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Nils Mohl

Kasse 53

Enzyklopädie des Einzelhandels

Nils Mohl | Kasse 53
Nils Mohl
Kasse 53
Roman
Achilla Presse 2008
Entsteht der Zwang, mit Menschen zu kommunizieren, mit denen man die Kommunikation lieber unterließe, ist die Diskrepanz zwischen Gedachtem und Gesagtem groß. Auf den Witz und die Tragik dieser Diskrepanz baut Kasse 53, der Debütroman des Hamburger Autors Nils Mohl, der in den kleinen Disziplinen des Jungautorendaseins doppelt siegte – er las zweimal beim Open Mike und war zweimal Preisträger beim mdr-Literaturwettbewerb –, für die große Hürde des ersten Romans aber jahrelanges Training brauchte. Die Übung jedoch hat sich gelohnt, denn Kasse 53 ist ein außergewöhnlicher Roman – außergewöhnlich in der Sprache, außergewöhnlich in der Struktur.

Protagonist ist ein namenloser 28-jähriger Kassierer an Kasse 53 in der CD-Abteilung des »größten technischen Kaufhauses der Stadt«, unschwer als Saturn in Hamburg erkennbar. Die blassblau-weiß gestreiften Firmenhemden kombiniert er mit einer Krawatte mit schwarz-lila-silberfarbenem Rhombenmuster, und es ist kein Zufall, dass er einer Kollegin weismachen möchte, dass er Enzyklopädie studiert. Denn nichts anderes als ein Einzelhandelsenzyklopädiker, ein Kundenethnologe, ein Elektronikkaufhaus-Semantiker ist Mohls Held. Er begrüßt die Kunden, registriert, analysiert und verabschiedet sie. Er denkt über den hilflosen Scherz eines Kunden: »Was für ein Schenkelklopfer!« und fragt: »Möchten Sie eine Tüte, oder geht das so mit?« Er definiert Oniomanie, Ennui, Tragetasche. Lexikoneinträge und minutiöse Beschreibungen des Kassiervorgangs wechseln sich ab und erwecken eine Welt zum Leben, in der nichts passiert außer dem einen: »Kunde zahlt Ware«.

Dies ist amüsant bis traurig, heiter bis deprimierend (und bietet für alle im Einzelhandel arbeitenden Kritiker oder Leser einen hohen Wiedererkennungs- und daher Unterhaltungswert). Aber erst durch seine erzählten Passagen wird Kasse 53 zu einem Einzelhandels-Gesamtkunstwerk. In Sätzen, glatt und makellos wie eine EC-Karte, erweckt Mohl die »beinah schattenlose« Atmosphäre im Elektronikkaufhaus zum Leben, die von »Federscharnieren gehaltenen vier Plastikklemmzungen«, die »bejahrte Cordmütze« des Pförtners. Wo ein Haar ein »feines, sehr feines, fadenförmiges Gebilde aus Hornsubstanz« ist, schillert Sprachfertigkeit unter der Textoberfläche, ohne zu blenden. Der Wechsel zwischen Kassiervorgängen, Lexikoneinträgen und erzählten Teilen verleiht dem Roman eine strenge, sogartige Struktur und erlaubt es Mohl, den Kassierer nicht nur als ein Wesen seiner Art auszustellen, sondern ihm einen Charakter zu verleihen.

Aufgrund seiner Plotlosigkeit und seines nur oberflächlichen Eindringens in die Privatsphäre des Protagonisten erinnert Kasse 53 an Walter E. Richartz' Büroroman (1976) um drei Angestellte in der Rechnungsabteilung einer großen Frankfurter Firma. Beide Romane stellen gewollt schablonenhaft etwas Alltägliches dar, dessen Routine beängstigt. Mohls sachlich-ironischem Einzelhandelslexikon und seiner spöttischen Kundentypologie fehlt jedoch das, was den Büroroman auszeichnet und was von einem Buch, das sich der stupiden Tätigkeit des Kassierens widmet, auch zu erwarten gewesen wäre: das kritische Hinterfragen der zermürbenden, sinnfreien Lohnarbeit, das hämische Offenlegen des Mechanismus', das die Existenzberechtigung des Kassierers bildet: des Konsums.
Nils Mohl, geboren 1971 in Hamburg, arbeitete im Baugewerbe, im Einzelhandel und in der Logistikbranche.. Für seine Prosa erhielt er mehrere Auszeichnungen. Kasse 53 ist sein erster Roman.
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Katharina Bendixen     04.03.2008

Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch