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Roland Steiner

(Tourettes) Schlaf

Schlaf, puste ich über die zusammengepressten, zitternden Kinderlider.
Schlaf, das geht doch nicht, war der letzte Satz vor der Kündigung. Schlaf, das geht doch nicht, die Entrüstung vor der anhebenden Tirade Penelopes, Schlaf doch weiter, vor ihrem Auszug. Elisabeths Schweigen hat mir den natürlichen, den tolerierten Schlaf geraubt. Schlaf, das geht doch nicht, war Signal und richtungsloser Befehl in der späten und in der letzten Kindheit gewesen. Hast du vorher irgendetwas gespürt, fragt das Kind, die Augen wieder offen. Das Murmeln hat aufgehört und der Gehörsinn ist gebrochen, das habe ich gespürt. Aber wodurch gebrochen, wieso hast du gemurmelt, fragt es. Schlaf fauche ich in seine nun warmen Augen, das Polster in Griffweite, blecherner Atem hallt hinterher. Ich beobachte seine unter der Decke hervorstechenden Zehen und empfinde sie als Beute meiner Einsamkeit. Mit meinen von scharf geschliffenen Rohrknochen umhüllten Fingern nehme ich das Taubenei vom Nachttisch und stopfe es dem Kind in den Mund, stelle ich mir vor. Das Murmeln? Weißt du, so wie andere Menschen sich etwas aufschreiben, um es nicht zu vergessen, sage ich es mir leise vor (und schiebe es zurück in die Mundhöhle), stelle ich mir vor, dem Kind zu erklären, damit es einschlafen kann, ehe das Gehör wieder abfällt, die richtungslose Bruststimme aufbricht, und ich unter den Kern falle.

Am Anfang, als ich das Stattfinden des nicht Wahrnehmbaren noch anzweifelte, hatte ich diese Ausfälligkeiten auf Ton-, bald Videobändern aufzeichnen lassen, doch rasch wieder gelöscht und diese Spiegelfechterei aufgegeben. Das Murmeln kann ich dem Kind erklären, die röhrenden wie grunzenden Schreie, Beschimpfungen und Flüche nicht. Sie haben mir Penelope abgeschafft, Elisabeth abgetrennt, Michael zerrissen. Hätte ich in jenen Momenten zu schlafen vermocht und in den vielen anderen Stunden nicht, wäre es anders ausgegangen, mein Sohn?
Die Assistenz-Stelle im Allgemeinen Krankenhaus, Gründung einer erst lokalen, dann regionalen Arthritis-Selbsthilfegruppe, Mitgliedschaft in der sozialistischen Ortspartei, einmal Rosen-, dreimal Ballkönigin, die Organi­sation und gelegentliche Moderation volkstümlicher Musikfeste, nichts davon und nichts vom anderen, nächtlichen Leben habe ihr geholfen gegen die Schreie, die sie, auch nach Abklingen meiner Ausbruchphasen, wie taufrisch verfolgten. Sie habe nicht mehr gewusst, ob sie mich meiner Trägheit wegen hasste oder meines anderen Syndroms wegen bedauerte oder umgekehrt, habe selbst fortwährend geflucht, die nächtlichen Liebhaber angeschrieen oder verschlafen. Eines aufklärenden Sommertages habe sie eine zu entlassende Patientin von neuen, lichtdurchfluteten Wohnungen schwärmen gehört und sei spontan zum Makler gegangen, der mit ihr eine noch freie besichtigte und eine leistbare Mietvorauszahlung nannte. Mit Licht und Begeisterung im Rücken bat sie ihre Bank um einen Kredit und bekam diesen. Dann sei sie zu einem Anwalt gegangen, der mir einen Brief schrieb, in dem eine gütliche Scheidung und eine unleistbare Summe binnen vierzehn Tagen nach Gerichtsurteil gefordert wurden. Sie habe die darauf folgenden zwei Tage frei bekommen, nachdem sie dem Oberarzt und späteren Primar unter Vertraulichkeit ihre Scheidungsabsicht mitgeteilt hätte. Als