulernen, weil man natürlich Verse auch genauer und bildlicher übersetzen kann, wenn man eine Vorstellung von dem hat, wovon die Rede ist. Als ich zu Les Murray reiste, hatte ich bereits ein Jahr an dem Buch gearbeitet. Ich hatte sogar schon eine Auswahl getroffen, wollte aber natürlich auch wissen, welche Gedichte Les besonders wichtig fand.
V. Sielaff: Wie kommunizierten Sie nach ihrer Reise, als Sie wieder zurück in Schweden waren?
M. Lehbert: Anfangs hatte Les noch kein Fax und es dauerte alles sehr lange. Ich schickte ihm lange Briefe mit Fragen zu den Gedichten und meinen Übersetzungen. Später schrieb ich dann meine Fragen auf die Seite mit dem Gedicht, die ich ihm dann zu faxen versuchte. Meist klappte das aber nicht, und ich schrieb doch wieder einen Brief.
Les Murray | Fredy Neptune
Les Murray
Fredy Neptun
Ammann 2004
V. Sielaff: Les Murray, Ihr Versroman "Fredy Neptune", der im vergangenen Jahr, in der Übersetzung von Thomas Eichhorn, auf Deutsch herausgekommen ist, führt den Leser auch nach Dresden. Es heißt dort: "Dann flogen wir nach Dresden, und ich kriegte Urlaub, / um meine Mutter zu besuchen. Es war die allerschönste Stadt, die ich / jemals gesehen hab." Es ist das Jahr 1932 und die Stadt erscheint Fredy "strahlend von Glas und Geld". Es ist das Dresden vor der Zerstörung. Wann waren Sie zum ersten Mal in Dresden?
L. Murray: 1993. Ich habe mir einiges angesehen und gemerkt, um es später vielleicht zu verwenden. Es war das Jahr, in dem ich mit "Fredy Neptune" begonnen habe. Einige Zeit nach der Reise. Dresden ist seitdem sehr anders geworden. Es hat sich entwickelt, in beiden Sinnen...
V. Sielaff: Was ist Ihnen aufgefallen?
L. Murray: Glasbauten. Nicht besonders schön. Die Ruinen von damals scheinen ziemlich gut restauriert. So scheint es mir aus der Entfernung. Aber gleich werde ich sie ja aus der Nähe sehen...
V. Sielaff: Ja, brechen wir auf. Ich danke Ihnen beiden für das Gespräch.

Volker Sielaff    31.01.2007

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