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Ulrike Almut Sandig

Streumen

„dieser hunger ist der rest eines alten versprechens“

Kritik
Ulrike Almut Sandig | Streumen  
Ulrike Almut Sandig
Streumen
Gedichte
Connewitzer VB, 2007

Connewitzer VB   externer Link



Um die junge deutsche Lyrik braucht man sich, zumindest quantitativ, keine Sorgen zu machen. Aber nicht alles ist auch Gold, was glänzt, und so manches ist nicht einmal Eisen. Andererseits waren Talente jenseits der Durchschnittsware immer schon rar, und wenn literarische Wettbewerbe überhaupt einen Sinn haben sollen, dann wohl den, diese besonderen Stimmen zu entdecken und hervorzuheben.

Mit Ulrike Almut Sandig, die 2005 den renommierten Meraner Lyrikpreis erhielt, ist eine solche Entdeckung geglückt. Nach ihrem Debüt „Zunder“ ist jetzt ihr zweiter Band mit dem etwas rätselhaften Titel „Streumen“ erschienen, und das in einer editorischen Ausstattung, die auch daran erinnert, daß Buchdruck eine Kunst ist und daß sich die zu befühlende Seite Papier anders zu ihrem Leser verhällt als die Onlineseite auf einem Bildschirm. „Streumen“ nun ist zweierlei: ein Dorf im ostelbischen Sachsen und ein innerer Ort, von dem aus sich die poetischen Reflexionen über „Streumen“ organisieren und dem Oberbegriffe wie Liebe, Heimat, Glück zugeordnet werden. Wenn wir Romantik als Autonomie des Imaginären verstehen, dann handelt es sich hier durchaus um romantische Gedichte, die sich aus der Spannung zwischen Realität und Imagination, Besitzen und Begehren ergeben. Da die Bedeutungen schwanken und „Streumen“ polyvalent bleibt, wissen wir nie genau, was erlebt und was erdacht ist, wo die Wirklichkeit endet und die Einbildung beginnt. Man kann es mit einem Wort Becketts über Proust sagen: es sind Texte ohne Gedächtnis, allein von Erinnerungen an Bilder, Gerüche, Gefühle getragen und auf der Suche nach einer zu erzählenden Geschichte. Bezeichnend dafür ist die oft erst im Inneren des Textkörpers durch Fettschrift kenntlich gemachte Titelgebung des jeweiligen Gedichtes, das sich, Baustein für Baustein und Vers für Vers, selber erst noch zu finden und zu verstehen hat. Das ist keine instrumentale Sprache, die ihren Gedanken schon umschlossen hält und dadurch auch für nichts Neues und Überraschendes mehr zur Verfügung stehen kann, sondern eine Sprache des Suchens und Unterwegsseins, der Ahnungen und einer immensen Lust am Entdecken. Auch das ein durch und durch romantisches Konzept, ohne jedoch modische Attitüde zu sein. Gewiß haben diese sehr komplexen und mehrere Motivschichten in- und gegeneinander setzenden Gedichte, die „Texturen“ im wahrsten Sinne des Wortes sind, die Neigung, sich zu verschließen und zu verrätseln. Aber sie sind nicht dunkel wie eine Lehmpfütze, die man allein deshalb für tief hält, weil man in ihr nicht auf den Grund sehen kann. Metaphernkitsch entsteht, wenn die Rückübersetzung des Bildes kompliziert und der Erkenntniswert minimal ist. Hier aber ist es die Transparenz von Geheimnis, das beharrliche In-der-Sprache-Sein, um von ihr eine Antwort zu erwarten, was die Gedichte auf eine interessante Art schwer macht. Vielleicht ist das die Verführung, die von ihnen ausgeht, daß sie nicht nur semantische Leerstellen bezeichnen, sondern im Bezeichneten neue Leerstellen schaffen und somit Erkenntnis und Infragestellung eins werden lassen. „Streumen“ eben, ein schwankender und bisweilen doppelter Boden, Erinnerungsarbeit.