der Brief im Postkasten lag, sei sie zum Markt gegangen, habe ein ganzes Hähnchen, frischen Majoran, Äpfel und Weißwein gekauft, zu Hause opulent gekocht und mir nach dem zweiten Glas Wein den Brief überreicht mit den Worten: Lieber, schreck' dich nicht, aber es muss sein. Wir seien Arm in Arm am Gericht erschienen, zwei Menschen ohne Anwälte, sie in der ersten Reihe, ich in der fünften. Das ihr Wichtige aus dem gemeinsamen Haushalt und die Kleider habe sie bereits Wochen zuvor Stück für Stück, von mir unbemerkt in die neue Wohnung transferiert. Aus den Alben habe sie jeweils drei Photos für sich herausgerissen, den letzten gemeinsamen Urlaub auf Kos (sie habe im Voraus zwei Zimmer gebucht, sei tagsüber am Strand gewesen und abends habe sie bei Retsina und gegrillten Fischen einen italienischen Photographen näher kennen gelernt) ließ sie intakt dokumentiert, leer und voller Staffage, wie er gewesen war. Nach der Scheidungsverhandlung habe sie gesagt, sie ginge nach Hause, zu mir nach Hause, ich fragte, wie, wo. Der Oberarzt wartete bereits in der von ihm gekauften Küche mit einem Ober und dem bestellten Acht Gänge Menü. Ihre neue Adresse nannte sie mir Wochen danach, als sie mich zum Essen einlud. Einige Wochen später revanchierte ich mich, briet Leberkäse mit Spiegelei in unserer nun dreckigen Küche. Sie putzte, erklärte mir die Waschmaschine und belächelte, was am Bade­zimmer­spiegel mit rotem Lippenstift, den sie wohl vergessen hätte, geschrieben stand: Ich liebe Dich. Ihren Freundinnen habe sie, als sie die neue Wohnung mit ihnen einweihte, erklärt, sie hätte es moralisch nicht mehr ausgehalten, mit dem aufstrebenden Fußballer ein nächtlich ausgetragenes Verhältnis zu pflegen (und nebenher mit einem aufstrebenden Arzt) und mit mir keines, dennoch im Bett neben mir zu liegen und sich zu verweigern und eine Ehe am Papier aufrecht zu halten. Die Schreie habe sie nicht erwähnt, während der Ehe nicht und nicht im ärgsten Rausch oder Sex, schrieb sie dem Sohn in ihrem letzten Brief.
Wissend, dass mein Geburtstag nicht mehr gefeiert werden würde, sei ich samstags davor ausgegangen. Ich hätte zufällig einen ehemaligen Schul­kollegen getroffen, wir seien plaudernd und Erinnerungen an alte, für mich schlaf- und schreifreie Zeiten austauschend an der Theke gestanden, als zwei junge Frauen das Lokal betraten. Der darin Gewöhnte habe sie angesprochen und sogleich umworben, und kraft der Erinnerung und schweren Rotweins hätte auch ich mich von hinten dazu gestellt und gesprochen, nicht murmelnd, aber leise. Nach Stunden seien wir zu viert in ein Tanzlokal gewechselt, ich hätte schon lauter gesprochen, perlend beinahe. Irgendwann morgens, nach etlichen Tänzen und vor der Sperrstunde hätte ich Elisabeth geküsst. Am nächsten Tag nichts, fast fünf Monate sei nichts in ihre Richtung geschehen. Am 6. September sei ich zu ihr gegangen, habe eine Bonbonniere und Rosen gebracht und beiläufig erwähnt, ich würde alleine eine Woche in Bodrum verbringen. Am Tag meiner Abreise sei Elisabeth am Bahnhof mit einem kleinen Koffer gestanden und habe mich gefragt, ob sie mitfahren dürfe. Es seien, erstmals seit ewig, freie Tage ohne Schreie und Schlaf gewesen, in Licht und Wasser. Am Morgen ihrer und einen Tag vor meiner Abreise sei am Badezimmerspiegel mit rotem Lippenstift ‚Ich liebe Dich‘ gestanden. Nach der Rückkehr hätte ich