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Andreas Maier
Sanssouci

Im Lustgarten von Sanssouci
Kritik
  Andreas Maier
Sanssouci
Roman
Suhrkamp 2009
303 Seiten, 19.80 Euro


„Für Anni Schmidt war der westdeutsche Regisseur ein sehr angenehmer Nachbar gewesen.“ Soviel erfahren wir im ersten Satz über Hornung, der zu Anfang des Romans Sanssouci in Frankfurt beerdigt wird; vielmehr aber auch bis zum Schluss nicht.

Die Trauergemeinde, unter der es beim Leichenschmaus fast schon zum Skandal kommt, ist für den Roman symptomatisch. „… denn in der Versammlung herrschte ein großes Durcheinander, und die meisten wussten gar nicht, weshalb man überhaupt zusammengekommen war“, heißt es im Motto des Romans, das der Apostelgeschichte entnommen ist. Nachdem Hornung in Frankfurt beerdigt ist, reisen die Trauernden nach Potsdam, seinem letzten Wohn- und Arbeitsort. Dorthin verfolgt auch der Leser das dostojewskijhafte Stimmengewirr, das hier in eine Er­zähler­stimme kondensiert ist.

In Hornungs Fernsehserie, die er bis zu seinem Tod drehte, heißt Potsdam Oststadt. Wie fiktiver und realer Name ähnlich klingen, verhalten sich Serie und Stadt zueinander. Die Potsdamer spielen sich selbst – aber nicht ganz sich selbst – so, wie Potsdam zu Oststadt verzerrt wird. Die Öffentlichkeit der Stadt wird als öffentliches Fernsehspektakel verdoppelt. Das wären schon genügend Zutaten für einen Maier-Roman. Doch die Doppelung zieht sich durch alle Bereiche des Leben im Roman: Öffentlichkeit, Privatleben und schließlich den doppelbödigen Garten von Sanssouci mit seinen Kellern. Selbst die Charaktere sind undurchschaubar mehrdeutig. „Und dann gibt es das private Privatleben, das gar nicht öffentliche. Da gibt es dann nur noch Mitwisser.“ Diesem Phänomen geht der Roman auf den Grund, an dem sich das Netz von Mitwissern entspinnt.

Zentrum des Spinnennetzes, dessen Fäden von dem toten Hornung nicht nur zusammengehalten, sondern auch nach dem Tod – quasi aus dem Grab – noch weitergesponnen werden, ist der Garten von Sanssouci. Tagsüber Treffpunkt der vielen Romanfiguren und Touristenziel, birgt er unter sich ein öffentliches Geheimnis. Fast wie bei Foucaults Masturbator, Monster des 19. Jahrhunderts, ist scheinbar jeder in die nur angedeuteten Vorgänge der Keller von Sanssouci verstrickt, keiner redet aber darüber. In den aufgegebenen Personalgängen des Schlosses, die durch ihre Nutzung im II. Weltkrieg teilweise an Bunkeranlagen erinnern, spielt sich das Verdrängte, Monströse der Potsdamer Öffentlichkeit ab. Da gibt es dann nur noch Mitwisser. Zutage tritt es am Rand des Privat­lebens, versteckt in Garten­häuschen, in Form von Magazinen und Instrumentarien, die der sexuellen Stimu­lation dienen ... und in der Abwesenheit von Arnolds Brust­warzen, der Gerüchten zufolge „ … seine Unversehrtheit auf dem Altar von Malkowskis privater, unterirdischer Lebens­gestaltung geopfert hatte.“

Arnold und seine Zwillings­schwester Heike sind zwei der verschrobenen Figuren, die uns am Faden der Romanhandlung begegnen. Wie die meisten Figuren bei Andreas Maier scheint das monadische Zwillingspaar an etwas Besonderem teilzuhaben, das sich den anderen, gewöhnlichen Menschen entzieht. Da gibt es einen russischen Mönch, den Baron, der eigentlich ein Penner ist, und natürlich die alter­nativen Jugend­lichen, die den Roman mit Alkohol und Pöbel versorgen.

In Sanssouci kehren einige Maier-Motive aus den vorigen Romanen, vor allem aus Kirillow, variiert wieder. Die Jugendlichen, mit denen man keinen Staat machen kann und deren linke Attitüden als bloßes Getue entlarvt werden. Trotzdem: Sie erscheinen einem sympa­thischer als die Akteure des Establishments. Aber auch die sind ambivalent, so dass Bürger­meister Friedrichsen, dessen größtes Anliegen die Eröffnung eines Einkaufs­zentrums ist, um den Wahnsinn der Politik weiß und sich hinter ver­schlossenen Türen darüber auslässt.

Wie Kirillow endet der Roman auf einer linken Demonstration und wie in Kirillow ist dieses Ende mit einem Opfer verbunden. Der Roman bricht allerdings so plötzlich ab, dass die Vorstellung nahe liegt, Andreas Maier könnte immer so weitererzählen. Und tatsächlich, sein eigener Stil ist so weit gediehen, dass er das mit Sicherheit könnte. Man darf gespannt sein, ob die vielen strukturellen Selbstzitate schon Dekadenzphänomen des genuinen Maier-Stils sind und er sich in Zukunft ganz anders präsentiert. Sanssouci wird jedem, der Andreas Maier kennt, großen Genuss bereiten und jedem, der ihn nicht kennt, etwas Neues bieten.
Andreas Maier wurde 1. September 1967 in Bad Nauheim bei Frankfurt am Main geboren, wo er heute auch lebt. Er studierte in Frankfurt und promovierte hier 2002 mit einer Arbeit über Thomas Bernhard. Zu den Auszeichnungen, die er erhielt, gehören der Ernst-Willner-Preis, der Aspekte Literaturpreis sowie die Frankfurter Poetikdozentur (2006).
Tillmann Severin   14.09.2009   
Tilmann Severin
Prosa
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