Doch bei aller poethologischen Finesse sind das ganz und gar keine Texte, die selbstreferentiell sind und einen Dialog mit der Sprache führen anstatt mit dem Leser. Sie erzählen, nein, sie wollen erzählen, um immer wieder von reflexiven Einschüben gebremst und im Mißtrauen um die Gültigkeit des Sprechens unterbrochen zu werden. „umgraben// die beeren im schatten, die wurzeln, die erde gestoßen auf weißes./ ein schädel, ein wirbel, ein finderstolz auf blauem tuch./ die alte im fenster erzählt von drei freunden, wie einer/ schießt/ einer scharrt/ einer liegt/ einer von denen. Jungenschatz, kühlen,/ streichen die finger und halten ins licht.“ Das Zentrum dieses Gedichtes ist die Verlangsamung des Sprechens, fast bricht, zwischen dem dritten und vierten Vers, der Ton ganz zusammen, um sich am Ende doch wieder zu fangen. „Umgraben“, so der Titel, und beim „Umgraben“ nun werden die Worte „schießt“, „scharrt“ und „liegt“ gefunden, die assoziativ weiterschwingen und nicht nur das sprechende Subjekt im Gedicht innehalten und kurz verstummen lassen. Immer wieder kreisen die Gedichte um Kindheit und Geschichte, und wenn sie die Gegenwart ihrer Entstehung erreichen, streifen sie Motive der Liebeslyrik: „es ist die von anfang an erratene anzahl der körper, meine/ liebe, wer kennt sich schon aus mit dem schaltkreis zum süden, aber so über/ den kronen der bäume verhält es sich anders:/ dreh dich, um himmels willen, nicht weg“. Das ist eine schon geradezu klassische Anrufung des geliebten anderen, dessen Vorhandensein der einzige verbindliche Beziehungspunkt ist eines durch „Streumen“ vagabundierenden Bewußtseins auf der Suche nach historischer und privater Gewißheit. Dieser andere, den wir namentlich nicht kennen, nimmt die lyrischen Monologe entgegen und gibt ihnen einen kommunikativen Sinn. Er ist, auch wenn er gar nicht zu Wort kommt, der Grund aller Suchbewegung im Text. Würde er sich abwenden, oder anders gesagt: würde er nicht mehr zuhören, dann könnte wohl auch nicht und nichts mehr gesprochen werden, und in diesem dialogischen Rahmen entgeht die Spracharbeit ihrem eigenen Narzißmus.

Gedichte wie „russenwald“, „im juli“ oder das Cesar Vallejos Todesahnung paraphrasierende Gedicht „ich werde an einem februartag sterben“, sind in ihrer poetischen Komplexität und Bildgenauigkeit sehr beeindruckend. Allein ein Satz wie „dieser hunger ist der rest eines alten versprechens“ ist fast schon ein Gedicht für sich. Doch nicht alles gelingt, und wenn in „bevor ich dich kannte“ die lyrische Figur „dem geräusch meiner haut/ beim falten der eigenen hände im schoß“ zuhört, dürfte es problematisch werden. Das größte Risiko jedoch besteht in einer überinstrumentierten und sich bisweilen manieristisch verselbständigenden Rhetorik der Zeichen, die im Grunde nichts ausläßt, was die Computertasten hergeben: von Klein- und Groß-, Fett- und Kursivschrift über einfache und doppelte Anführungszeichen, dem optisch gewiß auffälligerem + für ein vergleichsweise bescheidenes „Und“, dem Zäsurstrich mitten im Vers, der Rechts- sowie der Linksbündigkeit, der Klammer und Parenthese bis hin zur eingerückten und so mit Bedeutung aufgeladenen Leerstelle zwischen den Teilen eines Satzes. Nun ist das stockende, abgebremste, dann wieder beschleunigte Sprechen im Rhythmus eines sich aus der Sprache formierenden Denkens gewiß literarische Absicht und gehört zum eigenwilligen und ja auch überzeugenden Konzept der Autorin. Nur braucht es dafür die vielen Sonderzeichen und graphischen Hinweise nicht, so als könnten sie noch einmal verstärken, was die Bilder und Sätze an sprachlichem Mehrwert bereits hervorgebracht haben. Und der ist bei dieser außerordentlich begabten Lyrikerin immens.

Ulrike Sandig im Poetenladen
Ulrike Sandig im Interview

Kurt Drawert     26.02.2008

 

 
Kurt Drawert
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