in Absprache mit meinem Anwalt, ohne Somnolenz, Schreie und Elisabeth zu erwähnen, in die Scheidung eingewilligt. Ich hätte einen Kredit auf­genommen, sei mit Penelope Arm in Arm am Gericht erschienen und hätte den Fernseher gefordert und bekommen. Als sie sich danach verabschiedete mit den Worten: Ich geh jetzt, zu mir nach Hause, spürte ich, wie ich unter den Kern meines Bewusstseins in jenen richtungs- und haltlosen Strudel abzusinken drohte, sah ‚Ich liebe Dich‘ in der Regenlacke, in der nur ich stand, sich spiegeln und fragte sie, wie, wohin. Sie habe mir nicht verraten, wo sie ab da wohnen werde. Zu Hause hätte ich die Photos des letzten gemeinsamen Urlaubs auf der Insel Kos (ich hätte mich überreden lassen, getrennte Zimmer zu buchen, war tagsüber in der Stadt und lebendig, lernte alte Fischer kennen, fuhr mit ihnen abends aufs Meer und trank nächtens Ouzo und Bier) mit jenen, noch frischen aus Bodrum verglichen und hätte gejauchzt, ohne ausfällig zu werden oder träge. Aus den anderen Alben fehlte je ein Bild, Momentaufnahmen einer Ehe, hatte ich dem Sohn auf seine Frage geantwortet, ob das denn wahr sei.

Das Kind ist in den Schlaf verführt. Ich sitze in der Küche, Michael gegenüber, mein einziger Mann. Dessen Kind, wenn er eins hätte, ich Taufpate wäre, mit dessen Frau Elisabeth, die sich von ihm trennte, nachdem sie meine war, ich geschlafen hätte. Elisabeth sitzt im Wohnzimmer, stelle ich mir vor, ihr gegenüber Penelope, meine einzige Frau. Welche Farbe, welchen Klang und welchen Raum würde eine Weltsicht ergeben, wenn ich die Taten eines Mannes von einer Frau begehen ließe in einer Welt, die meine nicht ist, frage ich das staubtrockene Kind unter mir. Ehe es wieder zu murmeln beginnt, zu fluchen, schreien, sich zu versündigen, schläft es ein und hört meine Erklärung nicht, die ich seit x-fottigen Jaaaaahren bastle.

Michael suchte im Mercedes seines Vaters Weinbauern der Zentraltoskana auf. Er radebrechte, schnitt auf, kostete, trank, flirtete, erwarb Rendezvous und etliche Flaschen Rot- und Weißwein, die er im Kofferraum unter Decken verstaute, um sie später undeklariert über die Grenze zu schaffen. Danach fuhr er ans Ende der Rebenhaine, wo er sich einem, mit Wurst- und Käsespezialitäten unterlegten Mittagsschwips hingab und einnickte. Zurück in Montalbucio ging er in sein Mietzimmer, duschte, zog frische Sommer­kleidung über, brauste nach Siena und lud internationale Studen­tinnen zu Drinks am Balkon zur Piazza ein. Im entscheidenden Moment besann er sich und sagte: Nein. Auch zu mir, anfänglich. Weil ich im Zug von einer Kleinstadt im Nordosten des Landes zu einer Kleinstadt im Nordwesten und sogleich wieder retour gefahren war, dann wieder dieselbe Strecke hin und zurück gelöst hatte, war ich vom Zugpersonal aufgegriffen und in eine Klinik bei Siena eingeliefert worden. Zu meiner Entlastung schilderte ich den Grund meiner Reisen: Ich lief mit einer Robbe im Arm trotz Höhenangst die Bergstraße hinab, da der Bus auf der Passhöhe streikte und die beiden Fahrerinnen ihn nicht reparieren konnten, setzte sie unten angekommen in einen riesigen Tümpel, in dem Otter und Fische sprangen und viele Kinder spielten, da preschte der Bus durchs Wasser, die Robbe lag in Fetzen, ich lief zum Bergeingang, doch der Aufzug zur Passhöhe streikte, die Frauen konnten ihn nicht reparieren, ich musste fliehen.
