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Valeria Parrella

Die Zeit des Wartens

Zwischen Kopf und Zahl

Kritik
  Valeria Parrella
Zeit des Wartens
Roman
C. Bertelsmann Verlag 2009
128 Seiten; 14,95 €


„Ich denke nach, was der Gynäkologe mir an dem Abend sagte, als ich eingeliefert wurde.“ „Und was hast Du geantwortet?“ – „Genau das ist der Punkt: Morgens um sechs korrigiere ich meine Antwort.“

Jeder kennt das: Was hätte ich antworten sollen? Und so ver­strickt man sich in Tagträumereien, Fiktionen und flieht mögli­cher­weise zu ihnen. Bei Maria, der 42jährigen Erzählerin in Valeria Parrellas neuem Buch „Zeit des Wartens“, wäre das zunächst nichts Unge­wöhnliches: Angezogen von dem Klostergebäude der Philo­logi­schen Fakultät, beginnt das Arbeiterkind in den 70er Jahren ein Studium, um sich noch intensiver in Bücher zu versenken. Bis 42 lebt sie ihr Leben in Neapel als Italienisch­lehrerin für Migranten und Schüler auf dem zweiten Bildungsweg. Dann wird sie schwanger, der Vater des Kindes ist fort, und man könnte denken, die Träumereien und Unsicher­heiten des Lebens machen Struktur und Verantwortung Platz; einer Ent­scheidung für etwas. Das Kind wird zwei Monate zu früh geboren: Von Ma­schinen versorgt, vegetiert es zwischen Leben und Tod vor sich hin, und die Mutter ist gezwungen, während dieser Phase zwischen Leben und Tod auf der Intensiv­station auszuharren – 40 Tage lang, elf Stunden täglich.

Die studierte Literatur­wissen­schaft­lerin Maria findet im Prolog des Romans auf ihrem Hals keinen Kopf mehr vor, sondern eine Münze, die sich dreht und dreht und nicht zu Boden fällt. Aber anders als im Werk Dantes, bei dem sie jede Bedeu­tung genau kennt, findet sie keinen Zugang zu dieser Allegorie und betritt „Den Leeraum“, den Hauptteil des Buches. Dort faltet sich unter dem Lebens­rhythmus, der von elf Stunden Krankenhaus und einer wachsenden Zahl Zigaretten pro Tag bestimmt ist, ihr Leben noch einmal auf. In der Auseinander­setzung mit den Eltern wird der Roman auch zu einem Generations­bildnis. Zwischen den Eltern reflektiert Maria, die sich weder Mutter noch werdende Mutter nennen kann ihr Leben: da steht der Vater, der als überzeugter Kommunist oft solange streikte, bis die Familie kaum noch etwas zu essen hatte und auf der anderen Seite die Mutter, die nicht Auto fahren kann und in der hintersten Schublade immer noch Kruzifix und Heiligenbild aufbewahrt.

Zentrum des Geschehens ist die Stadt Neapel, in der Maria, die Ich-Erzählerin, vor allem die ärmeren Randbezirke schildert, in der ihre Schüler leben. Wer die Stadt nicht kennt, kann sicher mit den zahlreichen Orten, die genannt werden, wenig anfangen. Man findet sich dennoch zurecht: Sind viele Orte in den Städten der Gegenwart doch übertragbar geworden.

Für Maria gibt es in der Stadt vor allem Krankenhaus und Schule. Sie lernt auf der Intensiv­station andere kennen, die ebenso darauf hoffen, Eltern zu werden, und bereitet eigentlich ihre Schüler auf die Abschlussprüfung vor. Maria kämpft mit der „Zeit des Wartens“ und mit der Sprache, der exakten Fachsprache der Medizin, die dennoch nur Wahr­schein­lichkeits­aus­sagen machen kann. Dann mit der Sprachlosigkeit, des noch nicht ganz geborenen Kindes und mit der Sprache ihrer Schüler, besonders ihres Lieblings­schülers Gaetano, dem sie das Schreiben beigebracht hat.

Es geht in diesem kurzen Roman, der sich auch ohne atemberaubende Spannung gut lesen lässt, um viel mehr als um die schwierige Geburt eines Kindes. Vielleicht auch um die Frage, ob es überhaupt um mehr gehen kann. So stammt das Motto des Buches aus Borges' Golem, und die Erzählerin denkt darüber nach, dass ihr die Forschung oder andere wissenschaftliche Annäherung genauso wenig nützt, „wie die Möglichkeit, einem Simulacrum zum Leben oder zum Tod zu verhelfen, indem [sie] ihm den Namen Gottes unter die Zunge“ legt. Den Ratschlägen der Krankenhaus­psychologin erwidert sie, dass man das Konzept des „Du“ erst mal neu überdenken müsse. Der entzauberten sterilen Welt der Medizin kann Maria die Literatur entgegensetzten. Anstatt daran zu denken, dass ein Frühchen mithilfe von Schläuchen und profaner Musiktherapie am Leben erhalten wird, baut sie den Golem in ihre Metaphern ein, dem mit Sprache das Leben eingehaucht wurde. Auch die Zahlen lassen einen aufhorchen: In den drei Teilen des Buches wartet die Dante-Leserin Maria vierzig Tage und gibt dem Gynäkologen neun fiktive antworten. Die zehnte ist Wiederholung einer Realität um die im leeren Raum gefochten wird.

So lässt sich der Roman, der einen schnell, aber sanft in das Leben der Protagonistin einführt, flüssig lesen. Neben Neapel und dem ungewöhnlichen Raum der neonatologischen Intensivstation eröffnet sich auf den knapp 130 Seiten eine große Tiefe, in der Themen wie Sprache, Schrift und Zeit vor der gewichtigen Kulisse von Leben und Tod befragt werden.
Valeria Parrella wurde 1974 in Neapel geboren, wo sie auch lebt. Sie studierte Sprachwissenschaften und arbeitete als Buchhändlerin. 2004 erschien der Erzählband Die Signora, die ich werden wollte, für den sie den Premio Campiello für das beste Debüt erhielt. Zuletzt erschien der Erzählband Der erfundene Freund, der auf die Shortlist des Premio Strega kam. Zeit des Wartens erschien 2008 in Italien und wurde von Presse und Publikum sehr positiv aufgenommen.
Tillmann Severin  20.08.2009  
Tilmann Severin
Prosa
GO. Projekt 60