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Axel Helbig

Annäherung an das Unsagbare
33 Verführungen zur Literatur der Moderne

Von Rausch und Revolte der Moderne

Axel Helbig | Annäherung an das Unsagbare
Axel Helbig
Annäherung an das Unsagbare
Edition Erata, 2006
„Ich habe beschlossen, Ihnen eine Stunde in neuer Literatur zu geben“, schreibt Arthur Rimbaud an Paul Demeny in einem seiner beiden später berühmt gewordenen Seher-Briefe. Für die Lektüre von Axel Helbigs Buch Annäherung an das Unsagbare wird der Leser wohl etwas mehr Zeit einplanen müssen, aber gleichwohl beschäftigen sich die, wie es im Untertitel heißt, 33 Verführungen zur Literatur der Moderne mit nichts wesentlich anderem als dem, was einer der frühesten Dichter der Moderne in seinen hitzigen Briefen schon einmal zu entwerfen versuchte: die Idee einer Poesie fern der überkommenen Formen, die ins Unbekannte vorzudringen versuchte und sich nicht darin erschöpfte, das ewige Lied immer neu anzustimmen. „Von Griechenland bis zur romantischen Bewegung – das ganze Mittelalter hindurch – gibt es nur Gebildete, Versemacher“, wetterte Rimbaud. Nein, dieser Dichter wollte es anders. Intuitiver, berauschender. Er wollte ins innerste Innen der menschlichen Erfahrung und letztlich seiner selbst gelangen, dorthin, wo noch kein Dichter vor ihm je gewesen war. Zur Entfesselung aller Sinne trieb es ihn und nach ihm noch eine ganze Reihe anderer, deren Schicksalen Axel Helbig in seinem Buch genau und kenntnisreich nachspürt. Sie alle sind am Ende „Nervenkünstler“, nicht geeignet für den hohen Sockel der Klassizität.

Schon einige Titel dieser 33 Verführungen werfen ein Licht auf die Fragilität moderner Dichter-Personae. So führt Helbig in Bezug auf Ezra Pound aus, daß dessen Peronae auch eine „Projektion nach Innen, in den Kern stärkster Verletzlichkeit“ sind. „Pound rückte ganze Erdteile der Literatur in das Bewußtsein der Moderne.“ Im Gegensatz zu Rimbaud hat Pound die überkommene Dichtung nie abgelehnt, sondern für sich fruchtbar gemacht. Das ironisch-direkte in manchen seiner Verse etwa kommt von Catull, den er außerordentlich schätzte. Schwierigkeiten mit seiner Identität hatte freilich auch Pound, und so mußte er sich einen Rollenvorrat für seine Dichtungen verschaffen, aus denen später das imposante Werk der Cantos erwuchs. Helbig: „Der Dichter wird Medium, durch das die Dinge hindurchziehen. Er tritt uns in der Person des Odysseus entgegen, ist uns zugleich Sordello, Sigismundo, Acoetes, Actaeon, Vidal und Dante, nimmt aber auch tierische Gestalt an, wird Eidechse, Elster oder Ameise, wird der Gott Proteus selbst.“ Ein anderer, der die Tradition schätzte und doch zu einem der wichtigsten Erneuerer derselben wurde, war der Italiener Giuseppe Ungaretti, dem Helbig einen brillanten Text widmet, in dem Leben und Literatur eins werden: „Es ist Sprachfindung“, heißt es über Ungarettis Schreiben, „und zugleich ein Prozeß des Erleidens – Atem, Lauschen, Anschlagen von Sprach-Saiten, um den Widerhall eines reinen Tons zu erreichen.“ Das Unsagbare, bei Ungaretti, diesem Meister der Verknappung, erfüllt es sich im „einzigartigen Gebrauch des Raumes“ und des „weißgelassenen Papiers“.

Auch Rausch und Revolte sind Spielfiguren der Moderne und zugleich mitunter ihre realen Tatbestände. Der eine findet seinen Rausch im Lästern und Fluchen, wie der heute fast vergessene Jakob Haringer, im Eisenbahnzug kurz vor Dresden geboren, ein „Sachse durch Zufall“, wie Helbig augenzwinkernd vermerkt. Der andere im Ritual des Feierlichen, im Mysterium. Ausforschung der Mysterien, so heißt der Aufsatz über den Dichter und Diplomaten Saint-John Perse, der 1960 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Als „Eroberer, Gründer, ruhelos Fortgetriebener“ tritt er mit den Mysterien in Berührung.