Michael hatte dafür gesorgt, dass ich wieder entlassen wurde. Als Dank habe ich seine Prüfungen abgelegt – es war leicht, wir waren uns sehr ähnlich, ich musste nur radebrechen und sagen, ich käme aus X, Y oder Z. Zur Feier lud er mich auf den Balkon zur Piazza, ich durfte seinen verbalen Umgarnungen lauschen, doppelte Martinis schlürfen und am Ende vom Sessel fallen. Und die, deren dürre Hände mich dennoch hochstemmten, stellte sich als Michaels Schwester vor. Sie war damals eine angehende Medizinerin, die von ihren Eltern zur Vorbereitung ihrer Famulaturbewerbungen einen Sprachkurs geschenkt bekommen hatte, wie Michael zum Abschluss seines ersten Turnusjahres. Am Morgen darauf stand sie im Eingang des dreistöckigen Ziegelhauses in Montalbucio, das neben Michael und mir noch Lindsay beherbergte, ein schwangeres Mädchen aus Brixton, die von ihren Eltern zur Vorbereitung ihrer Ehe mit einem Analphabeten aus Riccione einen Sprachkurs geschenkt bekommen hatte. Umringt von der Hausbesitzerin, der geschiedenen Signora Picciotti, ihrem unterbelichteten Sohn Paolo und Zitto, einem graubraunen Mischlingshund, der sich gerne an wabbeligen, enthaarten Schenkeln weiblicher Tagesgäste rieb. Sie deutete auf einen tadellos lackierten, kaum verbeulten C4 und sagte, ich solle packen. Packen, sie sprach es ähnlich hart aus, wie die Wärter im städtischen Krankenhaus auf mich eingeredet hatten, und lächelte ebenso schmal und schön. Zitternd entschuldigte ich mich und bat sie zu verstehen, nach Michaels Prüfungen mich nun um meine kümmern zu müssen, sie aber antwortete: Dann sei so gut und schreibe meine Hausarbeiten für die Abschlussprüfung, die mündliche schaffe ich selbst. Nachdem ich ihre Unterlagen in mein Zimmer gebracht, der Signora die ob der erhaltenen finanziellen Gegenleistung komplette Miete in die Obstschale gelegt hatte, ging ich an Michaels Flüchen vorbei zum Mofa, räumte die üblichen Grasbüschel, die Paolo aus verzogener Rache (ich hatte ihn beim Spielen am Hund erwischt) stets hineinstopfen musste, aus dem Auspuff und fuhr in die Stadt. Während ich die umgangssprachlichen Besonderheiten von aus Not nach Argentinien emigrierten sizilianischen Gastarbeitern nach deren Reimmigration studierte, dachte ich nach, wie ich es schaffen könnte, etwas noch nicht Begonnenes nicht beginnen zu müssen. Außerdem war da noch der Termin.
8:40, erstes Klopfen, niemand bat herein. Ich rauchte eine Zigarette im Türeck. 8:50, zweites Klopfen, die Tür war abgeschlossen. Ich wartete im Fenstereck zwischen grünen Plastiksesseln. 9:00, drittes Klopfen, keine Reaktion. Warten im Fenstereck über grünen Plastiksesseln. 9:20, die Sekretärin schritt herbei.
