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Lew Schestow

Siege und Niederlagen

Versuch über Schestow I
Essay (1)

→  Versuch über Schestow – 2. Teil
→  Versuch über Schestow – 3. Teil

  Lew Schestow
Siege und Niederlagen:
Für eine Philosophie der Literatur
Übersetzt und heraus­gegeben und mit einem Vorwort versehen von Felix Fillipp Ingold
Matthes & Seitz 2013


Das Vergangene

Das zwanzigste Jahr­hundert stirbt scheibchen­weise. Und mit jedem Stück, das mir schwer schien, bedeut­sam und erhaben, und das die Leichtig­keit der Ver­gängnis angenommen hat, und fortgeweht ist, wird eine weitere Schicht sichtbar. Ein Jahr­hundert aus Blätter­teig, gefüllt zuweilen mit Senf, manchmal mit Marme­lade aber zwischen­drin unglaub­lich viel Luft. Aufge­plusterte Bedeut­samkeit, vor allem am Ende, geliehen aus anderen Jahrhunderten und das Konzept Zeit in Frage stellend. Abläufe. Die Ränder des Jahr­hunderts auch, sind kaum aus­zumachen, sind mürbe, porös und abge­stoßen. Man bekommt es nicht zu fassen. Immer nur Fetzen, immer nur Krümel. Und manchmal schon wünschte ich mir, es würde in eine Faust passen, um endlich entsorgt zu sein. Ein frommer Wunsch. Es will ein­fach nicht vergehen, dieses Jahr­hundert, so wie es auch nicht beginnen wollte.

Lew Isaakowitsch Schestow, der eigentlich Jehuda Leib Schwarzmann hieß, gehört diesem Jahr­hundert an, obwohl er bereits 1866 in Kiew geboren wurde. Er starb 1936 in Paris und er war ...
  Ja was war er? In seinen Schrif­ten ent­zieht er sich der Be­stimmung, weil er die Kate­go­rien einfach nicht er­füllt. Er war Phil­osoph, Reli­gions­philo­soph, Lite­ratur­wissen­schaft­ler und Kriti­ker, und er war nichts von alldem. Viel­leicht trifft auf Schestow das Wort Literat noch am besten.
  Felix Filipp Ingold, der Schestow über­setzt und heraus­ge­geben hat, schreibt in sei­nem Vor­wort:
  „Mit Nietzsche ging Schestow, der als philo­sophi­scher Auto­di­dakt gleich­sam na­tur­ge­mäß zum Frei- und Quer­denker­tum neigte, einig nicht nur in seiner Funda­mental­kritik an der euro­päischen Schul­philo­sophie, sondern auch in seiner Vor­liebe für Musik und Tanz, von der sein sprunghafter Stil – im Denken nicht anders als in der Schreib­be­wegung – deut­lich geprägt war.“
  Und das ist fürs erste das bemer­kens­werte an Schestows Texten, die in diesem Band: „Siege und Nieder­lagen“ zu­sam­men­gefasst sind. So wie er nicht einzu­ord­nen ist, ordnet er nicht ein. Über­tritt jeg­liche Gat­tungs­grenze, macht aus phi­lo­sophi­schen Texten lite­rarische und aus lite­rari­schen solche der Er­kennt­nis­theorie. Und: noch einmal aus Ingolds Vorwort:

„Man könnte den Eindruck gewinnen, Schestow lasse 'seine' Autoren durchweg und bedenken­los in seinem Namen, an seiner Stelle argumentieren. Er selbst hat dieses wissen­schaft­lich unhaltbare Vorgehen als ›Seelen­wan­derung‹ gerecht­fer­tigt, sein Freund und Kollege Berdjajew fand dafür den passenden, leicht ironi­schen Aus­druck „Schestowi­sierung“, was für eine ver­ein­nahmende „Über­schrei­tung“ oder für eine Art von synthe­tisie­render Nach­schrift stehen mag.“

Mein Philosophieprofessor Alfred Schmidt, Horkheimer­schüler und Theo­retiker des Kriti­schen Materia­lis­mus, sagte uns immer wieder vor allem in Hinblick auf die franzö­sische Tra­dition, wir sollten die Werke nicht wie einen Stein­bruch benutzen und uns nicht nach Gut­dünken einzelne Gedanken heraus­brechen, sondern ein Denken in Gänze rekon­struieren. Nur so würden wir den Texten gerecht. Und er hatte wohl recht, wenn es darum ginge, den Texten gerecht zu werden in philo­sophischer Red­lich­keit.
  Aber wenn die Zeit schon derart zerfasert, wie soll dann der Gedanke auf den Punkt kommen? Schmidts einge­for­derte Red­lich­keit führte immer weiter weg in einen fremden Kopf hinein und von dem, was wir Realität nennen, und was viel­leicht auch eine Rea­lität ist. Natür­lich hat das seinen Reiz, aber was Schestow macht, ist ein Aben­teuer auf unge­sichertem Gelände. In dem er die Texte um sich selbst herum grup­piert, setzt er sich ihnen aus. Und dieses Abenteuer lesend mitzu­erleben ist gleich­falls abenteuer­lich.

Wenn Schestow sich zum Beispiel Hamlet zuwendet, dann also der Figur Hamlet, den vor­gestell­ten Menschen, nicht vorder­gründig dem Stück als Lite­ratur aber über das Stück:
  „Er nahm diese ganze gelehrte Nah­rung zu sich, erweiterte seine theo­retische Er­fah­rung, doch je mehr er aus seinen Büchern erfuhr, desto weniger begriff er die reale konkrete Bedeutung der gewal­tigen Lebens­welt, mit ihrer endlosen Ver­gan­gen­heit und ihrer weit­reichenden Gegen­wart.“
  Im Text, aus dem dieses Zitat stammt (Versuch über Hamlet), findet sich viel der moder­nen und zeit­genös­sischen Sprach- und Wissen­schafts­skepsis. Als schlüge sich um 1900 der Posi­tivismus end­gültig auf die Seite der Maschinen, und die Men­schen als Ma­schinen­bauer bleiben ratlos dahinter zurück. Einige wenige von ihnen werden wie Hamlet zu Enzy­klopä­disten. Und einer davon begegnet uns 30 Jahre später in Sartres “Der Ekel“ wieder.

Noch interessanter aber fand ich die Wendung „endlose Vergangenheit“. Endlos heißt auch: un­über­schau­bar, nicht aus­zuloten. der End­losig­keit ist kein tech­nisches Kraut gewachsen. Nur der Begriff Fort­schritt versucht diesem Mate­rial einen Sinn einzublasen, tut dieses aber auf Basis einer Selektion: was nicht in sein Schema passt, ist dem Untergang anheim­gegeben. Aber wenn uns die endlose Ver­gangen­heit nicht ein­schüchtert, setzt sie uns frei. (kann sie uns frei setzen.) Ge­schichte. Hat Geschichte, wenn sie keinen Anfang hat, dennoch ein ende? Schestow spricht von „endloser Ver­gangen­heit und weitreichender Gegenwart“. kein Wort von Zukunft. als schüfe Geschichte sich im ver­gangenen Jahr­hundert sich selber ab. Wer aber sind wir dann? Die Hinter­bliebenen?

 

Jan Kuhlbrodt    03.07.2013   

 

 
Jan Kuhlbrodt
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