Ein dritter schließlich widmet sich den „echten Drogen“. Als Reiseschriftsteller angetreten, begab sich der Belgier Henri Michaux bald auch auf eine „Reise zur Erforschung des Meskalins“. Sechs Jahre lang experimentierte er unter ärztlicher Kontrolle mit dieser kultischen Rauschpflanze der mexikanischen Indianer. „Diese Protokolle“, so Helbig, „sind keine Dichtung, sie sind Berichte eines Erschrockenen.“

Neben diesen exzessiven Temperamenten stehen jene, die sich der Öffentlichkeit nahezu ganz verweigern, die weit entfernt sind von den Erfindern der großen Bewegungen der Moderne, dem Dada und dem Surrealismus, denen Helbig in seinem Buch natürlich ihren gebührenden Platz anweist: als revoltierende Selbsterfinder (Schwitters), Zaubermeister des Unbewußten (Breton) oder sympathische Nonkonformisten (Soupault). Die anderen, nennen wir sie die großen Stillen der Moderne, das sind beispielsweise Bove und Beckett. Der eine bis heute als Geheimtip geführt, der andere, trotz seines öffentlichkeitsscheuen Wesens, weltberühmt. Nicht einmal seinen Nobelpreis soll der hagere Ire selbst abgeholt haben. Mehr noch, er war in der Zeit der Preisauslobung tagelang nicht erreichbar. Emmanuel Bove hingegen mußte sich nicht verstecken, ihn kannte sowieso keiner. Er hatte „die Heimatlosigkeit seiner Helden an sich selbst erfahren.“ Als einen Mann in Grau und sehr diskret beschreibt Helbig den heute noch kaum gelesenen Autor, dem Peter Handke bereits 1981 mit einer ersten Übersetzung seines Buches Mes amis ins Deutsche wieder zu mehr Bekanntheit zu verhelfen suchte. Seine Vorliebe für Außenseiter teilte Beckett übrigens mit dem von ihm sehr geschätzten Bove, dessen Helden dazu gezwungen sind, sich Phantasieräume in ihrem Innern zu erfinden, weil ihre äußere Wirklichkeit eben so trist ist. „Boves Figuren leben im Schutzbereich ihrer Phantasie“, skizziert Helbig mit wenigen Worten die Situation dieser „bovianischen Flaneure“.

Überhaupt ist dieses knappe, äußerst präzise Festhalten typischer Momente einer Dichterfigur die große Stärke des Autors Axel Helbig, dessen Vorliebe für die französischsprachige Literatur dem aufmerksamen Leser dieses Buches nicht verborgen bleiben dürfte. Jeder seiner Aufsätze darf fernerhin als eine Nagelprobe auf das Diktum Walter Muschgs betrachtet werden, welcher von den Dichtern, mit denen er zu tun hatte, etwas „Unmögliches“ forderte: die absolute Einheit von Leben und Werk. Ob hier zugleich die Ethik des Autors dieser dreiunddreißig wahrhaft ermunternden Verführungen zu einer Lektüre der Literatur der Moderne aufblitzt? Mit Hans Henny Jahnn und Heinrich Böll sind in der Sammlung zumindest zwei Autoren vertreten, die auf ihre je eigene Weise versuchten, auch außerhalb des weißen Papiers auf ihre Zeit einzuwirken. Es dürfte dabei nicht uninteressant sein zu beobachten, daß die meisten Dichter in ihrem Wesenskern sowieso mehr oder minder scharfe Kritiker der Geldgesellschaft waren. So fragte Hans Arp polemisch, ob es jemals „ein größeres Schwein gegeben habe als den Menschen, der den Ausdruck ‚Zeit ist Geld‘ erfunden hat“. Und Hans Henny Jahnn kam zu dem Schluß: „Das uns Nötigste, Muße, ist uns abhanden gekommen“.

Mit diesem Buch kann man sie wiederfinden. Indes ist sein Autor keiner, der im Übermaß urteilt. Eher ist Axel Helbig ein Anverwandler, ein leidenschaftlicher Leser. Seine prägnanten Aufsätze zur Literatur der Moderne jedenfalls setzen beides ins Recht: das Leben und das Werk dieser dreiunddreißig Autoren, die wiedergelesen werden wollen.
Axel Helbig, Jahrgang 1955, lebt als Autor und Herausgeber in Dresden. Er ist Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift für Literatur und Kunst Ostragehege. Axel Helbigs Beitrag über Günter Bruno Fuchs im Poetenladen: Schwarzes Konfetti eines Eulenspiegels.

Volker Sielaff     26.10.2006

Volker Sielaff
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