-Ich habe Sie gar nicht gesehen... wieder bei uns?!
-Nein ... ich muss zu ihr.
-Sie sitzt jetzt woanders; ich führe Sie hin.
Der Lift fuhr ab- statt aufwärts, sie wies die Tür. 9:30, erstes Klopfen, keine Reaktion. Vom Fenster aus war der ganze Platz zu sehen, die Ein- und Ausgänge, Stiegen, schreienden Boten, Lumpen, schlafenden Schüler, ich wartete im Fenstereck zwischen grünen Plastiksesseln. 9:40, erster Anruf, laut Telefonzentrale sei sie im Haus unterwegs. 10:00, zweiter Anruf; keine Reaktion. 10:11, dritter Anruf; Zentrale: Sie käme in dreißig Minuten. Ein Glas Wasser im Café La Torre. 10:35, zweites Klopfen, keine Reaktion. Warten im Fenstereck unter grünen Plastiksesseln. 10:58, sechster Anruf; Zentrale: Ab 13:00. Ein junges Pärchen mit etwa dreijährigem Sohn, Schüler in der Mittagspause, Lehrer, Boten, Müllabfuhr. Ich rauchte Zigaretten auf einem der rompicoglionicazzidimerdacciafottuti grünen Plastiksessel. 12:55, drittes Klopfen; verstummende Stimmen, Schritte. Am Tisch der Professorin lagen auf orange-grünen, mit Osterblumen verzierten Servietten winzige Schokoladen. Sind die essbar, darf man die nehmen, im Raum oder erst draußen, muss man die Kindern schenken, fragte ich aus Nervosität, statt mich auf sie zu konzentrieren. Ihre in grüne Jeans gezwängten Beine waren zur Tür gerichtet, die platinhellen Strähnen in ihrem schwarzen Haar zeigten übermäßige Friseurbesuche an. Sie sei letzte Woche im Haus der Signora gewesen und habe Auskunft erteilt über meine Krankheit und damit verbundene, mögliche Zustände, sie sei von ihr gefragt worden, wie man diesen begegnen könnte. Was sie daraufhin skizzenhaft erzählte, war so pauschal und am Fokus meines vorbereiteten Themas vorbei wie warme Katzenscheißdrecksangst. Schlussendlich habe ich mich entschuldigend und verweigernd gedemütigt, gar einen Taschenrechner ihr hingelegt, zurückgegeben als ungebührliche Besitznahme. Und bin davongeschlichen. Und hörte noch, schon draußen: Schreiben wir ihn aus? Weil früher ... Ich schreibe ihn aus. Alles war falsch im Moment und richtig im nächsten.
Michael ging zitternd an Kopf und Gelenken mit dem Hund vorbei, ohne mich zu erkennen. Was tat er mit dem Hund in der Stadt? Der Hund kam nie so weit, und er hasste ihn. Er will sich nicht alleine wahrhaben, braucht Sicherheit, dachte ich, Hunde reagieren schnell. Ich fuhr zum Markt, zur Bank, zurück zum Markt und nochmals zur Bank und wollte sie nicht wahrhaben, die zweite Entscheidung des Tages. Schlich ums Eck und setzte mich auf den kühlen Sims neben einer Baustelle. Ein alter, behelmter Bauer fragte vom Moped aus, ob der Bau hinter mir die Bank wäre, die mit den guten Zinsen, vor dem Bau stand Michaels Schwester. Ihr Gesicht war abstoßend herrlich und vergraben in einer pränatalen Zeit. Nicht so wie die weiblich lebendig hübschen Menschen, die flanierten, sich an den Sonnenstrahlen wärmten, tief ins Leben gebeugt oder das anderer aufsaugend – sie schlug mich, brüllte mich an: Was du geliefert hast, ist krank! Krank, krank, krank! Mein After nässte; unter dem Gesäß in Vakuumsäcke verpacktes Auftausalz, mitten im Sommer.
Zu Hause mahnten telefonisch die erinnernden Worte zur Festeinladung. Abendessen, harmlose und geistreich gepflegte Unterhaltung, Stiche nur gelegentlich. Aus der Fernsehübertragung einer Unterhaltungsshow notierte ich Verben, die mir Einleitung, Gehabe, Schwung ohne Verführung bereiten mögen. Da tanzte man, dort aber niemand, ich sah glitzernde Pailletten, Paarläufe, Pläne, Herzen und gestopfte Löcher und fragte mich, ob man nicht jeden Millimeter Erlebtes und Abgelebtes in Maßbildern konservieren müsste, dass die Sprungkraft des Herzen sich übersetzte in die Lippen. Doch blieben diese mehr von Grauen geschwollen breit als bereit und ohne Sprungkraft, sie schneiten gerissene Hautpartikel, dass mein Herz arbeitsscheu hieße, hoffte ich, regungslos wissend um die doch anderen Deutungen der noch wenigen anderen, beschränkt belastbar aus inneren, haltlosen Gründen, noch vor der Geschichte zitternd, nicht die Robbengeschichte posaunen, die Universitätsabwurfgeschichte trommeln, nichts. Ich rutschte mein Gesäß zurück in das fettige Lederpolster, drückte Begründung und Bedeutung gleichermaßen zurück in die mit Haut gewobene Tube meines ziellosen Daseins. Unter mir, im Erdgeschoss, schraubte jemand ein Bett an, hantierte an Schränken, bohrte Löcher. Im Stiegenhaus lagen Armaturen, Rohre und Schläuche, ein größeres Reich für den jungen, schon buckligen Sodomiten entstand. Ober mir hackte Lindsay Gemüse, kochte Pasta und Kartoffeln und briet Fleisch, als wäre jene erste, nicht gemeinsam genug verbrachte, doch folgenschwere Nacht zu neutralisieren gewesen. Und der Ausdruck des Holzes rund um den Fernseher war gesprungen meinem Staunen ähnlich: Kostverächter, ich trachte mein Leben zu Ende, dein blutvoller Hals ein Gedicht.
Ich glaube, Xanor oder Amphetamine genommen zu haben, stand am Gang, sah in ein Zimmer, Michael hatte neue Bettwäsche gekauft, ich hier nie gelegen, eine heller leuchtende Glühbirne. Er stand mit zwei Korbflaschen Rotwein vor seinem Zimmer und rieb sich die Haut von der Stirn, als arbeitete er die Umwelt ein in die Furchen. Nichts nachsenden, rief er seinem graubraunen Atem hinterher, ich solle nicht jammern, nicht hinschauen!, jeder werde jammern, der besudelte Laminat, Mäuse, Dreck, Schimmel, Milben, Beutewitterung der Tiere, kein Hund!, die Formalitäten, Anomalien hin und her, Benachrichtigungen, Richtigstellungen, Verfügungen, die ihm auch danach seine geschrieene Willensdarlegung verbieten, Ich bin dein Arschloch, Versagen, dein Gurt und Grab! Dann begann das Fluchen, Schreien und Versündigen.

Ich habe nie etwas gefunden, das zu einer Blutlache passt, die herbei zu phantasieren ich gar nicht imstande bin. Schlaf pustete ich über die zusammengepressten, zitternden Hundelider, als er mich weckte. Das Kind Michael war aus. Dass Schwester Penelope, Doktor Elisabeth, Primar Michael und ich trotz der Verwundungen gemeinsame Lebenslinien zogen, heirateten, fremdgingen, gesundeten, erkrankten und schieden, hätte ich dem groß gewordenen Blütenkind erzählen können, wenn ich nicht verschlafen hätte, als es mich verabschiedete, hier, auf 16A.

 

Roland Steiner   17.11.2008   

Roland Steiner
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